⫷ Kapitel 12: Wallheim ⫸
»Hört mich jemand? Bitte!«
Nanouks Stimme verhallte in der stillen Dunkelheit. Ihr Pferd hatte sie bis hin zur hohen Mauer getragen, vor dessen massiven Toren aus eisenbeschlagenem Holz sie nun stand und in die Kälte rief. Doch es blieb unheimlich still. Das Pferd schnaubte unbehelligt, als hätte es seine Aufgabe erledigt und kümmerte sich nicht weiter um sie, da es weder auf Nanouks Zug an den Zügeln, noch auf ihre schwachen Versuche ihm die Fersen in die Flanken zu drücken, reagierte.
Je länger sie im Mondlicht stand und auf dem Pfad ausharrte, desto steifer wurden ihre Finger und desto aufgewühlter ihr Gemüt. Sie erinnerte sich an Ijiraqs Warnung, hier draußen keine zwei Tage überleben zu können. Was genau er damit gemeint hatte, blieb ihr nach wie vor schleierhaft. Die tiefen Schatten der Tannen griffen nach ihr, reckten sich über den Pfad und aus ihrem dunklen Geäst ertönte nicht einmal der Ruf einer Eule. Als wäre jegliches Leben hier oben, so nahe an der verwunschenen Grenze zum Reich des Winterkönigs, verstummt.
Nanouks Zähne klapperten schmerzhaft aufeinander, als sie versuchte ihre starren Glieder zu lösen. Das Sattelgeschirr klirrte leise in der Nacht und sie schob sich bibbernd vom Rücken des Pferdes, glitt jedoch ab und stürzte. Ihr Bein knickte ohne Widerstand ein und beförderte sie mit dem Gesicht voran in den kalten, teils gefrorenen Schnee. Doch ihre Haut war mittlerweile so durchgefroren und taub, dass sie die scharfen Eiskristalle gar nicht merkte.
Fluchend und zitternd zog sie sich an dem Pferd wieder aufrecht und schlang ihre Finger um die Zügel. Warum hatte ihr der Gestaltenwandler nicht ihren Mantel zurück gebracht, oder ihre Wunden verbunden? Ihr Kopf pochte, als sich ein benebelndes Fieber durch ihre Venen fraß. Sie würde sterben, wenn sie nicht bald jemand fand.
»Bitte! Wenn mich jemand hören kann! Bitte öffnet das Tor!« Ihre Stimme war so unendlich leise, dass Nanouk fürchtete sie wäre nicht einmal einen Steinwurf weit zu vernehmen. »Ich komme aus Aalsung«, krächzte sie weiter und blinzelte angestrengt, als ihr die Welt vor Augen verschwamm.
Sie humpelte nach vorne zum Tor und schlug schwach mit der flachen Hand gegen das eiskalte Holz. »Bitte!«
Nanouk war kurz davor sich einfach hier in den Schnee sinken zu lassen und ihren Tod zu akzeptieren, als ein dröhnendes Knirschen durch das mächtige Tor fuhr. Das Grollen klang durch den Wald zu beiden Seiten des Pfades und war so tief, dass es sogar den Schnee von einigen Tannen warf. Der Frost auf den Eisenbeschläge splitterte unter der Vibration ab und prasselte auf sie und das Pferd nieder, welches leise wieherte und einige Schritte zurück tänzelte.
»Mach doch nicht so einen Lärm«, erklang schließlich eine Stimme, laut und klar jedoch dunkel wie der Wald um sie herum.
Nanouk trat einige Schritte von dem Tor zurück und klammerte sich schwer atmend an die Zügel des Pferdes, als die hölzernen Flügel langsam aufschwangen. Durch den schmalen Spalt konnte Nanouk eine hoch gewachsene Gestalt erkennen, die im knöcheltiefen Schnee stand. Hinter ihr ragten weitere Tannen empor und der Pfad führte auch hier in einen Wald.
»Na los. Rein mit dir«, drängte sie die Frau und winkte sie energisch mit dem Arm durch das Tor. Nanouk zog ihre Füße durch den Schnee und war froh, als das Pferd neben ihr bereitwillig einen Huf vor den anderen setzte, sodass sie sich gegen den warmen Hals des Tieres stützen konnte.
»Habt ... habt Dank«, brachte Nanouk hervor und blickte die Dame erschöpft an.
Sie trug einen edlen Pelzmantel aus schwarz meliertem Fell, weitem Kragen und elegantem Schnitt. Er schmiegte sich um ihre erhabene Figur und fiel in wogender Pracht um ihre Knie. Ihre ebenso schwarzen Haare waren in eine kunstvolle Frisur hochgesteckt und ließen so den Blick auf ihren weißen Hals frei, der so hell und rein wie der Schnee zu ihren Füßen wirkte. Das Funkeln von zwei riesigen Saphiren in den Ohrringen war im Mondlicht so hell, dass Nanouk blinzeln musste.
Das Fieber versengte ihr mittlerweile jede Nervenfaser und Nanouk spürte trotz der klirrenden Kälte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinab rann.
»Dass ich das Westtor jemals öffnen müsste, hätte ich nicht gedacht. Für gewöhnlich nehmen Gäste die Oststraße, selbst Adassett macht den Umweg zurück auf den Berg, wenn er kostbare Fracht transportiert.« Die Dame rümpfte bei der Erwähnung des Namens angewidert die Nase.
Nanouk war nun durch das Tor geschritten und die Dame gab einen Wink mit der Hand. Gleich darauf fing das Tor an sich wieder zu schließen. Kurz huschte der absurde Gedanke durch ihren Kopf, dass die Dame mit Magie alleine das schwere Tor dazu gebracht haben musste, sich wie von Geisterhand zu schließen, schalt sich dann aber beinahe kichernd einen Dummkopf. Natürlich standen zu beiden Seiten der Torflügel kräftige Männer und schlossen es. Männer mit verschwimmenden Gesichtern, die mit der Dunkelheit verwoben und seltsamen Fratzen gleich mit dem Mondlicht tanzten.
Nanouk stieß ihren Atem heftig aus und schüttelte den Kopf. Schwachsinn. Sie blickte zurück zur Dame und erlaubte es sich für einen winzigen Moment Erleichterung zu verspüren. Sie war in Sicherheit.
»Gesprächig bist du nicht«, fuhr die elegante Dame fort und ließ ihren kristallblauen Blick über Nanouks Erscheinung schweifen. »Nun, Adassett hat mir unterschlagen, dass er ein schmuddeliges Kind vergessen hat. Widerwärtig genug, dass er überhaupt Kinder durch das Gebirge zerrt.«
Nanouk schluckte gegen das stechende Gefühl des Fiebers an und nickte leicht. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass die Bezeichnung ihr gegenüber als schmuddelig einen wunden Punkt traf. Alleine, wie diese Frau gekleidet war schrie nach Adelsstand, nach jemandem, deren Gemüt noch nie damit belastet worden war am absoluten Minimum zu leben. Nicht wusste, was es hieß für jedes trockene Kleidungsstück und jeden wasserfesten Stiefel hart zu arbeiten.
Doch als ihr dieser Gedanke durch den benebelten Kopf geisterte, realisierte Nanouk, dass ihre Abneigung dieser Dame gegenüber vermutlich daher kam, weil sie eben dies war. Eine Adelige, vor der sie mehr Respekt zeigen sollte.
Rasch senkte sie den Kopf und ging eine Handbreit in die Knie, spürte aber, wie ihr die Kraft dazu entglitt und sie stattdessen mit einem unterdrücken Keuchen darum zu kämpfen hatte, nicht vollständig in den Schnee zu sinken.
»Ich bin mir sicher, Prinz Adassett trifft keine Schuld. Schließlich war ich diejenige, die vom Weg abgekommen und zurück geblieben ist.«
Die Dame schnupfte kurz und ließ ihren stechenden Blick ein weiteres mal über sie gleiten. »Prinz, also bitte. Du brauchst ihn nicht in Schutz nehmen. Na los. Du kannst dein Pferd bei den Männern lassen.«
Nanouk nickte, fragte sich jedoch, ob sie überhaupt fähig war einen Schritt alleine zu gehen, wenn sie nicht das kräftige Tier stützte. Sie blickte sich nur einmal argwöhnisch nach den genannten Männern um, doch ihre Gesichter waren zwar griesgrämig und verschlafen, aber völlig normal.
»Du kommst mit mir«, fuhr die Dame fort und nickte den Wachen zu, damit sie sich ihres Pferdes annahmen. »Bei denen im Wachhaus zu schlafen, bekommt einem jungen Ding wie dir nicht.«
Nanouk zwang sich dazu zu lächeln und all ihre verbliebene Willenskraft aufzubringen, um aufrecht zu stehen. Sie ließ die Zügel widerspenstig los und wurde sich des mitleidigen Blickes der edlen Dame gewahr, die ihre Anstrengungen kommentarlos beobachtete.
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Kaum waren sie den breiten Pfad vom Tor durch ein kurzes Stück Tannenwald gestapft, erblickte Nanouk zuerst das goldene Licht auf dem Schnee und als sie den Kopf hob, auch die Quelle dieses.
Ein mächtiges, fünfstöckiges Herrenhaus mit einem noch höheren Turm aus weißem Stein lag in sanftes Laternenlicht getaucht auf einer Lichtung. Sie mussten sich von Norden nähern, der Flanke des imposanten Gebildes, denn Nanouk erkannte nur wenige, erhellte Fenster, dafür unscheinbare Dienstboteneingänge und einen breiten Verschlag aus Stein und Holz, welcher in der Dunkelheit zwischen den Tannen an die westliche Mauer anschloss, durch die sie eben gehumpelt war.
Man hörte das Schnauben von Pferden und wie aus weiter Ferne das Gelächter und Gejohle von amüsanter Gesellschaft, klirrende Gläser und wunderschöne Musik, die Nanouk allerdings keinem Instrument zuordnen konnte.
Die Klänge schwebten durch ihren benebelten Verstand und brachten sie zum Lächeln, süß und sehnsuchtsvoll, heiter und verspielt wechselten sich die Töne in der An- und Abschwellenden Melodie der Stimmen ab.
Auf den breiten Treppen des Nebeneingangs erblickte Nanouk eine junge Frau mit strohblonden Haaren, welche eine Laterne in Händen hoch hinaus in die Nacht hielt. Ihr feines Gesicht war von Sorge gezeichnet und in ihren seidenen Röcken und dem schwarzen Pelzmantel um ihre Schultern sammelte sich der frische Schnee, der zu Nanouks Verwunderung wieder begann auf sie herab zu sinken.
»Ach Maha«, wandte sich die Dame nun vorwurfsvoll an das Mädchen und wirkte ehrlich bestürzt. »Was wartest du hier ganz alleine in der Kälte? Deine wunderschöne Tunika ist beinahe komplett durchnässt!«
Die Angesprochene schüttelte bloß ernst den Kopf. »Wir schließen nicht ab, ehe Ihr nicht sicher wieder hier seid. Es ist heute recht spät geworden, ich habe mir Sorgen gemacht.« Sie warf Nanouk einen raschen, beunruhigten Blick zu. »Ich hatte befürchtet, es hätte einen Vorfall an der nördlichen Mauer gegeben. Die Klippen ... «
Die Dame lachte bloß kurz auf und führte Nanouk hinüber zu der Bediensteten. »Einen Vorfall gab es alle Mal, doch keinen der arglistigen Natur«, erklärte sie. »Du weißt, dass ich mich durchaus weiß der bösen Geistern zu erwehren.«
Nanouk fragte sich gerade, wie es möglich sein sollte, dass sich diese feine Dame in Kleidern wie den ihren überhaupt gegen etwas verteidigen vermochte, doch folgte diesem Gedanken keine weiteren zwei Augenblicke, denn das rauschende Blut in ihrem Kopf schwemmte jeglichen zusammenhängenden Satz davon.
»Maha«, drang die dunkle Stimme der Dame durch ihre hämmernden Kopfschmerzen. »Richte ihr ein Bad und frische Kleider. Bitte Ischka das leerstehende Zimmer im zweiten Stock für einen Gast vorzubereiten. Und gib Inkrit Bescheid, sie soll doch etwas von dem Gewürzeintopf aufkochen.«
Maha nickte und warf einen letzten, mitleidigen Blick auf Nanouk. »Sehr wohl, anaana Saghani.«
Nanouks verschwommener Blick richtete sich auf die Dame neben ihr, als ihr das Herz in den Hals hüpfte. Hatte Ijiraq nicht eben noch gesagt, sie solle sich fernhalten von Saghani?
»Na komm rein. Du frierst hier gleich fest«, wandte sich Saghani mit einem freundlichen Lächeln an sie und schob sie vorsichtig an der Schulter die Treppen hinauf. Nanouk schluckte schwer. Was blieb ihr denn anderes übrig? Ganz gleich, wie treffend Ijiraqs Warnungen auch sein mochten, konnte sie schlecht ablehnen. Vor allem nicht, weil bereits schwarze Schatten am Rande ihres Blickfelds grinsend umher tanzten. Dunkle Fratzen kicherten in ihrer Peripherie und spitze Klauen reckten sich nach ihr.
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Saghani führte sie niedrige, mit Holz verkleidete Gänge entlang, doch Nanouk konnte nicht einmal mehr ihre Schritte zählen. Die plötzliche Wärme der erleuchteten Korridore trieb ihr erneut den Schweiß auf die Stirn. Man öffnete ihr eine Türe, die in einen großen Waschraum führte. Größer, als ihre Hütte in Tallik, registrierte Nanouk fiebrig.
Eine hölzerne, breite Wanne stand neben dem lodernden Kamin und unzählige Wäscheleinen führten kreuz und quer in Augenhöhe durch den warmen Raum. Röcke, Strümpfe, feine Hemden und Tuniken, Tücher und elegante Seidenhandschuhe hingen an den Leinen zum Trocknen, alles in weiß und tiefblau. Die Stickereien und Muster auf den Kleidungsstücken und Stoffen erwachten in Nanouks Verstand zum Leben, die Vögel mit weiten Schwingen bewegten sich von Tuch zu Tuch und die belaubten, hellgrünen Bäume wiegten ihre Äste in einer hier so fernen Sommerbrise.
Nanouk blickte sich blinzelnd um, erkannte an den Wänden hohe Holzregale gefüllt mit Seifen und Bürsten, Spiegeln und Phiolen, duftende Kräuter und bunte Keramikbehälter.
»Kümmer dich gut um sie«, erklang Saghanis Stimme, Maha nickte und dann verschwand die Dame.
»Brauchst du Hilfe beim Baden?«, fragte Maha sie vorsichtig und half Nanouk das Stück zur Wanne hinüber.
Nanouk schüttelte den Kopf, mühte sich ein Lächeln ab und umklammerte den hölzernen Rand der Wanne mit Vehemenz.
»Du siehst gar nicht gut aus«, meinte Maha zögerlich und ließ ihren Blick an ihr herab wandern. »Warum verstellst du dich? Du brauchst dich nicht zu fürchten. Anaana Saghani kümmert sich um jedes Mädchen, das über ihre Türschwelle schreitet.«
In ihrer Stimme schwang ein leichter, fremder Akzent mit, den Nanouk allerdings nicht zuordnen konnte. Sie kam keineswegs aus dem Norden wie sie selbst, alleine ihre schneeweiße Haut und das goldenen, beinahe durchscheinende Haar zeugte von dieser Feststellung. Nanouk hatte noch nicht einmal die Grenze ihrer eigenen Heimat erblickt, bis auf das Meer, welches die Provinz Aalsung in den Westen hin abschloss. Doch der Osten? Der Süden? Nanouk hörte nur gelegentlich wundersame Geschichten in Aalsung, wenn sich ein einsamer, törichter Wanderer hier hinauf verirrt hatte.
»Na komm«, forderte sie Maha erneut auf, als Nanouk völlig weggetreten neben der Wanne stand. »Du musst in das Wasser steigen. Ansonsten wirst du noch erfrieren. Was auch immer dich sorgt, wird warten, bis es dir wieder besser geht. Mit leerem Magen und Wunden wie den deinen lässt sich nicht gut kämpfen.« Maha lächelte ihr aufmunternd zu und fühlte ihre Stirn. Die Besorgnis schlich sich zurück in ihre strahlend grauen Augen.
Nanouk blinzelte Maha an, die sie tatsächlich für einen Augenblick in dem Glauben ließ, sie wäre hier sicher. Maha war vermutlich genauso wie Nanouk ihrer Heimat entrissen und an den Hof des Winterkönigs verschleppt worden, wenn sie denn ihren Akzent richtig deutete. Und sie wirkte so gesund und munter wie niemand sonst in ihrem Dorf die letzten Jahre gewesen war. Demnach behandelte man sie hier gut, sie war wohlgenährt und sorgenfrei.
Nanouk öffnete den Mund, der sich anfühlte, als hätte man ihn ihr mit trockener Erde ausgewaschen. »Ich fürchte nur, wenn ich den Wannenrand loslasse, kippe ich um.«
Maha fuhr zusammen. »Oh!« Sie blickte sich hastig um. »Ich bringe dir einen Schemel oje! Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht, dass es so um dich bestellt ist. Auch wenn du ...«, sie zögerte kurz, als sie zwischen der trocknenden Wäsche verschwand und wenig später einen hölzernen Hocker neben Nanouk stellte. »Was ist dir überhaupt passiert?«
Nanouk ließ sich ächzend auf den Schemel sinken und zwang sich ihre glühenden und gleichzeitig vor Kälte schlotternden Gliedmaßen zu bewegen. Sie wollte sich soeben das Wollwams über den Kopf streifen, als ihre Schulter mit einem scharfen Schmerz reagierte.
»Ich war ...«, sie stockte, was nicht zur Gänze daher rührte, dass sich ihre Lungen verkrampften und ein heftiger Husten ihren Körper schüttelte. Nanouk war sich nicht sicher, wie klug es war von den Geschehnissen auf dem Schneepfad zu erzählen. Genauso wenig, wie sie es für ratsam hielt Ijiraq zu erwähnen. Wer auch immer er am Hof des Winterkönigs war, vermied er dort draußen zu sein. Ijiraq hatte Geheimnisse und Nanouk fühlte eine tiefe Unruhe, als sie daran dachte, diese zu offenbaren. Seine Geheimnisse waren die ihren. Vorerst.
»Ich sollte die Karren begleiten«, erklärte sie matt. »Auf dem Weg wurden wir von einem Eisdämon angegriffen.« Erneut stockte ihr der Atem, als sie an Qiuq denken musste. Die Tränen, die ihr daraufhin in die Augen stiegen, brannten wie Feuer. »Er konnte erlegt werden, doch in dem Tumult geriet ich vom Weg ab. Ich kam alleine hier herauf.«
»Das ist ja grauenvoll!« Maha blickte sie erschrocken an und ging ihr so gut es ging zur Hand. »Das grenzt an ein Wunder.«
Nanouk entkam ein erdrücktes Lachen, das gemischt mit ihren Tränen mehr einem Schluchzen glich. »Ich denke, das war es.«
Maha löste Nanouks zerzauste Haare aus dem Kleidungsstück und zog das verdreckte und zerrissene Wams über ihren Kopf. Doch die Schmerzen, welche diese Verrenkungen verursachten ließen Maha das Leinenhemd darunter kurzer Hand mit einer Schere von Nanouks Körper schneiden.
»Mit Wunden wie den deinen bin ich fast geneigt den seltsamen Geschichten über die Schutzgeister hier im Westen des Landes Glauben zu schenken«, meinte Maha mit einem leichten Schnauben. »Meine Güte«, murmelte sie dann jedoch und begutachtete Nanouk entsetzt. »Du bist ja völlig grün und blau geschlagen!«
Nanouk wagte es an sich herab zu blinzeln, erkannte jedoch dankenswerterweise durch ihren tränenverschleierten Blick nicht viel. Doch sie fühlte, was Maha so schockierte. Sie musste Schnitte und Prellungen überall haben, der Geruch von Blut und entzündeten Wunden stach ihr selbst in der Nase.
»Ich muss wohl gestürzt sein«, flüsterte sie mit trockener Kehle und Maha schnaubte erbost auf.
»Gestürzt! Als wärst du zwischen zwei Felsen geraten, während du gestürzt bist! Das wird anaana Saghani gar nicht gefallen.«
Nanouk fragte gar nicht, welcher Teil der Dame missfallen sollte, denn sie war ohnehin zu erschöpft. Maha schnürte ihr schließlich auch die Stiefel auf und half ihr dabei die Fellhose von den Beinen zu ziehen. Doch die Verletzung, die ihr rechtes Bein taub werden hatte lassen und unaufhörliche Schmerzen durch ihren Körper schickte, hatte eine so tiefschürfende Wunde davon getragen, dass es schließlich erneut der Schere bedurfte, um das Kleidungsstück von ihrem Bein zu schneiden. Die blutigen Wundränder eines schockierend tiefen Schnittes hatten ihren Oberschenkel beinahe der Länge nach in Zwei geteilt. Das wahre Wunder wäre, wenn ihr Bein nicht gebrochen war.
»Oje«, keuchte Maha und hielt sich die seidenen Tücher ihres Rockes vor die Nase. »Entschuldige«, nuschelte sie und Nanouk schüttelte nur benommen den Kopf.
Sie hatte nur selten solch schlimme Verletzungen gesehen, daheim in Tallik. Es passierte selten, dass ein Jäger so schwer verunglückte, doch wenn, dann war es um diesen geschehen. Gelegentlich wurde ein Schneebär gereizt, ein Eber zu fahrlässig erlegt, das Gelände unterschätzt und das Wetter nicht bedacht. In heftigem Schneefall tarnten sich Felskanten und Eisschluchten und führten dazu, dass man einbrach oder abrutschte.
Tiefe Fleischwunden waren gleichbedeutend mit einem Todesurteil.
»Was für eine Sauerei«, lachte Nanouk hoffnungslos und legte sich die Hand auf die Augen, um ihr aufgeschlitztes, entzundenes Bein nicht mehr sehen zu müssen.
»Warte, ich helfe dir.« Maha griff nach ihrem Ellenbogen und half ihr sich in die hölzerne Wanne mit dampfendem Wasser zu ziehen.
Nanouk ächzte, doch als sie das heiße Wasser berührte, war sie bereits so weit weggetreten, dass sie kaum mehr etwas wahrnahm. Maha huschte um sie herum und versuchte sie dazu zu bringen sich den Dreck aus den Haaren zu waschen, die Wunden zu säubern und das Blut abzuschrubben, doch Nanouk versank einfach in sich selbst, als das Wasser sie umgab wie ein warmer Schutzmantel.
Wie der Ijiraqs, aber weniger unheimlich. Irgendwann schloss sie die Augen und hörte nicht mehr zu.
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