⫷ Kapitel 10: Von Urahnen ⫸

Nanouk hatte beschlossen auf eine der Tannen zu klettern, während sie auf Ijiraq wartete. Sie fühlte sich in der voranschreitenden Nacht nun vollkommen schutzlos und fand sich in der aufwühlenden Situation wieder, dass sie die widersprüchliche Sicherheit, die seine Anwesenheit dargestellt hatte, vermisste. Sie sollte schreiend vor ihm davon laufen, jetzt da sie wusste, was er war. Und obwohl sie ihr Bauchgefühl durchaus dazu drängte, beharrte ihr Verstand darauf, dass Ijiraq, wenn er ihr schaden hätte wollen, dies bereits getan hätte. Er selbst hatte mit dem Beweis ihrer Unversehrtheit argumentiert, doch das musste noch lange nichts heißen.

Wer garantierte ihr, dass es nicht noch mehr böse Geister gab, die wie der Gestaltenwandler durch die eisigen Schneisen des Gebirges streiften und vielleicht weniger Nachsicht zeigten? Nicht dem Winterkönig unterstanden und daher mit ihr verfahren konnten, wie es ihnen ihre hungrigen Mägen diktierten? Man konnte schon von weitem erkennen, wo sie sich befand, beim Hinaufklettern auf die Tanne hatte der weite Mantel den Schnee von all den Ästen gefegt und ihre Spur führte unmissverständlich zu diesem Baum.

Nanouk stieß die Luft nervös aus und rührte sich trotzdem nicht. Erst, als sie den Mond durch das Geäst auf dem Schnee glitzern sah, fing sie an ungeduldig zu werden. Sie begann sich durch die Taschen des Mantels zu wühlen, von denen es erstaunlich viele gab. Jedes Mal, wenn sie meinte die letzte entdeckt zu haben, erfühlten ihre Finger einen weiteren Knopf, den es zu öffnen galt. Wenn Ijiraq tatsächlich an den Winterkönig gebunden war, bedurfte es mit Sicherheit einer mächtigen Bindung, um so einen bösen Geist zu halten. Und solcherlei Bindungen mussten in der Welt der Sterblichen stets an etwas materielles geknüpft sein.

»Vergiss niemals, wie wichtig es ist, den Geistern ihre Gaben zu bringen, kleiner Bär. Diese Bindungen in ihr Reich sind von bedeutender Wichtigkeit für alles, was noch kommen wird.«

Nanouk schluckte, als sie an die Lehren ihres ataaq dachte. Für alles, was noch kommen wird. Ihre Finger glitten über einen schmalen Spalt direkt über ihrem Herzen und ihr stockte kurz der Atem, als sie durch den weißen, dichten Pelz einen Gegenstand erfühlte. Sie war sich beinahe sicher, dass dieser zuvor noch nicht da gewesen war und gespannt befühlte sie die kleine Schachtel durch den Mantel.

Sie schob ihre Finger in die kleine Tasche und mit einem Mal hüpfte ihr das Herz bis in den Hals. Ihre Finger berührten eine Blechbüchse und auf einmal ergriff eine merkwürdige Kälte ihre Hand. Es war jedoch nicht der Biss des Winters, welcher sie irritiert die Luft zwischen die Zähne ziehen ließ, sondern eine stechende, dunkle Kälte, die sich in ihren Knochen selbst auszubreiten begann und die feurige Wärme aus diesen vertrieb.

Nanouk ächzte, als sich die Kälte betäubend ihre Hand entlang zog und in ihrem Kopf ein hoher, klagvoller Schrei erklang.

»Wie erregend es auch ist, mein Innerstes nach außen zu kehren, schlage ich vor, du lässt deine Finger davon.«

Die Stimme des Gestaltenwandlers war völlig aus dem Nichts direkt neben ihr erklungen und keine Sekunde später legte sich seine Hand auf die ihre und zog sie aus der Tasche seines Mantels. Nanouk zuckte heftig zusammen und war noch dabei ihren Atem wiederzufinden, als Ijiraq weitersprach.

»Und wenn du schlau bist, verharrst du still wie eine Füchsin auf der Pirsch.«

Nanouk wagte nicht, sich zu bewegen. Sie erkannte seine Silhouette aus dem Augenwinkel und spürte dann, wie sich ihr ein Arm um die Schultern legte, wie der dazugehörige Körper langsam zu einem wahrnehmbaren Gewicht auf dem Ast neben ihr wurde und ein zweiter Arm nach vorne durch die Zweige der Tanne deutete. Als Ijiraq das nächste Mal sprach, war seine Stimme unendlich leise und sie spürte seinen Atem an ihrer Wange kitzeln.

»Dort vorne zwischen den Bäumen schreitet ein Urahn der Geweihträger. Bleib still und lass sie nicht deine Angst fühlen.«

Nanouk schluckte mit wild klopfendem Herzen und wunderte sich, warum sie vor einem Ammenmärchen Furcht verspüren sollte, doch hielt den Mund. Ein Ammenmärchen saß direkt neben ihr auf dem Ast und hatte seinen Arm um sie geschlungen, sodass sie einen feinen Geruch, anders als Schnee wahrnahm. Eine Note, die sie zuvor auch schon an ihm haften gemerkt hatte. Eine warme Brise in der sich der Frühling durch einen sanften Blumenduft ankündigte.

»Ich hatte keine Angst, ehe Ihr es nicht erwähnt hattet«, gab sie ebenso flüsternd zurück und versuchte ein wenig mehr Abstand zwischen sich und das Monster zu bringen, scheiterte jedoch. »Außerdem dachte ich, bräuchte ich nichts anderes zu fürchten, als Euch.«

»Hmm«, summte der Mann nachdenklich und legte den Kopf schief, sodass Nanouk einige seiner Strähnen ins Gesicht fielen. »Das ist ein Ahne der Tiere, uki. Die uralte, majestätische Magie der Ersten fließt durch ihre Adern. Damit spaßt man nicht. Selbst ich nicht.« Er artikulierte jedes Wort mit einer schaurigen Demut, die Nanouk schließlich tatsächlich reglos verharren ließ.

Es gibt keine Ersten, denn es gibt die Magie der Ewigen gar nicht, drängten sie ihre eigenen Gedanken. Nanouk spürte den Gestaltenwandler neben ihr leise Lachen und folgte seinem ausgestreckten Arm mit dem Blick, bis sie zwischen den Ästen hindurch glaubte eine gigantische Silhouette zu erkennen, die lautlos und langsam durch den Wald glitt.

Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto deutlicher wurde der Schemen, bis sie irgendwann ein feines Schimmern erkannte, als würde das Tier von innen heraus glühen. Sanft und unmissverständlich. Feines, goldenes Licht stieg aus jedem Fellbüschel des mächtigen Tieres, rieselte lautlos zwischen die Hufe des Urahn und ließ dort Gräser und Blumen sprießen.

Nanouk hielt die Luft an, als sie mitansah, wie sich die Pflanzen in Zeitraffer von Samen zu voller Blüte und anschließend wieder in welkes Laub wandelten, welches schließlich ohne jegliche Spur verblasste. Im Geweih, welches keinem Tier ähnelte, das sie kannte, wanden sich Ranken und knorrige Äste, das Geweih bestand aus diesen und in den Verästelungen trug der Urahn eine Krone aus Blättern und Blüten. Jedoch lösten sich die Kelchblätter der Blüten, sanken zwischen den trägen Schritten des mächtigen Tieres zu Boden und lösten sich schließlich in schwarzen Nebel auf.

Der Urahn wirkte als hätte er Schmerzen, als fehlte ihm etwas, denn Nanouk wusste instinktiv, ohne jemals zuvor so ein majestätisches Tier gesehen zu haben, dass die Blüten nicht welken sollten und die Blätter nicht leblos zu Boden sinken durften. Ihr stand der Mund leicht offen, als sich eine tiefe Traurigkeit in ihr Herz grub, welche die stille Ehrfurcht ablöste, die sie bis eben noch verspürt hatte.

Der Urahn kam immer näher, geräuschlos wie die Nebelgeister auf den zugefrorenen Seen zwischen den Stämmen hervor glitten, bis das mächtige Tier nur einen Steinwurf entfernt an dem Baum vorbei zog, auf dem sie saßen.

»Was machen sie hier?«, hauchte Nanouk atemlos und merkte, dass ihr die Tränen gekommen waren. So heimlich wie sie konnte, blinzelte sie diese fort und wischte sich mit dem Daumen über die Lider.

Ijiraq war daraufhin für einige Augenblicke lang still, als er gemeinsam mit ihr beobachtete, wie der Urahn von Dannen zog. Erst dann antwortet er ihr, mit einer Stimme, in der sich ihre eigene Traurigkeit spiegelte.

»Sie suchen nach demjenigen, der ihre Magie stiehlt. Sie sterben. Einer nach dem anderen geht verloren.«

Nanouk kroch trotz Wintermantel ein kaltes Prickeln über den Rücken. »Also suchen sie den Winterkönig.«

Auch daraufhin schwieg Ijiraq und Nanouk spürte nur seinen Atem gegen ihren Hals streichen. »Gewissermaßen«, fing er dann leise an und ließ den Arm sinken, als sich das sanfte Glühen zwischen den Nadelbäumen verlor. »Gewissermaßen hast du Recht.«

»Was passiert, wenn sie sterben? Warum tut der Winterkönig das?«, wollte sie wissen und über das Gefühl der Trauer legte sich erneut die bittere Wut.

»Ein Kind, seiner Heimat beraubt, sucht nach dem Weg nach Hause. Doch findet den Weg blockiert. So tut es das einzige, wozu ein Kind fähig ist. Es schlägt um sich und stiehlt, was es denkt rechtmäßig besitzen zu müssen.«

»Der Winterkönig ist ... ist ein Kind?«

Ijiraq summte sanft. »Nein, der Winterkönig ist kein Kind in deinem Sinne. Wenn der letzte Urahn stirbt, der letzte Rest der Magie aufgezehrt wurde und die kostbaren Adern des Landes trocken fallen, so verlässt der Segen der Ewigen endgültig das Land.« Seine zeitlose Stimme war erfüllt von einer erschlagenen Lethargie, die auch Nanouks Herz wieder schwer werden ließ.

»Was bedeutet das?« Aber Nanouk wusste bereits was es bedeutete. Was es für sie alle in den Tälern bedeutete. Der Winterkönig missbrauchte seine Macht, stahl die Kraft der Urahnen und raubte dem Land nicht nur seine Ressourcen sondern auch jegliches Bisschen an Hoffnung und Heiterkeit. Und nun stiehlt er auch Kinder.

»Dass es gilt zu finden, was den Altären, den Urquellen der Magie, einst genommen wurde«, erklärte ihr der Gestaltenwandler.

Du hast etwas an dir, das mir gehört, glitt mit einem Mal eine sanfte Eingebung durch Nanouks Geist. Ijiraq sprach zu ihr, jedoch war seine Stimme so leise dabei, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich nur einbildete dass er das sagte, oder ob es ihr selbst durch den Kopf ging. Irritiert runzelte sie die Augenbrauen und wollte zu einer erneuten Frage ansetzen, als ihr der Mann etwas unter die Nase hielt.

Nanouk hatte ihren Hunger vollkommen vergessen und spürte erst jetzt, wie ihr Magen schmerzhaft krampfte. Der Gestaltenwandler reichte ihr einen kleinen runden Laib Brot, der in Stoff gewickelt immer noch dampfte.

»Iss. Und dann solltest du schlafen, denn ich muss heimkehren, so sehr es mir missfällt.«

Nanouk biss ohne Widerworte in das karge Mahl, schlang das warme Brot hinunter und wunderte sich bloß am Rande, woher der Dämon dampfendes Brot gezaubert hatte.

»Wie soll ich schlafen?«, nuschelte sie, den Mund voll weichem Brot. »Im Gehen vielleicht?«

Ijiraq lachte leicht auf und sie wich endlich die Handbreit vor ihm zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Du könntest dich einfach fallen lassen und darauf vertrauen, dass ich dich fange.«

Nanouk schluckte und schüttelte den Kopf, ein Gähnen unterdrückend. »Ganz sicher nicht. Damit Ihr doch noch ein Schlupfloch in Eurem Eid an den Winterkönig findet und mich sterben lasst? Oder gar selbst auffresst?«

Ijiraqs Augen funkelten tiefrot im blassen Mondlicht, das durch die Nadeln fiel und jagte ihr selbst nach seinem umsichtigen Verhalten einen Schauer über den Rücken.

»Du hast leider keine andere Wahl. Aber sei dir bewusst, dass mein Schwur dem König gegenüber stärker ist, als jegliches Vertrauen, das du in mich stecken könntest. Ich verspeise dich nicht, uki.«

Nanouk unterdrückte ein weiteres Gähnen und merkte erst jetzt, dass ihre Muskeln merkwürdig schlaff wurden. Mit einem Mal kämpfte sie gegen die Müdigkeit an, versuchte zu verhindern, dass ihr die Augen zu fielen und mit einem letzten, wenig erfolgreichen Versuch, drückte sie den Gestaltenwandler von sich fort.

»Wehe ... «

Eine taumelnde Schwerelosigkeit umfing sie und Nanouk verlor noch in der selben Sekunde das Bewusstsein, hoffend, dass er nicht gelogen hatte und sie tatsächlich auffing.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top