⫷ Kapitel 13: Sinippoq ⫸

»Sie ist zugerichtet, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht. Wenn Adassett nicht einmal mehr auf seine eigene Sippschaft acht gibt, dann ist es um seine Ehre vollständig geschehen.«

Nanouk entkam dem tiefen Schlummer nur träge. Wie durch eine Schneedecke, die man Zentimeter für Zentimeter abtrug, wurde sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst. Obwohl sie nicht mehr in der heißen Wanne lag, war sie umgeben von wohliger Wärme und ihre Schmerzen gehörten noch der Vergangenheit an. Sie war in weiche Daunendecken gebettet und das Zimmer befand sich im schummrigen Dunkel einer einzigen Lampe neben der Türe.

Die Stimme, welche gedämpft durch das Holz dieser drang gehörte der Frau, die Saghani hieß. Die Stimme, die ihr antwortete, war ihr allerdings gänzlich unbekannt.

»Sippschaft«, schnaubte die männliche Stimme, die gleichsam melodisch wie kalt klang. »Du magst nichts als Spott übrig haben für die kleinen Dörfer im Umland, vergisst allerdings dabei, welche ungeahnten Möglichkeiten sich dabei ergeben.«

Das frostige Schweigen das daraufhin folgte, spürte selbst Nanouk.

»Hast du dir schon einmal überlegt«, fuhr die fremde Stimme energisch, aufgebracht fort, »dass anders hier oben eine Trumpfkarte bedeuten kann?«

Nun war es Saghani, die schnaubte. »Dafür muss sie erst einmal ihre Verletzungen überleben.«

Nanouk blinzelte in das spärliche Kerzenlicht und begutachtete ihre sonderbare Umgebung. Sie lag tatsächlich in einem breiten Himmelbett aus massivem Holz mit einer Matratze, die weicher war als alles, das sie je gefühlt hatte. Auf ihrer linken Seite erblickte sie ein kleines Fenster, durch dessen dunkelroten Vorhänge kein Licht drang. Es musste also schon wieder oder noch immer Nacht sein. Der Stoff der Vorhänge war von einem reich bestickten, fest verwobenem Material und selbst die aus dunkler Holzvertäfelung bestehenden Wände waren in Augenhöhe mit bunten Seidentapeten beschlagen.

Sie träumte bestimmt. Das Fieber hatte ihr Halluzinationen beschert und verwandelte den frostigen Steilhang des Zittergebirges in ein warmes Bett und wundervolle Schmerzlosigkeit. Stimmen hörte sie immerhin bereits.

»Die meisten Mädchen, die du ihm schickst kehren nie wieder. Wen willst du hier eigentlich ablenken?«, erklang die Stimme des Mannes nun verärgert und Nanouk horchte wieder auf. »Dich selbst, oder Nao?«

Saghani blieb daraufhin stumm, als hätte die Antwort auf diese Frage etwas berührt, das unter gar keinen Umständen berührt werden durfte: Eine Wahrheit.

Nanouk hielt den Atem an, doch je länger sie wach war, desto mehr wurde sie sich wieder ihrer Verletzungen bewusst. Ihr Kopf fing an zu pochen.

»Nao muss nur glauben, was ich will, das er glaubt. Ablenken möchte ich Reiki. Doch vielleicht hast du Recht. Was sie betrifft.«

Schritte, wie von hochhackigen Stiefeln auf weichem Teppichboden, wurden laut und Nanouk jagte kurzzeitig das Herz in den Hals, als gleich darauf die eiserne Klinke der Türe herabgedrückt wurde. Sie schloss rasch die Augen wieder und lauschte auf das zweite Paar Füße, welches sich nun bis zum Kopfende ihres Bettes bewegte und dort inne hielt.

»Du brauchst dich nicht schlafend zu stellen, auch, wenn ich gute Schauspielkunst zu schätzen weiß«, erklang die Stimme des Mannes und Nanouk öffnete erschrocken ihre Augen.

Sie blickte in ein lächelndes Gesicht, das sich nicht unfreundlich, aber genauso wenig wohlwollend über ihr vom dunklen Hintergrund des Holzes abhob. Der Mann hatte auffallend ockerfarbene Augen, Haut so blass wie gebleichtes Papier und Haare, die beinahe ein silbriges Grau erahnen ließen. Eine einzelne, schwarze Strähne in dem erfolglos zurück gekämmten Haar betrog jedoch das schimmernde, silbrige Haar.

Dennoch sah der Mann nicht älter aus als dreißig, kaum eine Falte kroch ihm um die Mundwinkel und hatte er Lachfalten um die Augen, so erkannte Nanouk dies nicht. Denn sein Lächeln erreichte weder beide seiner Mundwinkel, noch seine Augen.

»Wie ist dein Name?«, fragte er und begutachtete sie mit eindringlichem Blick.

Nanouk blinzelte zu Saghani hinüber, die am Fußende des Bettes stand. Ihre Schultern wirkten angespannt, als hätte sie Mühe ihre gerade Haltung zu wahren und ihre Gefühlsregungen unter Kontrolle zu halten. Sie betrachtete den Mann mit zusammengebissenen Zähnen, nickte ihr dann aber zu.

»Nanouk«, brachte sie hervor und nach einigem Zögern: »Mein Herr.«

Nanouk erkannte den Moment, in dem sein Grinsen doch seine Augen erreichte. »Ich sehe, was dir an ihr gefällt.«

Saghani rümpfte nur die Nase und deutete auf Nanouks Bein. »Ich weiß, was dir an ihr gefällt, aber das wird alles bald keine Rolle mehr spielen. Sieh dir ihr Bein an.«

Saghani rang mit den Händen und strich sich einige ihrer entflohenen schwarzen Strähnen hinter die Ohren.

Nanouk runzelte die Brauen, als sie zwischen dem Mann und Saghani hin und her blickte. Sie hatte Recht. Nanouk hatte sich im Delirium geglaubt, erinnerte sich an heißes Badewasser und Schmerzen, die ihr den Verstand geraubt hatten. Versuchsweise zog sie die Arme unter der Decke hervor, stellte aber fest, dass es ihr unglaublich schwer fiel ihre Gliedmaßen zu bewegen. Auch ihre Beine waren schwer wie Blei und bei dem Versuch sich aufzurappeln, ziepte ihr ein fast vergessener Schmerz durch den Körper.

»Was ist mit mir?«

Der Mann runzelte die Brauen und griff dann nach ihrer Stirn, ehe er ihren Arm unter der Decke hervor holte und ihren Puls maß. Nanouk betrachtete ihn dabei mit großen Augen, unfähig sich zu wehren.

Er hatte feingliedrige Hände die aus dem selben, exquisiten Stoff wie der seines blütenweißen Hemdes bestehen zu schienen. Glatt, weich und weiß. Jedoch konnte Nanouk einige Makel in Form von feinen Narben entdecken, die sie sofort an das Handwerk eines Sammlers oder eines Medizinmannes denken ließen, die sich unweigerlich über die Jahre beim Handhaben von getrockneten Kräutern, Zweigen und dornigem Kraut die Hände zeichneten.

»Saghani ...«, fing er an, als ihm eine Realisation dämmerte. Er fuhr Nanouk völlig unerwartet mit dem Daumen über ihre aufgesprungenen Lippen und leckte diesen dann zu ihrem Entsetzen sogar ab.

Der Mediziner fuhr zu Saghani herum, ein Ausdruck von größter Missbilligung auf seinen edlen Zügen. »Du hast ihr sinippoq gegeben?«

Saghani presste ihre vollen, mit dunklem Rot bemalten Lippen zusammen und deutete zurück auf Nanouk. »Es war die einzige Möglichkeit die Entzündung aufzuhalten.«

Die fein geschwungenen Augenbrauen des Heilers verzogen sich und ehe Nanouk protestieren konnte, hatte er ihr die warme Decke bis zu den Fußgelenken zurückgeschlagen. Er holte scharf Luft, als er auf ihr Bein blickte.

Nanouk begann sich langsam zu erinnern, was es war, das sie gestern – wenn es denn gestern gewesen war – selbst schockiert hatte. Doch weigerte sie sich, an sich herab zu blicken, aus Angst nicht mehr leugnen zu können, was ihr bevorstand. Stattdessen begutachtete sie den Mann, wie er sich mit ernstem Gesicht die weißen Hemdärmel hochkrempelte und begann provisorische Wickel von ihrem Bein zu entfernen.

Ihr Blick fiel auf seine Unterarme, die grazil wie alles an seiner feinen Erscheinung kaum von harter Arbeit sprachen, doch stockte ihr der Atem, als sie erkannte, was mit schwarzer Tinte auf diese gestochen worden war.

Nanouk blickte erschrocken zurück ins Gesicht des Mannes, der nun vorsichtig den letzten Wickel entfernte. Er trug eine Tätowierung, so verschlungen und akribisch genau geformt, dass es nur eine Glyphe ihres Dorfglaubens sein konnte. Eine Glyphe, deren Bedeutung sie sich vehement verschloss. Und doch wirbelte deren Anblick eine dunkle, beängstigende Erinnerung in ihr hoch, wie der sanfte Flossenschlag eines Fisches den Seegrund aufwirbelte.

Eine Glyphe, die sie selbst trug, welche zwar anders, jedoch von ihrer Herkunft tief in der des Mannes verankert war.

Sie schluckte und dankte dem Schlafmittel, dass es ihre Gedanken diffus zerstreute und ihren Verstand verblendete. Stattdessen senkte sie schließlich den Blick auf die Hände des Mannes, als dieser inne hielt und den letzten Stofffetzen auf den Tisch hinter sich warf. Er sagte nichts, sondern starrte bloß hinab auf ihr Bein, Bestürzung huschte für einen Moment über seine unergründlichen Züge, ehe diese Regung verschwand und er sich zurück zu Saghani wandte.

»Ihr habt sie so gefunden?«

Nanouk wagte ihren Kopf zu heben und an sich herab zu blicken. Ihr stockte der Atem abermals, als sie endlich erkannte, was sie sich zuvor nicht eingestehen wollte. Die Erinnerung an heißes Blut, ein verzweifeltes Lachen, sengende Fieberschmerzen.

»Adassett hat sie einfach auf dem Pfad vergessen!«, fauchte Saghani bitterböse und Nauju runzelte die Brauen.

Ihren Oberschenkel musste ein besonders scharfer Steinsplitter erwischt haben, denn er war beinahe bis zur Hüfte hinauf aufgeschlitzt worden. Nanouk keuchte entsetzt auf und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Die Wundränder waren bereits eitrig, feuerrot und an manchen Stellen tief violett wenn nicht sogar bereits schwarz.

»Vergesslichkeit geht selten mit derartigem Wundbrand einher«, erwiderte der Mann mit kühler Stimme und Saghani schnalzte mit der Zunge.

»Ihm ist es doch einerlei! Vermutlich ist sie gestürzt und Adassett hat sie mutwillig in den Wald geworfen, damit keiner erkennt, was für ein Versager er ist!«

Der Heiler schnaubte und rollte mit den Augen. »Jetzt maßt du ihm zu viel böse Hintergedanken zu.«

Niemand, den sie kannte hatte solche Verletzungen jemals überlebt. In Tallik behandelte man nichts gröberes als eine Prellung, einen missglückten Messerstreich oder eine Verstauchung. Für offene Verletzungen, die man nicht schlicht mit Wundsalbe und einem Stück Stoff abbinden konnte, musste man nach einem Arzt schicken. Ärzte waren teuer, ihre Heilmittel sowieso und im Westen zwischen den abgeschiedenen Dörfern beinahe niemals zu erreichen.

Und beten hatte in Nanouks Erfahrung nie geholfen.

»Und? Kannst du sie flicken?«, fragte Saghani erzürnt und wischte jeglichen Kommentar des anderen beiseite.

Der Mann seufzte und blickte von ihrem Bein hinüber zu Saghani, die erhaben und stolz neben ihrem Bett stand und den etwas kleineren Mann fordernd anblickte.

»Ich denke, dass es möglich ist. Aber«, er wandte sich kurz zu Nanouk, um ihr Gesicht zu studieren. »Es wird dauern. So kannst du sie nicht an den Hof bringen. Man wird sie sterben lassen.«

Etwas ähnliches hatte Ijiraq doch auch gesagt. Nanouk versuchte sich an die wenigen Eindrücke ihrer rasanten Reise durch das Zittergebirge zu erinnern, doch vieles war durch das Fieber in makabre Albträume entschwunden, sodass sie sich nicht einmal mehr sicher war, dass sie sich den bösen Geist nicht nur eingebildet hatte.

»Du hast die Kraft dazu«, forderte Saghani mit kalt funkelnden Augen, die Nanouk an die dunklen Untiefen weit draußen auf dem Meer erinnerten.

Der Mann zögerte und blickte die Dame steinern zurück an, ehe ein schmales Lächeln über sein Gesicht huschte. »Das habe ich. Doch möchtest du wirklich mein Talent an das hier verschwenden, wenn es doch anderswo so dringend benötigt wird?«

Nanouk fühlte eine plötzliche Kälte in dem schummrigen Zimmer aufsteigen, die nicht körperlicher, doch persönlicher Natur war. Saghanis Augen sprühten Eis, als sie das nächste Mal die Stimme erhob.

»Das möchte ich.«

Der Mann schnaubte, doch seine Gesichtszüge verfielen wieder in die Mimik eines leicht lächelnden, reihum zufriedenen Mannes. »Wie du wünschst.«

Nanouk räusperte sich leise, als sie sich an einen weiteren Fetzen in Ijiraqs verwirrenden Warnungen erinnerte. »Ich bin nicht nutzlos. Ich kann arbeiten«, brachte sie hervor, spürte jedoch wie sie selbst das Sprechen mehrerer Sätze bereits anstrengte. Sie versuchte sich durch die betäubende Wirkung des Schlafmittels zu kämpfen, ihre Muskeln dazu zu zwingen ihr zu gehorchen und stemmte sich mit einem knapp unterdrückten Ächzen in eine aufrechte Position.

Der Heiler blickte sie mit leichter Belustigung an.

»Gebt mir meinetwegen mehr von dem sinippoq, wenn das bedeutet, dass ich hilfreich sein kann.«

Der Heiler unterdrückte ein Grinsen und ein zuvor noch nicht dagewesener Schalk huschte durch seine ockernen Augen. »Welche Arbeiten weißt du denn zu erledigen?«

Nanouk verbuchte diese Frage als einen Gewinn, schließlich hatte man sie aufgrund ihres Zustands nicht sofort abgeschmettert. Verstörenderweise kümmerte sich Saghani, die Frau, vor der Ijiraq sie eindrücklich gewarnt hatte, sogar um sie, wirkte, als wolle sie selbst Berge versetzen oder versetzen lassen, damit es ihr wieder besser ging.

»Ich kann jagen. Flicken, gerben, kochen, schwere Arbeit ist mir nicht fremd.«

Nun unterdrückte der Mann ein Lachen und stieß stattdessen bloß die Luft durch die Nase aus. »Nun, das sind nicht die Arbeiten, die uns im Sinn stehen.«

»Was es auch ist, ich werde es lernen.«

Saghani nickte zufrieden und warf dem Mann einen warnenden Blick zu. Dieser seufzte nun und hob abwehrend die Hände, doch die leise Belustigung war nach wie vor nicht aus seinem Blick gewichen.

»Wenn sie unbedingt arbeiten will, werde ich nicht nein dazusagen.«

Dieses Mal war es Saghani die abschätzig schnaubte und sich dann vor den Heiler drängte, um an Nanouk heran zu treten. »Du wirst für einige Zeit hier bei mir in Wallheim bleiben«, sagte sie mit sanfter Stimme, die Nanouk ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte, jedoch die plötzliche Unruhe nicht gänzlich vertrieb.

Wallheim? Auch davor hatte Ijiraq sie gewarnt.

»Sorge dich nicht, du wirst deinen Pflichten früh genug nachkommen können. Vorerst möchte ich, dass du wieder gesund wirst.«

Nanouk nickte verunsichert, da sie nun nicht mehr wusste, worauf sie vertrauen konnte. Ijiraqs Warnung klang ihr im Kopf nach, jedoch präsentierte Saghani hier einen derartig fürsorglichen Ort, dass es ihr schwer fiel diesen Warnungen nachzugeben.

Sie hätte nicht im Traum daran geglaubt, dass man sie hier so entgegenkommend empfing, sie aufnahm und ihr ein Krankenbett zur Verfügung stellte, das eher dem Stand des Heilers als ihres eigenen entsprach. Und nun wollte Saghani, dass man sich um ihre Wunden kümmerte, ihre grässliche Situation mit Nachsicht und größten Mühen bedachte, anstatt sie einfach in einen Kerker zu werfen, wo sie möglichst schnell und ungesehen starb.

»Nauju ist mein fähigster Arzt, er wird sich gut um dich kümmern.«

Nanouk nickte dankbar, kam aber nicht umhin die leichte Verstimmung auf dem Gesicht des Arztes zu entdecken.

»Maha wird bei dir nach dem Rechten sehen. Sie ist die nette junge Dame, welche dich bereits gebadet hat. Wende dich an sie, oder Nauju, wenn dir etwas fehlt. Ich selbst werde häufig am Hof verlangt«, fuhr Saghani lächelnd fort und legte ihr schließlich auch eine Hand auf den Kopf.

»Habt Dank«, wiederholte Nanouk.

Saghani nickte ihr ein letztes Mal zu und warf dann einen warnenden Blick in Richtung Naujus, der sie jedoch nicht weiter beachtete.

»Ich melde mich, sobald ich wieder hier bin«, verabschiedete sich die Herrin Wallheims von ihnen und zog die Tür hinter sich zu.


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