⫷ Kapitel 11: Warnungen ⫸
Als Nanouk das nächste Mal die Augen öffnete, war es immer noch Nacht. Sie erkannte die Nordlichter als Ansammlung feiner Bänder zwischen den Sternen, sachtes orange und tiefes grün verwob sich über ihrem Kopf zu einer Straße ins Jenseits.
Sie blinzelte, fühlte sich noch halb im Traum und setzte sich verwirrt auf. Der Wald um sie herum war licht, weswegen sie überhaupt den Himmel sehen konnte. Die Bäume reckten ihre Kronen empor, als wollten sie ebenfalls Teil dieser bunteren Welt werden und ihre ewigen Mäntel aus Frost ablegen. Doch genau wie Nanouk waren sie hier unten gefangen, gebunden an die Erde aus der sie wuchsen.
Nanouk blickte sich um und schüttelte sich den Schnee aus den Haaren. Sie trug nach wie vor den Mantel des Gestaltenwandlers und fühlte sich bis auf ein leichtes Gefühl des Schwindels völlig wohl. Sie saß neben einer zugeschneiten Straße, die weiter den Berg hinauf führte und sich hinter der Biegung im lichten Nadelwald verlief.
Nanouk rappelte sich auf und klopfte sich den Schnee auch von der Kleidung, als ihr Blick schließlich auf die Spitze des Berges fiel. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als sich ihr eine dunkle Silhouette erschloss, welche hinter den letzten Tannen hoch in der Nacht aufragte. Es war eine massive Mauer mit spitzen Zinnen, welche sich stumm durch den ebenso leblosen Wald wand. Dahinter thronte das kantige Schloss des Winterkönigs. Die krallenhaften Türme ragten hoch hinauf in den Himmel, bohrten sich in das Firmament selbst, als griffen sie nach den Nordlichtern, als versuchten sie ebenfalls durch die Sterne empor zu steigen. Im Mondlicht erkannte Nanouk die schwarzen, schartigen Wände aus dunklem Kristall, welche das Mondlicht träge reflektierten und ihren Puls in die Höhe schnellen ließen. Unfreiwillig breitete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen aus, als sie die schwarzen und roten Flaggen im Westwind wogen sah.
Nanouk hatte nicht genau gewusst, was auf sie warten würde, wenn sie den Gipfel des Zittergebirges tatsächlich in einem Stück erreichte, doch nie im Traum hätte sie geglaubt, dass es so schnell ging. Dass sie dabei sogar stille Ehrfurcht empfinden würde. Sie schluckte und drehte sich einmal im Kreis, doch von Ijiraq fehlte jede Spur.
Die Unruhe ergriff erneut von ihr Besitz, als sie in die helle, sternenklare Nacht lauschte, jedoch nichts hörte, als ihren eigenen Atem und das Blut, das ihr in den Ohren rauschte. Doch dann erklang zuerst das sanfte Knirschen von Hufen auf Schnee und wenig später erblickte Nanouk am unteren Hang die Silhouette eines Pferdes. Irritiert griff sie nach dem Silberdolch an ihrem Gürtel, stellte aber fest, dass dieser nicht mehr hier war und ihr Herz hüpfte ihr in den Hals.
Aber was auch immer sie sich ausmalen hatte können wurde rasch verdrängt, als sie neben dem Ross einen zweiten Schemen erkannte und nur wenig später trat Ijiraq mit dem Pferd in den Mondschein. Sie beobachtete ihn schweigend, als er mit dem Ross näher kam und schließlich vor ihr auf dem Pfad stehen blieb. Kurz trafen sich ihre Blicke und dann streckte Ijiraq die Hand mit den Zügeln nach vorne, damit sie diese greifen konnte. Nanouk jedoch zögerte und versuchte ihre verräterischen Gedanken im Keim zu ersticken. Jene, die ihr rieten ohne eine weitere Überlegung auf das Pferd zu steigen und den Weg auf der Stelle zurück ins Tal zu nehmen.
Sie schluckte nervös, hob erneut den Blick und fand die dunklen Augen des Gestaltenwandlers amüsiert auf ihrem eigenen Gesicht wieder.
»Du darfst es reiten«, wandte er sich an sie und ließ schließlich die Zügel fallen, als Nanouk nach wie vor zögerte, diese an sich zu nehmen. Das Pferd ließ ein leises Schnauben hören, blieb jedoch gehorsam wo es war, als beunruhigte es die schauderhafte Präsenz des bösen Geistes nicht im Geringsten.
Nanouk ertappte sich dabei, wie sie erneut nach dem Dolch suchte, ihre Hände aber nach wie vor nichts als den glatten, weichen Pelz des weißen Wintermantels ertasteten.
»Du wirst es sogar reiten müssen«, fuhr Ijiraq nach kurzem Zögern fort. »Denn ich benötige nun meinen Mantel wieder.«
Nanouk riss sich von seinem Antlitz los und blickte an sich herab, strich durch das Fell. »Warum? Ihr friert doch gar nicht.«
»Stimmt. Doch ohne ihn am Palast zu erscheinen würde mich in Verlegenheit bringen. Vor allem wegen der Kleinigkeit in meiner Tasche.«
»Was war in der Tasche?«, fragte Nanouk und erinnerte sich an die dunkle Kälte in ihren Knochen. Als versinke sie auf den Grund des Ozeans.
Doch daraufhin hob Ijiraq bloß seine Hand und legte ihr sanft, aber eindringlich einen Finger auf die Lippen, sodass Nanouk überrascht ohnehin keine Worte fand.
»Darüber kann ich nicht sprechen. Denn jedes meiner Worte wird auf die Waagschale gelegt, dessen Richter gegen alles steht, das ich bin«, raunte er leise, als er sich zu ihrem Ohr beugte und Nanouk unmissverständlich klar wurde, dass diese Worte weit jenseits dessen lagen, was er erlaubt war zu sagen. Und das jagte ihren Puls erneut in die Höhe.
»Hinter den Mauern bist du in Sicherheit, solange Adassett und Saghani ihre Pflichten erfüllen«, fuhr er dann in normalem Tonfall fort und unterband dadurch jegliche Fragerei seitens Nanouk, welche dieses widerstrebend hinnahm. »Nimm das Pferd und reite zum Tor. Und versuche nicht«, er brach kurz ab, um ihr Kinn zu packen und ihre Aufmerksamkeit zurück zu ihm zu lenken, da ihr Blick nun mit erneuter Ungeduld zu dem Ross schwenkte. »Versuche nicht das Pferd zu stehlen und damit alleine ins Tal zurück zu reiten.«
Nanouk schluckte, als sie sich der Wahnwitzigkeit dieses Unterfangens langsam bewusst wurde. Natürlich hatte sie vor gehabt das Pferd in Abwesenheit Ijiraqs sofort umzukehren und nach Tallik zu flüchten. Doch nun spürte sie die Warnung in seinen Worten, als sich die Finger um ihr Kinn mehr anfühlten wie die Klinge eines Dolches.
»Du würdest keine zwei Tage im Zittergebirge überleben, völlig allein gelassen, ohne Ziel und Proviant. Du gehörst jetzt dem König und er alleine wird es sein, der dir Auskunft über deinen Verbleib am Palast geben kann. Und er ist bei weitem kein gnädiger Herrscher. Lass mich dir daher einen Rat mit auf den Weg geben. Meide seine Feste um jeden Preis dieser Welt.«
Nanouk schluckte, gefesselt von seinem intensiven Blick, der sie auf den Boden zu nageln schien, genau da wo sie stand und sich ihr die Zukunft erschloss, vor der es ihr die vergangenen Tage am meisten gegraust hatte. Eine Sklavin auf der bitteren Residenz des kaltblütigen Winterkönigs, mitten in seinen Fängen, hoch oben am Hals der Welt, verborgen vor jeglicher Gnade des Sommers.
»Ich fange an tatsächlich zu bereuen, dass mich der Eisdämon nicht gefressen hat«, brachte Nanouk hervor und war selbst erschüttert über die Bitterkeit in ihrer Stimme. Selbst, als sie an Qiuqs Ende zurück dachte und das fürchterliche Grauen dieser wenigen Augenblicke das Eis zurück in ihre Glieder drückte, verspürte sie nichts als entmächtigende Angst.
Ijiraq atmete langsam aus und gab schließlich ihr Kinn wieder frei. »Reichlich spät damit, uki. Aber ich bin nicht dein Feind.« Noch nicht, war der Nachsatz, der in seinen Augen aufleuchtete und sich zwischen sie drängte wie eine scharfe Klinge.
Seine Stimme war fester, als er erneut das Wort erhob. »Wenn du durch das Tor reitest, dann füge dich. Verlange nach Arbeit, lass nicht zu, dass sie dich zur Seite schieben. Ich werde mich deiner annehmen, so schnell ich es kann. Doch meine Pflichten am Hof sind mannigfaltig.«
Er griff nach einer Strähne ihrer schwarzen Haare, die ihr durch die sanften Windböen ins Gesicht gewischt worden war und schob sie ihr langsam hinter das Ohr. Dort, wo seine Finger ihre Wange berührte, breitete sich ein warmes Kribbeln aus und Nanouk hielt den Atem an. Sie versuchte sich seine Worte einzuprägen, doch klangen sie so drängend und verwirrend zugleich, dass sie Schwierigkeiten hatte die Bedeutung hinter den Warnungen zu entschlüsseln.
»Warum kann ich nicht mit Euch mitkommen?«, fragte sie mit wild klopfendem Herz und der Gestaltenwandler lächelte traurig.
»Weil ich dich nicht an den Ort bringen kann, an den ich zu gehen habe. Und weil der König bereits nach mir ruft. Oh ja«, nickte er sanft und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Da gibt es eine Bindung, die mächtiger ist, als mein Wille. Nur hier draußen«, er ließ seinen Blick über den stillen, durch den Nachthimmel erhellten Wald schweifen, »hier draußen kann ich mich seinem Blick gelegentlich entziehen.«
»Was bindet Euch? Was sucht Ihr? Was sagtet Ihr zu mir, auf der -«
Er unterbrach sie mit einem scharfen Schütteln seines Kopfes und Nanouk verstummte augenblicklich. Das blutrote Funkeln in seinen Augen wurde mit einem Mal wieder bedrohlich.
»Dränge mich nicht dazu, dir Antworten zu geben, denn je mehr ich preisgebe, desto schneller schreitet euer aller Untergang voran.«
Nanouk starrte den Gestaltenwandler stumm zurück an, unfähig seinem Blick zu entgehen, in dem sich nun eine resignierte Bitterkeit spiegelte, die sie auf seltsame Weise berührte.
»Wenn ich dir meinen Mantel nehme, so werden die Schmerzen zurück kehren«, erklärte er ihr dann schnell und ein letztes, warnendes Kopfschütteln hinderte sie daran weiter nach zu bohren. »Deine Wunden sind allesamt noch da, deshalb möchte ich mich bereits nun entschuldigen für das, was du gleich durchleben musst.«
Beunruhigt griff Nanouk nach dem Pelzkragen des Mantels und war versucht, ihre Hände unter das Fell zu ziehen und zu ertasten, wovon Ijiraq sprach. Doch er griff nach ihren Armen und drückte sie an ihre Seiten.
»Wenn ich dir einen allerletzten Rat mit auf den Weg geben kann ... Halte dich fern von Saghani, meide Siku und was du auch tust – traue Adassett nicht über den Weg.«
»Sind dies-«
»Naos engste Vertraute, seine mächtigsten Diener, doch allesamt Schlächter.«
Nanouk wollte gerade zu einer weiteren Frage ansetzen, von denen ihr hunderte durch den Kopf gingen, als Ijiraq ruckartig den Kopf hob und hin zum Palast starrte, als hätte er jemand seinen Namen rufen gehört. Er stieß den Atem in einer einzigen, hektischen Geste aus und fing ohne Umschweife damit an, die Knöpfe des Mantels zu öffnen.
»Es tut mir Leid, meine Zeit ist um, ich werde erwartet«, sprach er schnell und mit einer Unruhe in der Stimme, die auch Nanouk sofort ins Blut überging. Sie spürte ihre Hände zittern, als sich die über die vergangenen Tage gedämpfte Furcht schlagartig wieder nach oben drängte.
»Was soll ich denn machen? Wohin soll ich reiten?«, stammelte Nanouk, doch Ijiraq zischte nur durch zusammen gebissenen Zähne.
»Wenn ich nicht zu dir finde, wenn ich verhindert werde, wende dich umgehend an Anuri, hast du verstanden? Verweile nicht in Wallheim, geselle dich nicht auf die Feste des Königs und gehe keinen Handel ein. Vertraue niemandem, denn du hast dort oben keine Freunde.«
Nanouk nickte, völlig neben sich und versuchte mehr Zeit zu schinden, doch die Finger des Gestaltenwandlers waren flink und geschickt und sie spürte förmlich, wie ihm die Zeit durch diese rann.
»Warum sagt Ihr mir das alles? Wo finde ich Anuri?«
Ijiraq schob seine Hände unter ihren Mantel, berührte ihre nackte Kehle und Nanouk zog scharf die Luft durch die Zähne, als der weiße Pelz endgültig von ihren Schultern glitt.
Ein übermächtiger Schmerz schnitt durch all ihre Glieder, dass sie mit einem Aufschrei unter der plötzlichen Last ihres Körpers nach vorne sackte. Es war alles wieder da. Der sengende Kopfschmerz, die brennende Kälte und das heiße, allgegenwärtige Pochen ihres Beines, welches nicht mehr die Kraft besaß, ihr Gewicht zu tragen.
Ijiraq fing sie auf, als hätte er diese Reaktion erwartet, doch drückte sie an den Schultern von sich fort. »Weil ich dieses Mal die Gelegenheit dazu habe. Ich wünschte, ich könnte dir mehr erklären, doch ich muss gehen.«
Nanouk stöhnte und stieß einen Schmerzenslaut aus, der tief aus ihrer Brust kam und diese zusätzlich in Flammen aufgehen ließ. Alles, einfach alles an ihrem Körper fühlte sich zerschunden und erschlagen an, jeder Muskel protestierte unter dem geringsten Kraftaufwand. Sie schluchzte und ließ sich von Ijiraq zu dem nach wie vor ruhig neben ihnen stehenden Pferd führen.
»Nanouk«, sagte Ijiraq beharrlich und griff nach dem Steigbügel. »Du musst aufsitzen.«
»Was habt Ihr mit mir gemacht?«, weinte sie und klammerte sich mit ihren wunden Fingern an den Sattel, merkte gar nicht, dass der Gestaltenwandler nach ihrer Kniebeuge griff und sie nach oben schob.
»Du darfst keine Schwäche zeigen. Der König akzeptiert diese nicht.«
Nanouk presste ein weiteres Stöhnen hervor und ließ sich mit Ijiraqs Hilfe endlich in den Sattel gleiten. Ihre Hüfte protestierte, jede Bewegung ihres rechten Beines sandte ihr eiskalte Wellen des Schmerzes durch den Körper und machten sie blind für ihre Umgebung.
»Na los«, hörte sie Ijiraq noch murmeln und dann setzte sich das Pferd leise schnaubend in Bewegung. Nanouk unterdrückte einen weiteren Aufschrei und atmete flach durch den Mund, als ihr bei jedem Schritt des Tieres erneute Qualen durch das Bein zuckten.
Sie wandte sich bloß einmal kurz um, doch der verschneite Pfad war vollkommen leer. Nichts deutete darauf hin, dass sie bis eben noch Gesellschaft gehabt hatte und sich die Erscheinung des bösen Geistes nicht nur eingebildet hatte.
Ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, als sich die kalte Luft unnachgiebig durch ihre spärliche Wollkleidung bahnte und Nanouk war am Rande ihres Bewusstseins erstaunt darüber, dass das Ross unter ihr auch ohne Richtungsvorgabe den Pfad hinauf trottete, um sie schlussendlich zum Palast des Winterkönigs zu tragen.
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