XV

Die Einladung und die Gespräche im Hause Lennart blieben für Fitzwilliam Darcy nicht ohne Nachwirkung auf seine Überlegungen.

Wenngleich Miss Sophie Lennart nicht von gesellschaftlichen Ansehen wie er selbst war, so musste sich Darcy eingestehen, dass Miss Sophie durchaus einer angesehenen Familie entstammte. Eine Familie die sich zudem eines augenscheinlich starken familiären Zusammenhaltes erfreute.

Auch wenn das Vermögen und der Titel der Lennarts wohl auf die Zeit vor dem jetzigen Familienoberhaupt zurückzuführen ist, so schätzte es Fitzwilliam Darcy, dass Sir Viscount Albert Lennart ihm gegenüber die Hintergründe in einem vertraulichen Gespräch offenlegte.

Je mehr sich Fitzwilliam Darcy darüber Gedanken machte, so konnte derlei Offenheit letztlich nur bedeuten, dass Sir Lennart gegenüber Darcy einerseits ehrlich sein wollte und zudem des Weiteren auch ein deutliches Zeichen geben wollte, sollte sich Darcy für seine Tochter, Miss Sophie Lennart, interessieren.

Bislang hatte es Darcy an Offenheit in dieser Angelegenheit noch fehlen lassen- zumindest jedoch hatte Fitzwilliam Darcy es als Gentleman gemieden, bei Miss Sophie etwaige Hoffnungen zu stärken.

Doch bekundete Miss Sophie Lennart auch durch ihr Verhalten, soweit ihr dies als junge Dame gestattet und angemessen war, dass auch sie ein Interesse an Mister Darcy nicht verleugnen konnte.

Stets war Miss Sophie daran interessiert, Darcy zu Gesprächen zu gewinnen, wohl auch um sein Wesen besser ergründen zu können. Und sie bezeugte zudem auch durch häufige direkte Blicke und kleine Gesten der Aufmerksamkeit eine anzunehmende Zuneigung, wenngleich auch ihr durch die gesellschaftliche Etikette versagt blieb, über ihre eigenen Gefühle ihm gegenüber oder gegenüber Dritten deutlicher werden zu können.

So blieb wohl Miss Sophie Lennart, sollte sie denn Empfindungen für Darcy hegen, nur der Weg gestattet, den man bereits beschritten hatte. Miss Sophie konnte auf ihre Mutter Einfluss genommen haben, um einen Besuch von Darcy in ihrem Hause zu erreichen. Hierbei kam dem Colonel, wie er letztlich bereits zugegeben hatte, auf Drängen seiner Gemahlin Lady Margarete die Rolle des Überbringers dieser Bitte beider Damen zu. Denn nur nach neuerlicher Aufwartung und im Wege der Einladung durch das Familienoberhaupt war ein solcher Besuch, gesellschaftlich als auch um Distanz zu belegen, gestattet und nunmehr auch ermöglicht worden.

So sich damit alle an die Etikette gehalten hatten, blieb Darcy nur der Rückschluss auf ein Interesse von Miss Sophie, insofern nicht deren Mutter die Triebfeder war, um eine Verbindung zu schaffen.

Derlei Gedankenspiel war ermüdend, jedoch durchaus angemessen, wollte man solch Komplexitäten erkennen.

Und Fitzwilliam Darcy beobachtete gern das Verhalten der ihn umgebenden Menschen, um auf deren Charakter gewisse Rückschlüsse zu gewinnen. Er war jedoch stets darauf bedacht, es nicht zu deutlich zu zeigen und tat oftmals unbeteiligt. Diese bewusst gesuchte Distanz ließ ihn vielleicht zuweilen abwesend und unnahbar erschienen. Doch nur so war es Darcy möglich, das wahrhafte Wesen mancher Leute zu ergründen.

Und wo konnte man sich vortrefflicher darin üben, als in einer Stadt wie London. London war nicht nur ein Schmelztiegel aller Schichten der Gesellschaft- es war auch ein Sammelbecken dessen, was man zu ergründen suchte.

Um seine Müdigkeit über den Mittag zu überbrücken und sich an frischer Luft abzulenken, schien es Darcy angebracht, diesen schönen sonnigen Tag ab dem Mittag dort zu verbringen, wohin es wohl viele Menschen ziehen würde- im großen westlichen Park der Stadt.

Das angenehme Wetter lockte viele Familien aus ihren Londoner Domizilen hervor und in den Park hinaus.

Besonders diejenigen Schichten der Bevölkerung, welche nicht damit beschäftigt sein mussten, sich durch Arbeit ihr Auskommen verdienen zu müssen, um zuzusehen, wie man über den Tag kam- die gehobene Schicht der Begüterten und Aristokraten.

Diesen Familien lag es oftmals sehr am Herzen, sich an Tagen wie diesem öffentlich zu zeigen.

Und selbst ein Fitzgerald Darcy verschloss sich nicht, die Wärme des Tages in einem Park genießen zu wollen. Nicht um selbst neue Bekanntschaften zu machen, vielmehr um diejenigen Leute zu beobachten, denen es nur allzu sehr danach gelüstete.

Zudem erhoffte sich Darcy von einem Besuch des großen Hyde Park, neben einer Ablenkung auch Momente von klarer gedanklicher Ruhe. Hierdurch gedachte er- wie so oft, wenn er danach strebte- über gewisse Entscheidungen seines Lebens mehr Gewissheit zu finden. Kein noch so abwegiger oder verloren wirkender Aspekt durfte nach Möglichkeit außer Acht gelassen werden, wollte man klug und weitblickend entscheiden.

Darcy hatte anspannen lassen und wurde bis zum südlichen Rain des Parks gefahren, hier gab es gute und weitläufige Stellplätze für Kutschen und guten Zugang zum Park.

Um verwirrende Gedankenspiele aus dem Kopf zu bekommen flanierte Darcy eine Zeit lang allein durch den Park, um letztlich von leidigen Hunger getrieben zu dem Platz zurückzukehren, welchen er sich als Picknick- Gelegenheit bestimmt hatte.

Ein Diener hatte dort unter einem Baum einen Schemel und eine Decke vorbereitet, wo das mitgebrachte Essen zu sich genommen werden konnte. Etwas abseits der Hauptwege des Parks am Langen See hatte Darcy hier abgeschiedene Ruhe- gleichwohl die Möglichkeit lohnenswerter Beobachtungen.

Einzelne Gentlemen schritten auf den Wegen einher. Aufmerksam beobachteten sie entgegenkommende Herren oder auch Familien. Ob sie Anschluss suchten oder jemanden erwarteten konnte Darcy nur vermuten.

Jedenfalls zeigte eine Mehrzahl der Herren ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit- insbesondere, wenn sich Damen in Gruppen der Passanten befanden.

Dies Interesse erhöhte sich dem Anschein nach um ein Vielfaches, wenn die Damen jung waren und ohne erkennbare Bindungen an einen Herrn ihrer Gruppe, was wohl nahelegte oder den folgernden Schluss zuließ, dass diese jungen Damen heiratsfähigen Alters noch zu vergeben waren.

Manche der jungen Damen reagierten ihrerseits durch Blicke oder Drehen ihrer Sonnenschirme- und dies nicht nur, um sich ihre gesunde Blässe zu erhalten.

Es schien Darcy fast wie ein Spiel jugendlicher Leidenschaft zwischen einigen Passanten.

Da waren zum Beispiel die zwei Familien, welche sich- wie Darcy auch- am Kutschenplatz hatten absetzen lassen, um von dort aus ihren Spaziergang zu beginnen. Die zwei Herren als Familienoberhäupter schritten im Gespräch vertieft voran, gefolgt vom Sohn eines der Herrn mit langen Koteletten und dickem Schnauzbart. Die Mütter folgten sodann. Hiernach flanierten die drei jungen Damen der zwei Familien, wobei anzumerken ist, dass zwei der jungen Damen bindungsfähigen Alters waren und sich hinter der kindlichen Schwester abfallen ließen.

Dies gab den zwei jungen Damen die Gelegenheit mit zwei mit zwei nachfolgenden jungen Gentlemen einige Blicke zu geben und so Vertraulichkeiten auszutauschen, ohne die Eltern oder Geschwister daran teilhaben zu lassen. Das Verhalten der Damen als auch der zwei jungen Männer war hierbei auffallend kokett, zumal auch diese zwei Gentlemen alles taten, um es den zwei jungen Damen an Interessenbekundungen gleich zu tun. So waren innerhalb kurzer Zeit schon viele Blicke ausgetauscht worden. Und obgleich Einer der jungen Männer bereits mit Hand am Zylinder gegrüßt hatte, wiederholte er jedes Mal erneuernd seinen Gruß in dieser Form, wenn die Damen zurückblickten.

Darcy erkannte hier das durch Verhalten offen zur Schau gebrachte Höflichkeitsbekunden, die über das erforderliche oder auch notwendige Maß der Etikette hinweg bis in die Lächerlichkeit abgetrieben wurde. Solch Verhalten schickte sich nicht und wirkte aus Darcys Empfinden aus der Ferne einfach nur unangemessen grotesk.

Doch warum handelten die jungen Damen und Herren so absonderlich. Sollte sich darin ein Wunsch nach Geborgenheit und Freundschaftsabsicht als Eckpfeiler einer erwünschten Beziehung und Verbundenheit ableiten lassen und in solch Verhalten begründet sehen?

Für den wahren Gentleman war solch Verhalten kaum nachvollziehbar.

Doch warum schenkten dann die jungen Damen dennoch ihre Aufmerksamkeit, wobei doch erkennbar schien, dass diese zwei Herren noch nicht in der Lage schienen, notwendige oder richtige Etikette zur Schau zu stellen und stattdessen possenhaft schon daran zu versagen? Sollten diese Damen schon von derlei Verhalten angetan sein- und danach sah es hier aus, so würden sie sicherlich jeden weiteren Schritt in eine Beziehung mit solchen Herren bereuen müssen. Eine Wahl auf eine Verbindung zu haben und voller Hoffnung darauf zu sein, müsste doch allein durch solch Scharade von vorn herein aus Vernunft zur Mäßigung führen müssen. Doch diese zwei Damen verhielten sich dennoch unvernünftig, offen auf diese Avancen der zwei jungen Herren durch Koketterie zu reagieren- ja, sie schienen sich sogar daran zu erfreuen.

Gottlob wurde die Scharade unterbrochen. Die zwei älteren Gentlemen waren stehen geblieben und sahen sich nach ihren Familien um.

Prompt endete das Schauspiel der zwei Herren- die zwei jungen Herren mussten, erzwungen von der Situation, die jungen Damen und die Familien insgesamt nun züchtig passieren und das kokette Verwirrspiel endete so schnell, wie es begonnen hatte.

Angesichts dessen stellte sich Darcy selbst die Frage, ob er selbst jemals so fern jedweder Vernunft gehandelt hatte. Wollte er es zuerst verneinen, erkannte er solch Verhaltensabsicht auch bei sich, wenngleich er es zu unterdrücken vermochte und es in seiner ungezwungenen Jugend war.

Doch unvernünftig zu Handeln oder es auch nur zu wollen aus einem situativen Begehren heraus- war dies nicht eine der Wirkungen wahrhaften Wunsches auf eine Bindung zu einer Person? Oder musste man sogleich für Gedanken und Wünsche verdammt werden?

Darcy fand hierfür keine rechte Antwort.

Doch wie spiegelte diese Frage sich in seinem Leben und seiner Suche nach wahrhaftiger Zuneigung wieder?

Im Zusammensein mit Miss Sophie Lennart lag mehr der Ausdruck der Vernunft. Doch in Bezug auf seinen Wunsch, Miss Olivia Janewallis seinerzeit zu begegnen? War es da nicht die gleiche Unvernunft, wie es diese jungen Herren hier so unangemessen zeigten, wenngleich sich dies in anderer Weise wiedergab? War Darcy nicht vom ersten Moment ihres Erblickens wie verändert? Er spürte Wünsche und Empfindungen, wie nur selten zuvor- allein schon Freude und Sehnsucht danach, Miss Olivia Janewallis nur zu erblicken. Nur in der Nähe und Anwesenheit von Miss Olivia hätte Darcy eine Form von Verzauberung erfahren können, ja auch Gefühle, welcher er sich schämte, müsste er sie mir Worten beschreiben oder ausdrücken. Hatte Fitzwilliam Darcy nicht ein Gefühl grenzenlosen Glückes seinem Herzen beschert als er Miss Olivia bei jenem Pferderennen wie erhofft gesehen hatte, wenngleich trotz sinnlosen Errötens alle anderen Gefühle zu unterdrücken waren?

Da all dies in der Menge umherstehender Menschen damals geschehen war, grämte es Darcy bis heute. Und es gab auch keine Worte und Beschreibungen dafür, mit denen sich Darcy hierfür rechtfertigen könnte vor sich selbst. Wer sollte auch solch Wahnsinn in einem Moment zu ergründen in der Lage sein? Und dann all der tiefe Schmerz, welchen er, Darcy selbst, empfand und hinzunehmen hatte, da Miss Olivia eine Verbindung zu einem anderen Gentleman eingegangen war. All die Ungerechtigkeit der Welt, welche sich gegen Darcy selbst gewandt aufzeigte. So überwältigend. Nie hatte er zuvor solch tiefes Schmerz in der Seele empfunden.

Und doch war es zwingend, ja kaum zu ertragen, sich wieder der Vernunft zuzuwenden.

Doch die Auswirkungen all dieser Notwendigkeiten vernünftiger Entschlussfindungen? Waren sie es nicht, die Darcy an einer Beziehung zu Miss Sophie Lennart nun zweifeln ließen?

Wenn ihm selbst nun daran gelegen war, die Vernunft obsiegen zu lassen, so musste er doch nur einen aus seiner Sicht lang aufgeschobenen richtigen ersten Schritt selbst wagen.

Und Darcy sah für sich diesen ersten Schritt darin, mit dem Oberhaupt der eigenen Familie ein Gespräch in Vertraulichkeit führen zu müssen, bevor er Miss Sophie Lennart und ihrer Familie ein deutlicheres Zeichen seiner Absichten geben durfte: es galt, die Tante für sich zu gewinnen. Lady Catherine de Bourgh musste ihr Wohlwollen erklären. Dies war eine Frage der familiären Traditionen und des Anstandes.

Jetzt, da Fitzwilliam Darcy sich darüber im Klaren war, hatte dieser Ausflug in den Park einen für ihn tragbaren Entschluss bewirkt.

Darcy wies den Diener an, das Picknick einzuräumen und dem Kutscher mitzuteilen, dass man zurück in das Stadthaus zu fahren wünsche.

Er selbst genoss- befreit und ohne Absichten auf weitere Beobachtungen- einen kleinen letzten Spaziergang in der angenehmen Sonne im Park.

Darcy schien sich sicher, für sich eine Entscheidung getroffen zu haben, wenngleich sie sich derzeit nur in seiner Gedankenwelt zu erklären hatte.

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