Kapitel 29

Allie

Ich war nervös, das konnte ich nicht leugnen. Es passierte schließlich nicht jeden Tag, dass ein Freund einen darum bat, mit ihm und seiner Großmutter ins St. Mungo zu gehen, um seine Eltern zu besuchen, die sich nicht an ihn erinnern konnten.

Zumal ich mir schon Einiges von Nevilles Großmutter hatte anhören dürfen, seit die beiden mich abgeholt hatten. Meine Haare saßen nicht richtig, ich hätte mich anständiger kleiden sollen und sowieso war es repsektlos von Neville, jemanden dort mit hinzunehmen, der nicht der Familie angehörte.

Meine Nervosität war also durchaus gerechtfertigt.

"Tut mir leid wegen meiner Großmutter", flüsterte Neville, als wir den Gang des Krankenhauses entlanggingen. "Schon in Ordnung. Ich kann sie verstehen", winkte ich seine Besorgnis ab und lächelte schwach.

Das St. Mungo war von außen recht unauffällig und war für Muggel als altes Kaufhaus getarnt. Angeblich war es wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, weshalb die meisten Muggel es nicht weiterbeachteten. Von innen war es zwar nicht ganz so heruntergekommen, wie man von außen meinen könnte, doch außer, dass es durchaus durch seine fünf Stockwerke imponieren konnte, war es nicht weiter auffällig.

"Wir müssen in den vierten Stock, zur Janus Thickey-Station", erklärte Neville mir, woraufhin ich nickte. Mein Herz fing an, noch schneller zu schlagen, als es das sowieso schon tat. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wenn wir erst einmal bei Nevilles Eltern waren: Sollte ich irgendetwas sagen? Sollte ich Neville einfach nur Beistand leisten und nichts tun? Mein Kopf füllte sich mit Fragezeichen.

Langsam betraten wir den großen Krankensaal. Dort befanden sich mehrere Betten, von denen manche mit Patienten belegt waren. Andere Patienten liefen durch den Saal oder saßen auf Stühlen und beschäftigten sich mit dem Lesen von Büchern. Einer von den umherlaufenden Patienten war mir ein durchaus bekanntes Gesicht: Gilderoy Lockhart, der in meinem zweiten Schuljahr in Hogwarts Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtet hatte. Offenbar hatte er sich nicht von seinem Gedächtniszauber erholt und ich bezweifelte, dass es noch was werden würde.

Neville und seine Großmutter steuerten auf zwei Personen am anderen Ende des Saales zu. Sie saßen am Fenster, die Frau sah verloren aus dem Fenster, der Mann versuchte offenbar, ein Puzzle zu lösen, scheiterte aber mehrere Male daran, zum ersten Teil das passende zu finden. Sie beide sahen alt aus, besonders die Frau: Ihre Haare waren weiß und obwohl sie wohl einst dasselbe freundliche und runde Gesicht wie Neville gehabt haben musste, wirkte sie eingefallen, als wäre sie bereits siebzig.

Mitleid stieg in mir auf. Ich kannte die beiden nicht, doch niemand sollte ein solches Leid erfahren müssen, um so auszusehen.

"Mum? Ich bin es, Neville", flüsterte Neville der Frau ins Ohr. Seine Großmutter schüttelte den Kopf. "Sie erkennt dich nicht, Junge."

Neville störte das jedoch nicht sonderlich. Stattdessen setzte er sich neben seine Mutter an die Fensterbank.

Seine Großmutter setzte sich stattdessen neben Nevilles Vater. "Das Teil gehört dahin, Liebling", erklärte sie ihm, führte seine Hand, damit das nächste Puzzleteil an der richtigen Stelle landete.

Und ich stand verloren da und wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Es fühlte sich weder richtig an, jetzt zu Neville und seiner Mutter rüberzugehen, noch erschien es mir angemessen, mich seiner Großmutter und seinem Vater anzuschließen.

Also setzte ich mich auf einen der Stühle in dem Saal und sah zu Neville und seiner Mutter rüber. Er streichelte sanft über ihre Hand, während sie weiterhin verloren aus dem Fenster sah. Nevilles Blick war traurig, gleichzeitig schien er aber froh, hier zu sein. Verständlicherweise.

Er konnte seine Eltern zwar jederzeit im St. Mungo besuchen, doch wie ich jetzt selbst sah, reagierten sie nicht. Sie wussten nicht, wer er war.

Ich konnte mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie es wohl sein könnte, wenn meine Eltern mich nicht erkennen würden. Wenn sie nicht wüssten, wer ich war. Der Schmerz, die Verzweiflung, die Neville fühlen musste.

Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihm den Schmerz genommen. Ihn auf mich genommen, damit er von ihm befreit sein würde. Und wenn es nur für einen Moment gewesen wäre. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, damit seine Eltern sich zumindest für einen Moment an ihn erinnert hätten, hätte ich sie genutzt.

Neville bemerkte offensichtlich, dass ich nicht so recht etwas mit mir anfangen zu wusste, denn er drehte sich zu mir um und winkte mich zu sich.

Unsicher stand ich also auf und ging zu ihm.

Er deutete mit seiner Hand auf eine freie Fläche neben sich. "Setz dich doch."

Ich tat also genau das.

"Mum? Das ist Allie. Eine Freundin von mir. Ich möchte sie dir gerne vorstellen", erklärte Neville seiner Mutter mit sanfter Stimme, deutete dabei auf mich. Es war in diesem Moment, in dem sich Nevilles Mutter zum ersten Mal, seit wir hier waren, regte.

Sie sah Neville und mich an, legte anschließend den Kopf schief. Neville lächelte sie leicht an, während ihr Gesichtsausdruck sich nicht veränderte. Sie hatte denselben starren Blick wie vorhin auch.

Neville sah mich an. "Alles okay bei dir?" Ich setzte ein Lächeln auf, versuchte auf diese Weise zu verbergen, dass ich in diesem Moment nichts als Mitleid empfand. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, dass ihm das in diesem Moment nicht sonderlich weitergeholfen hätte.

"Alles gut. Die viel wichtigere Frage ist: Wie geht es dir?"

Neville schüttelte den Kopf. "Schon okay. Ich bin dir sehr dankbar, dass du heute mitgekommen bist. Das bedeutet mir wirklich viel, Allie."

Er schien den Tränen nahe. Und ohne weiter drüber nachzudenken, griff ich nach seiner Hand und drückte sie kurz. Er erwiderte den Händedruck, lächelte schwach.

In diesem Moment stand Nevilles Mutter unvermittelt auf und steuerte auf ein Bett zu. Sie griff in die Schublade eines Nachtschrankes neben dem Bett und umschloss etwas mit ihrer Hand. Anschließend kam sie zurück zur Fensterbank.

Ich konnte nicht erkennen, was sie in ihrer Faust hielt. Doch Nevilles Blick ließ erahnen, dass er genau wusste, was gleich passieren würde.

Nevilles Mutter griff nach Nevilles Hand und legte etwas in sie hinein. Er wollte gerade etwas sagen, da drückte sie auch mir etwas in die Hand.

Ich sah hinunter.

In meiner Hand befand sich ein Stück Papier, in das wohl einst ein Bonbon gewickelt gewesen war.

Ich sah Neville an, der genauso verwirrt schien, wie ich es war.

Doch anstatt mich in meiner Verwirrtheit zu verlieren, sah ich Nevilles Mutter an. "Danke."

Nun war Nevilles Großmutter neugierig geworden, denn sie flüsterte Nevilles Vater etwas zu, kam dann auf uns drei zu. Auch sie schien verwirrt über das Bonbonpapier in meiner Hand.

Neville hatte seine Verwirrtheit mittlerweile wohl abgelegt, denn er lächelte jetzt etwas breiter als vorher schon. Seine Großmutter und er sahen sich gegenseitig an, ehe Nevilles Großmutter sich räusperte und mich ansah.

"Vielleicht war es doch nicht so falsch, dass Neville dich mitgenommen hat."

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