⫷ Kapitel 15: Spiegel ⫸
Nanouk fühlte sich an diesem Morgen bereits erheblich besser, als sie langsam erwachte und zumindest keine Fieberschmerzen mehr hatte. Sie war nur unglaublich durstig.
Kaum hatte sie sich aufgesetzt, um nach einem Krug Wasser zu suchen, hörte sie Schritte vor ihrer Zimmertüre und keine Sekunde später trat Maha ein. In den Armen hielt sie einen Stapel an Kleidungsstücken aus schwarzem, blauem und weißem Stoff.
»Oh! Du bist schon wach«, begrüßte sie Maha mit vor Freude strahlendem Gesicht. »Normalerweise fangen wir hier in Wallheim sogar noch früher an zu arbeiten. Deinem Zustand wegen, wird das für dich allerdings noch eine Weile so friedlich bleiben. Wie geht es dir?«
Nanouk schlug die weiche Daunendecke vorsichtig zurück und blickte auf ihr bandagiertes Bein. »Schon viel besser. Eigenartig«, murmelte sie und befühlte vorsichtig die Baumwollbinden. »Ich hätte tot ein müssen.«
Maha hob die Augenbrauen und legte den Stapel an Kleidungsstücken auf eine Truhe, die am Fußende des Bettes stand. »Fass das nicht an. Du hast fünf Tage ataha Naujus Heilbehandlung erhalten, doch würde ich dir abraten die Wunde frühzeitig schon wieder zu strapazieren.«
Nanouk ließ die Hand sinken und blickte erschrocken auf. Sie war bloß fünf Tage lang ans Bett gebunden gewesen? Mit einer Verletzung wie der ihren? Trotz Mahas mahnender Worte fühlte sie erneut über die Wunde an ihrem Oberschenkel, ehe sie ein Paar weißer Hände davon abhielt.
»Du wirkst immer noch ein wenig weggetreten, bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Nanouk blinzelte in Mahas besorgtes Gesicht. Sie war wohl wirklich noch nicht gänzlich erwacht. »Doch, es ist alles in Ordnung, ich bin nur überrascht«, murmelte sie dann und schob ihre Beine vorsichtig über den Bettrand. »Warum nennst du ihn ataha?«, fragte Nanouk dann vorsichtig und beobachtet Maha dabei, wie sie nun die Vorhänge eifrig zurück zog, um das Morgenlicht einzulassen.
Sie hatte sich schon gewundert, weshalb Maha Saghani als anaana, als Mütterchen, bezeichnete, konnte die Dame Wallheims alleine ihres Aussehen wegen gar nicht ihre leibliche Mutter sein.
»Achso«, wandte sich Maha erstaunt an Nanouk und begutachtete sie mit einem fragenden Blick. »Ataha und anaana sind Titel, mit denen hier in Wallheim die Nobelleute angesprochen werden. Es gehört mitunter zu den Kennzeichen dieses Hauses«, erklärte Maha mit einem freundlichen Lächeln, das Nanouk bloß stumm die Stirn runzeln ließ.
»Genauso wie die Kleidung, die ich dir mitgebracht habe«, erklärte Maha einfach weiter und fing an die Kleidungsstücke aufzulegen. »Du wirst vorläufig die schwarzen Arbeitertuniken tragen, am Ende der Woche möchte anaana Saghani dich dann an den Hof bringen. Du hast eine Audienz beim König!«
Nanouk wurde allein bei dem Gedanken übel. Sie sollte direkt zum Winterkönig vorgelassen werden? »Zu welchem Zweck?«, hauchte sie leise.
»Da fragst du die Falsche. Aber anaana Saghani ist hoch erfreut, dass ihrem Ansuchen statt gegeben wurde! Ein Grund zur Freude für uns alle!«
Nanouk zwang sich zu lächeln.
»Es gibt unterschiedliche Garnituren für unterschiedliche Arbeiten«, sprach Maha schnell weiter. Ihr Akzent trat wieder leicht zu Tage und Nanouk beobachtete das Mädchen neugierig, vor allem weil ihre Worte die dunkle Furcht vertrieben, die ihr bei der Nennung des Winterkönigs in den Kopf stiegen.
»Die schwarzen Leinentuniken tragen nur die Frauen, die Kochen, Putzen und Wäsche waschen. Du wirst fürs erste auch nicht mehr machen können. Deinem Bein wegen solltest du dich schonen. Vor allem, weil wir noch gar nicht wissen, was König Nao am Ende der Woche beschließen wird!«
Ihr Akzent war nun deutlich zu hören und Nanouk beschlich ein seltsames Gefühl. Maha mochte heiter über den Winterkönig sprechen, doch konnte sie ihre negative Gefühlsregung ihm gegenüber nicht verschleiern.
»Es tut mir Leid, ich habe wahnsinnig viel zu erledigen, wende dich einfach an Ischka, wenn du etwas brauchst, keine Sorge, ich werde dir nachher gleich das Haus zeigen. Wir haben hier in Wallheim Etikette zu wahren und Ischka ist sozusagen die Hüterin dieser. Na los, ich helfe dir«, plapperte Maha einfach weiter und unterstützte Nanouk schließlich dabei sich einzukleiden.
Nanouk war froh, nicht selbst sprechen zu müssen, ihr pochte immer noch der Schädel und eine tief verankerte Erschöpfung hatte sich in ihren Gliedmaßen eingenistet, welche zwar die lähmenden Schmerzen abgelöst hatte, nun jedoch jede Bewegung zu einem Kraftakt werden ließ.
Das Gewand bestand aus einem lockeren, vielschichtigen Leinenhemd, welches mit dunkelblauen Seidentüchern um die Schultern hochgebunden wurde, damit die weiten Ärmel des Gewandes nicht im Weg waren. Nanouk schauderte alleine schon beim Anblick der kurzen Ärmel, die ihre Unterarme völlig nackt ließen und einen weiten Kragen, welcher ihren Hals ebenso entblößte wie ihr Brustbein. Selbst die Hose endete kurz über ihren Knien und die einzige Bekleidung, die ihre nackte Haut ab diesen bedeckte, waren die weißen Seidenstrümpfe.
Nanouk war entsetzt. Maha reichte ihr einen zweiten, festeren Strumpf, welchen sie über das bandagierte Bein ziehen sollte, damit die Wundränder gefestigt waren und bei Beanspruchung nicht sofort wieder aufrissen. Doch abgesehen davon empfand es Nanouk als ungewöhnlich schwierig und sinnwidrig Kleidung zu tragen, die derart kompliziert zum Anlegen und dermaßen freizügig war, wenn der Zweck dahinter bloß jener war, Töpfe zu schrubben.
»Es geht hier weniger um die Zweckdienlichkeit, als um die Repräsentativität anaana Saghanis«, erklärte ihr Maha streng auf diese Äußerung hin. »Du trägst diese feine Kleidung, um der Ästhetik Wallheims zu entsprechen.«
Nanouk schwieg dazu und verwarf den kratzbürstigen Kommentar, welcher ihr auf der Zunge gelegen hatte. Hier mochte es andere, unverständliche Sitten geben, doch im Endeffekt war es ihr schließlich einerlei. Sie wollte nicht länger hier verweilen als notwendig, wollte niemandem gefallen, sondern bloß überleben. An den Palast gelangen, um dort den Winterkönig um die Kinder zu bitten und ihm vor die Füße zu spucken, wenn dieser ihr ins Gesicht gelacht hatte.
Verstimmt lauschte sie also weiterhin schweigend Mahas Erläuterungen und versuchte nicht an der Flut ihrer Worte zu zerspringen. Sie fühlte, wie alleine das Ankleiden bereits wieder seinen Tribut forderte und als sie schließlich von Maha zum Aufbruch gedrängt wurde, hätte sich Nanouk am liebsten wieder ins Bett gelegt.
Sie zupfte an dem feinen Stoff herum, der so weich und kühl war, dass sie alleine beim darüber Streichen Angst hatte ihn mit ihren rauen Fingern zu zerreißen. Absolut ungeeignet für die unwirtlichen Bedingungen auf der Spitze eines Berges. Aber dann wiederum war hier nicht verlangt, dass sie sich mit der Jagd oder dem Häuten und Ausnehmen von Tieren im Schnee abmühte.
Nanouk sehnte sich bereits zwei Schritte auf der anderen Seite ihrer Zimmertüre wieder nach ihrem Wollwams, den Lederstiefeln und die mit Hasenfell gefütterten Hosen. Kleidungsstücke, welche ihre Haut völlig abdeckten und nicht jeden Luftzug als spinnenhaftes Kribbeln über ihre Arme jagte.
»Normalerweise verlassen die Mädchen Wallheims ihre Schlafsäle niemals mit offenen Haaren, doch bei dir ist das heute eine Ausnahme, schließlich bist du noch kein Teil Wallheims«, erklärte Maha und führte sie den stillen Korridor entlang.
Nanouk fuhr sich das erste Mal bewusst mit den Fingern über den Kopf und hielt erstaunt inne, als sich das Rabennest wie durch ein Wunder glatt und weich anfühlte.
»Du kannst sie dir aber gerne zusammenbinden.« Maha reichte Nanouk ein blaues Band, das sie dankend entgegen nahm. Aus Gewohnheit flocht sie sich ihre hüftlangen Haare zu einem dicken Zopf und legte ihn sich über die Schulter, um die Haut dort zu verdecken. Nicht zu Letzt hatte sie keinerlei Bedürfnis sich die Haare heute, noch sonst irgendwann, hochzustecken, um die Glyphe, die ihr eigen war, aus Versehen dadurch zu offenbaren. Unruhig fuhr sie sich bei dem Gedanken über den Nacken.
Nanouk betrachtete Maha und erst jetzt fiel es ihren müden Augen auf, dass das andere Mädchen in weiße, reich verzierte und mit Goldgarn bestickte Seidentücher gewickelt war, die sogar noch mehr Haut zeigten. Alleinig goldene Saphirfibeln hielten den feinen Stoff an Schultern und Hüften zusammen.
»Dass du nicht frierst«, murmelte sie und Maha blickte rasch an sich herab, ehe sie den Weg fortsetzte.
»Keine Sorge, lange friere ich nicht.«
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Sie gingen den Korridor entlang, langsam damit Nanouk ihr Bein schonen konnte und so blieb ihr genügend Zeit ihre Umgebung zu mustern. An den auch hier mit dunklem Holz und bunter Tapete beschlagenen Wänden prangten elegante Lampen aus Glas hinter denen stille Kerzen brannten und die feinen Malereien auf den Seidentapeten erhellten. Teppichböden aus dunklen Tönen dämpften ihre Schritte und ab und zu kamen sie an hohen Spitzbogenfenstern vorbei, welche nach Westen hinaus führten, denn als Nanouk kurz stehen blieb, erkannte sie wieder die Mauer.
Sie blinzelte. Zwischen Wallheim und Mauer erblickte sie einen fein säuberlich angelegten Garten mit hohen Eisenlaternen und geschnittenen Hecken, Sitzbänken und kleinen Tischchen unter weiten Schirmen, an denen sogar Menschen saßen und etwas tranken. Nanouk drückte sich für einen Moment lang die Nase an der Scheibe platt, als sie fassungslos hinunter starrte.
»Wir sind hier doch im Zittergebirge, oder?«, fragte sie mit ungläubiger Stimme und beobachtete ein weiteres Pärchen, welches in dunkle Pelzmäntel gehüllt die unzähligen, verschlungenen Wege entlang flanierte.
»Natürlich. Der Palast liegt nur eine kurze Kutschfahrt von Wallheim entfernt. Zwar ist der Palast ein Vielfaches größer als Wallheim, aber durch anaana Saghanis vortrefflichen Sinn fürs Geschäft und ihr Gespür für die Lust und Launen der Nobelleute, halten sich die meisten Gäste über ihren Verbleib bei uns auf.«
Das war zwar nicht das, was Nanouk wissen wollte, doch es warf in ihr nur noch mehr Unverständnis auf. Was sie eigentlich zu erfragen versuchte, ob sie nicht über ihre Zeit im Krankenbett vielleicht doch den Verstand verloren hatte. Denn wer sich im kompletten Besitz völlig geistiger Gesundheit befand, konnte doch unmöglich den Drang verspüren von allen möglichen Orten im Zittergebirge spazieren zu gehen und bei den eisigen Temperaturen Tee zu trinken. Die Ignoranz dieser dekadenten Beschäftigungen zu frönen, wenn hinter den Mauern dieses Palastes die Menschen verhungerten, erfroren und langsam an dem nie enden wollenden Schneelagen erstickten, stieß ihr auf. Nanouk biss die Zähne zusammen und wandte sich schweigend ab. Maha dies vorzuwerfen hätte keinen Zweck.
Maha führte sie munter plaudernd hinunter zu den im Keller befindlichen Küchen, in der bereits emsige Frauen und Mädchen in den schwarzen Gewändern Gemüse schnitten, Suppen kochten und Brot buken. Maha redete ohne Unterlass, wies sie auf die Besonderheiten des fließenden Wassers hin, welches durch angelegte Metallrohre durch einfaches Bedienen der Hebel über den Waschbecken zu Tage befördert wurde und erklärte ihr die wundersame Eigenschaft des Berges.
Wallheim und der Palast lagen auf der Spitze eines unterirdischen Feuers, welches das Gestein und das Wasser tief unter der Erde erwärmte und an den wenigen Orten, an denen die Gebäude standen, sogar bis an die Oberfläche reichte. Das kam den im östlichen Flügel gelegenen Badesälen mit ihren Becken aus Marmor und Alabaster zu Gute.
Maha wurde von allen Seiten her gegrüßt, mit Lächeln in den Mundwinkeln und Freude in den Augen. Nanouk selbst warf man misstrauische Blicke zu, als wunderten sich die anderen Bediensteten, weshalb ein schmutziges Mädchen wie sie eine solch sonderbare Bevorzugung durch die Herrin des Hauses erfuhr.
Maha ignorierte allerdings jegliche scheelen Blicke und zog Nanouk weiter, aus den Küchen wieder hinauf in die Schlafräumlichkeiten der Bediensteten. Lange Gänge, ausgelegt mit schockierend teuer aussehenden Teppichen, Blumen und Pflanzen, die aus absonderlichen Trögen an den Wänden und neben den Fenstern sprossen, verströmten einen betörenden Duft nach Heckenrosen, Primeln und Veilchen. Hier herrschte ein reges Kommen und Gehen, die leicht bekleideten Mädchen huschten schnatternd und lachend zwischen den Gemeinschaftssälen hin und her, tauschten Tücher, Süßspeisen und Schmuckstücke.
Nanouk fühlte sich in dem Summen und Treiben beinahe zu ihrem Tag auf Aalsungs Marktplatz zurück versetzt. Bloß, dass ihre körperliche Verfassung eine andere war und hier nichts verkauft wurde, als die Mädchen selbst. Nanouk wollte nicht nachfragen, obwohl ihr dieser Gedanke nun eindringlicher aufs Gemüt schlug. Sie erkannte immer deutlicher die Muster der Prostitution hinter all dem Glanz und Charme. Niemand verschwendete dermaßen viele Ressourcen an einfache Dienerinnen, wenn deren Zweck nicht darin bestand mit ebendiesem Geschmeide zu betören.
Maha führte sie daraufhin weiter nach oben, zeigte ihr die beinahe labyrinthischen Stockwerke voll Musikzimmer, Speisesälen und Schlafgemächern und wies sie darauf hin, dass sie sich für gewöhnlich nicht in diesem öffentlichen Teil Wallheims zu zeigen hatte.
»Man sieht die Hausdiener nicht gerne, wenn es nicht ausdrücklich verlangt wird. Du betrittst nur mit den feinen Seidentüchern und Brokatschärpen die Bereiche der Gäste. Deswegen gibt es für die Frauen in Schwarz diese Geheimgänge«, erklärte ihr Maha mit einem verschwörerischen Lächeln und zeigte Nanouk schmale Türen in den Winkeln der Korridore und leeren Säle, die mitsamt der Holzvertäfelungen der Mauern gar nicht weiter auffielen.
Nanouk schluckte nervös, als sie in die schmalen Gänge einbogen, die dennoch nichts an Schönheit einbüßten, denn auch hier war das Holz poliert und die Bodenbretter mit dünnen Teppichen ausgestattet. Immer wieder hörte Nanouk das Gelächter und Geseufze anderer Menschen durch die Wände dringen, als Maha sie die Gänge entlang zu den Waschküchen führte. Auch die Musik, an die sie sich meinte zu erinnern, zog als feines Band durch die stickige Luft. Es brannten kaum Kerzen hier hinten und Maha erklärte ihr, dass man als Hausdienerin stets einen Vorrat an Kerzenhaltern dabei hatte.
»Es gibt ausgebildete Tafelmädchen, die Speis und Trank in die Säle tragen, Wein nach schenken und die Gäste unterhalten. Du hingegen betrittst diese Bereiche ohne Erlaubnis niemals.«
Nanouk nahm dies mit Erleichterung hin. Sie hatte nicht vor unter Menschen zu gehen, zumal ihr Bein wieder fürchterlich weh tat. Der stechende Schmerz zog sich ihr bis in den Rücken und sie mussten immer wieder Halt machen, damit sich Nanouk vor dem Treppensteigen kurz ausruhen konnte.
»Keine Sorge, ich bringe dich anschließend in die Küche und dann darfst du dich wieder ausruhen. Anaana Saghani wollte bloß, dass du nicht das Gefühl bekommst, hier mit verbundenen Augen dein Dasein zu fristen. Sie möchte, dass du siehst, was wir hier machen, damit es dir vielleicht leichter fällt, dich dafür zu entscheiden hier zu bleiben.«
Nanouk blickte alarmiert auf. »Hier bleiben?«
Maha nickte und führte sie weiter durch die hohe Halle, in der zwei Dutzend Frauen an den Zubern und Wäscheleinen standen, Stoffe ausbürsteten und die Feuer in den Kaminen betreuten, damit die Wäsche an den kreuz und quer gespannten Seilen gut trocknete.
»Oh, anaana Saghani hat es dir gegenüber noch gar nicht erwähnt, aber sie sieht es nie gerne, wenn sie ein so tapferes Mädchen an den Palast verliert. Natürlich hat König Nao das letzte Wort, jedoch gibt es bestimmt eine Möglichkeit, ihn dazu zu bewegen, dich hier unterbringen zu lassen.«
Maha meinte es vermutlich gut, ihre grauen Augen waren trotz ihrer Farbe, die eher an kalten Stein erinnerte, aufgeschlossen und freundlich und entfachten in Nanouk ein merkwürdiges Gefühl der Dankbarkeit. Eine Dankbarkeit, die sie von ihrer Seite her gerne mit Zustimmung und Zuneigung erwidern wollte. Doch Ijiraqs Stimme huschte ihr durch den Kopf und daher schluckte sie bloß. Sie konnte doch nicht in Wallheim bleiben. Sie musste nach den Kindern sehen, sich vergewissern, dass es Paali und Inaak gut ging ... die anderen Kinder retten.
Wie auf Geheiß schnürte sich ihr die Kehle zu und sie beeilte sich woanders hinzusehen, die Gefäße mit kräftig riechenden Seifen in allen möglichen Duftnoten zu inspizieren und die lähmenden Gedanken zu verbannen. Es gab hier so viel in Überfluss, so viele Dinge, die sie in den Tälern so dringlich brauchten. Alleine für einen Klumpen dieser feinen, weichen Seife hätte sie in Aalsung einen gesamten Pelz zahlen müssen.
Gut, dachte Nanouk beschämt bei sich. Denke an die Wut. Denn die Wut war es, die ihr das Handeln ermöglichte.
»Sei nicht bedrückt«, beeilte sich Maha zu sagen, die Nanouks Schweigen mit Unsicherheit verwechselte. »Wir werden alles geben, damit du bekommst, was du suchst.«
Nanouk rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von Maha die unterschiedlichen Stoffarten und Putzmittel erklären. Sie selbst wusste, wie man Leder pflegte und Pelz wusch, damit er nicht verfilzte, aber von vielen dieser Materialien hatte Nanouk noch nie gehört. Das erste Mal, seit Nauju sie so herablassend darauf hingewiesen hatte, fühlte sich Nanouk dumm. Eine zornige Scham ergriff sie, als sie realisierte, wie wenig sie von dieser Welt wusste und wie viel man ihnen allen in den Tälern vorenthielt, doch schluckte diesen Frust hinunter. Maha konnte nichts dafür.
Sie hielt ihr Versprechen und brachte Nanouk anschließend in die Küche, wo sie ihr eine warme Mahlzeit bestehend aus würzigem Wildschweineintopf und frischem noch dampfenden Brot vorsetzte. Als Nanouk in das Brot biss, wunderte sie sich, ob Ijiraq eben dieses gestohlen und zu ihr ins Zittergebirge gebracht hatte.
»Ich werde heute und morgen mit anaana Saghani und einigen anderen Mädchen am Palast sein«, seufzte Maha schließlich und richtete sich die seidene Tunika. Nanouk betrachtete sie neugierig und konnte durchaus verstehen, was es war, das den Nobelleuten an dieser Art von Gewand gefiel. Es setzte Mahas weibliche Runden gut zur Geltung und das funkelnde Geschmeide lenkte die Augen gekonnt zu den Stellen, die wohl Bestand ihrer anderen Arbeit sein würden.
Ein wenig unwohl verdrängte sie diese Gedanken und klammerte sich an das Bisschen Information, das Maha ihr so eben offenbart hatte. »Was macht ihr am Palast?«
»Ach, der König gibt ein Fest. Wir sind zur Zerstreuung dort. Neben den ... Aktivitäten ... « Sie seufzte resigniert und strich sich leicht aufgebracht die blonden Strähnen hinter die Ohren. »Es ist eine Hinrichtung und wir sollen dafür sorgen, dass diese zu einer Augenweide wird.«
Nanouk stockte und verschluckte sich beinahe an dem Eintopf, sodass sie hustend den Löffel niederlegte. »Eine Hinrichtung?« Wie hatte sie auch nur für einen Moment vergessen können, wer hier oben residierte, doch sie konnte in sich das Bild von filigranen, freizügigen Mädchen und einem herabfallenden Beil nicht vereinen. »Warum ... weshalb soll eine Hinrichtung zu einer Augenweide werden?!«
Maha holte tief Luft und ließ sie mit einem leisen Seufzen ausströmen. »Nun. König Nao gibt jedem Verbrecher und Taugenichts an seinem Hof eine gerechte Wahl. Jede verdorbene Seele erhält die Möglichkeit, ihre Freiheit zu erkämpfen. Gewinnt man diesen Zweikampf, so ist man wieder völlig unbelastet und darf gehen, wohin man will.«
Nanouk konnte ihr abschätziges Schnauben nicht unterdrücken, blickte sich aber dennoch vorsichtig um, bevor sie fragte: »Wo ist der Haken dabei?«
Maha kaute auf ihrer Unterlippe und zupfte an ihren manikürten Händen, ehe sie diese energisch in den Schoß fallen ließ. »Man hat die Wahl zwischen einer sofortigen Hinrichtung durch König Naos Bluthund oder einen Zweikampf mit ataha Adassett.«
Nanouk schluckte. Ihr war mit einem Mal der Appetit vergangen. »Und ... gab es schon einmal jemanden, der erfolgreich gegen ihn hervorging?«, fragte sie verbissen und umklammerte ihr Handgelenk, auf welches der Prinz damals getreten war. Sie meinte zu spüren, wie sich der kantige Absatz erneut in ihre Haut grub und ihre Knochen zum Knirschen brachte.
»Kein einziger«, antwortete Maha und selbst in diesen beiden Worten war ihr Akzent deutlich zu vernehmen.
Nanouk nickte, sie hatte keine andere Antwort erwartet und war gewillt diesem Rat folge zu leisten. Sie würde sich von Adassett so fernhalten, wie sie es konnte. Doch dann ermahnte sie sich, dass die anderen Kinder am Palast untergebracht worden waren, genau dort, wo Adassett lebte und Nanouk befiel erneut der Drang sich sofort auf den Weg zu begeben, um jeden einzelnen, wenn es sein musste, eigenhändig vor ihm davon zu tragen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was es bedeutete, wenn man gar ihre Kameraden selbst in den Ring warf.
Doch wie um sie mit einer vernichtenden Erinnerung zu knechten, ziepte die Wunde an ihrem Oberschenkel erneut auf. Sie konnte gar nicht eigenständig an den Palast gehen, geschweige denn irgendjemanden tragen, wenn sie von ihrem eigenen Gewicht bereits derartig niedergedrückt wurde. Und hinzu kam, dass sie mit wachsendem Unbehagen akzeptieren musste, dass ihre Vorstellung von der Residenz des Winterkönigs völlig falsch war.
Sie hatte sich gemeinsam mit Ajat – Ajat! – immer ausgemalt, dass es sich hierbei um genau das handelte, was sie bei ihrer Ankunft oben am Schneepfad erblickt hatte. Ein kaltes Skelett aus schwarzem Stein, welches bloß ein Monster beherbergte. Ein Monster, das grausam und einsam in diesen Hallen wandelte, wie eine Bestie in ihrer dunklen Höhle. Doch nun wurde sie konfrontiert mit Geselligkeit, Musik, Tanz, Festen und Gästen aus dem Umland, welche dem Anschein nach keinerlei Bedenken hatten auch am Palast des Winterkönigs zu verweilen.
Natürlich, dachte Nanouk zerknirscht bei sich, als sie sich zwang den Rest des Eintopfs doch noch zu essen. Sie brauchte die Kräfte, musste genesen und zwar so schnell es ging. Den Adeligen wird es hier oben an nichts fehlen.
Sie verstand dennoch nicht, wie diese Menschen hier oben einfach daneben sitzen und zusehen konnten, wie anderer Leben zerstört wurde, während sie im Überfluss badeten. Vielleicht reichte des Winterkönigs Güte jedoch nur so weit, bis man sich seinem Befehl widersetzte und fand sich schneller im Zweikampf mit dem Hünen wieder, als einem lieb war. War es daher nicht sicherer, sich am Leid anderer zu ergötzen, alleinig aus der perfiden Erleichterung, nicht selbst dort zu knien, wo der Adel seinen Unrat loswurde?
Diese Gedanken beschäftigen Nanouk auch noch, als Maha sie schließlich kurz nach Mittag zu ihrem Zimmer zurück brachte, welches – nun, da sie sich ein wenig orientieren konnte – nur eine schmale Treppe weiter von den Schlafsälen der anderen Mädchen lag. Ihr kleines Zimmer war eines der wenigen, welche sich im selben Gang befanden und Wallheim als kleine Krankenstation diente.
Maha hatte sich mit den versichernden Worten verabschiedet, dass Nauju bald zu ihr käme, um nach ihrem Bein zu sehen. Dann war sie gegangen, um ihrer eigentlichen, unausgesprochenen Tätigkeit nach zu gehen.
Nanouk hatte sich zuerst mit einem tiefen, erschöpften Seufzen auf das Bett gesetzt und durchgeatmet. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn und ihre Gliedmaßen zitterten Aufgrund der Anstrengungen so viele Treppen gegangen zu sein. Verbittert versuchte sie ihren Herzschlag zur Ruhe zu zwingen, denn es war beunruhigend, wie schnell sie zur Erschöpfung neigte, obwohl sie früher selbst ohne regelmäßige Mahlzeiten stundenlang einem Eber oder Elch folgen hatte können.
Sie fühlte sich beinahe schutz- und mittellos, ausgeliefert, wenn sie sich nicht einmal mehr auf ihren eigenen Körper verlassen konnte und schleppte sich schließlich in das kleine, angrenzende Waschzimmer.
Nanouk entzündete eine Kerze und hielt sie in die Höhe, zuckte jedoch augenblicklich zusammen, als ihr ein dunkles Gesicht erschrocken entgegenblickte. Beinahe ließ sie den Kerzenhalter fallen, doch erkannte rechtzeitig, dass sie sich bloß selbst im Spiegel erblickt hatte. Ihr Gesicht war ihr selbst so fremd, dass sie wie angewurzelt stehen blieb und sich nicht rühren traute.
Nanouk hatte sich vielleicht zwei Mal in einem echten Spiegel erblickt, wenn sie in Aalsung über den Markt gehastet war. In Tallik gab es keine Spiegel und die wenigen, müßig polierten Blechscheiben wurden oftmals auch gleich verkauft, da sie im Osten doch einen ansehnlichen Ertrag einbrachten. Nun aber wurde sie mit diesen dunkelbraunen Augen bedacht, die sie bis aufs Schärfste verurteilten. Du hast versagt. Du hast diesen Kindern nicht geholfen, schienen sie zu sagen. Du hast sie zu deinem Bruder gehen lassen, hast sie eigenhändig verdammt.
Nanouks Nackenhaare stellten sich auf, als sie ihren Blick zu der silbrigen Narbe an ihrer rechten Schläfe wandern ließ, welche in dem flackernden Kerzenlicht wie ein verirrter Sonnenstrahl tief unter der Wasseroberfläche aussah. Eine lähmende Schuld stahl sich in ihren Geist, als sie sich fühlte, als zöge sie das Gewicht ihrer Kleidung auf den Grund des Meeres, schillernde Luftblasen tanzten um ihr Gesicht, wirbelten ihre schwarzen Haare durcheinander und verwehrten ihr den Blick auf die ausgestreckte Hand, die sich verzweifelt nach ihrer reckte.
Ohne weiter zu zögern löschte Nanouk die Kerze. Sie brauchte kein Licht, um sich zurecht zu finden.
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