Vorwurf und Versöhnung
"Papa?"
Die hellen Augen strahlten und ein zärtliches Lächeln, das von väterlicher Liebe und unterdrückten Schuldgefühlen gezeichnet war, ließ mich wissen, dass ich richtig lag.
"Mein Sohn", murmelte der Mann mir gegenüber. Dann hörte ich ein leises Rascheln und mit zwei weiteren Schritten stand er direkt vor mir. Nun sah ich auch woher das Rascheln gekommen sein musste, denn hinter meinem Vater ragten schneeweiße Flügel auf, die sich minimal aufspannten. Ich wusste zwar nicht warum sie das taten, doch jetzt hatte ich auch die Antwort auf diese Frage.
"Du bist also wirklich ein Engel." Es kam zunächst ein einfaches, bestätigendes Nicken aber dann sagte er etwas, dass mir auf einen Schlag alles gab, was ich mir wohl je gewünscht hatte.
"Ja, aber gerade bin ich nur dein Vater. Dein Vater, der seinen Sohn in die Arme nehmen will."
Mein Körper reagierte rein instinktiv und ich hob vorsichtig meine Arme, streckte sie aus und schon befand ich mich an einer zugegebenermaßen sehr kalten Brust, die sich dennoch so nach Geborgenheit anfühlte, dass es mir egal war. Erneut ertönte das Rascheln und endlich verstand ich es. Die großen Flügel hatten sich jetzt nach vorn gebogen und ummantelten mich, so als wollten sie alles Schlechte abschirmen. Die Federn waren weich und dort wo sie meine Haut berührten, kitzelten sie beinahe. Ich nahm einen tiefen Atemzug und versuchte den aufsteigenden Kloß in meinem Hals herabzuschlucken.
"Papa", wiederholte ich und erlaubte mir den Luxus, das erste Mal meinen Kopf an seine Schulter zu legen und meine Augen sekundenlang zu schließen. "Ich habe dich vermisst."
"Ich dich auch, Felix. Und ich wünschte wirklich ich hätte nicht gehen müssen. Glaub mir, ich wollte dich nie verlassen."
Er drückte mich ganz sanft von sich und musterte mich nun eingehender. Dann huschte ein trauriges Lächeln über seine Lippen.
"Die kleine Nase und die Sommersprossen hast du von deiner Mutter."
Ich starrte nur zurück und nickte dann langsam. Aber gerade erkannte ich auch so viel Ähnlichkeit zu ihm. Vor allem die Augen und das Haar waren seinem so ähnlich. Immer noch war ich in die Betrachtung des Engels versunken. Fokussierte mich jetzt auf die großen, strahlend weißen Flügel und kurz überkam mich der Drang sie zu berühren. Doch ich wusste nicht, ob das erlaubt war und deshalb unterließ ich es. Stattdessen trat ich selbst einen kleinen Schritt zurück.
"Wieso erst jetzt? Warum hast du deinen Tod vorgetäuscht? Warum hast du diese Entscheidung getroffen." Nun sah er mich wieder an, blaue Augen blickten tief in meine.
"Glaub mir, wenn ich dir sage, ich habe es nicht gern getan und es ist mir ganz sicher nicht leicht gefallen. Ich werde dir all deine Fragen beantworten. Nicht alle sofort." Er hob die Hand, als er sah, dass ich protestieren wollte und auf einmal konnte ich das Gebieterische und Erhabene in dem Engel erkennen. Er duldete keinen Widerspruch und mein Innerstes schien darauf zu reagieren und so schloss ich den Mund wieder und entschied mich dazu, geduldig zu sein.
"Ich werde sie dir beantworten, aber alles zu seiner Zeit."
Verstehend senkte ich den Kopf, trat einen weiteren Schritt zurück und sprach dann.
"Wieso hast du mich und Mama allein gelassen?"
Auch der Engel löste sich aus seiner Haltung, drehte sich um und lief zu der Mitte der Lichtung. Er sah hinauf in die sternenklare Nacht und als er sich wieder zu mir wandte, war ein fast schon unerbittlicher Blick auf seinem Gesicht erschienen.
"Ich hatte keine Wahl. Meine Pflicht dem Himmel gegenüber ist mit nichts vergleichbar. Nicht einmal für die Liebe und eine Familie kann ich meine Verantwortung aufgeben. Ich konnte nicht, darf es bis heute nicht. Es war nie mein Ziel euch im Stich zu lassen aber es war notwendig, um meinen Verpflichtungen nachzukommen. Und seit du auf der Welt bist, musste ich dich auch vor dem Himmel beschützen. Es war das Beste, jede Spur zu dir zu verwischen."
Neugierig trat ich wieder näher, blickte ebenso in die Sterne und schwieg einen Augenblick. Doch dann wandte ich ihm meinen Kopf zu, beobachtete das Mienenspiel meines Vaters und hatte das untrügerische Gefühl, dass er die Wahrheit sprach. Ich wollte so gerne wütend auf ihn sein. Ihn für seine fehlende Anwesenheit verachten und sie ihm vorwerfen, doch ich verstand ihn. Zumindest glaube ich, es zu tun.
"Also hast du deinen Unfall vorgetäuscht und meine Kräfte versiegelt? So war es doch, oder Vater?", fragte ich herausfordernd.
"Felix... Ich musste es tun. Du wärst in großer Gefahr gewesen, hätte ich deine Fähigkeiten nicht schon vor deiner Geburt unter Kontrolle gehalten. Du wärst sofort zur Zielscheibe geworden. Man hätte Erwartungen an dich gestellt, dich dazu gebracht in den Dienst des Himmels zu treten. Man hätte dir deine Freiheit genommen, noch bevor du davon gekostet hast. Dass ich zurückgegangen bin, war für euch die sicherste Lösung. Ich musste dich schützen. Dich und deine Mutter."
"Und dich selbst genauso."
Diesen leicht bissigen Kommentar konnte ich mir nicht ganz verkneifen. Mir schwirrte bereits der Kopf und dennoch konnte ich nicht anders, als ihm zu glauben.
Der Engel hatte seine Flügel mittlerweile wieder sorgsam auf dem Rücken gefaltet und sah mich an.
"Ja, mich habe ich auch geschützt..."
"Also nur damit ich das richtig verstehe. Du hast meine Mama damals geschwängert obwohl du wusstest, dass eure Verbindung zu sowas wie mir führen kann." Ich gestikulierte von ihm zu mir. "Und dann versiegelt du aber meine Kräfte, um mir ein normales Leben zu ermöglichen? Warum? Bin ich als Naphil nicht gut genug für den Himmel? Wolltest du kein Kind, dass nicht vollkommen himmlisch ist? Hast du dort auch eine Familie, die du hintergangen hast?"
Die schiere Flut von Fragen, die aus mir hervorbrach, war selbst für mich viel.
Die hellen Augen des Engels blieben erstaunlich ruhig und bei meiner letzten Frage schüttelte er nachdrücklich den Kopf.
"Natürlich wusste ich, dass aus einer Verbindung von Engel und Mensch ein Naphil entstehen würde, Felix. Kinder wie du sind einzigartig und besonders. Ihr seid nicht minderwertig nur weil ihr zur Hälfte menschlich seid." Er lächelte etwas verbissen. "Natürlich würde mir da nicht jeder der hohen Engel zustimmen, aber für mich bist du vollkommen. Das warst du schon immer." Seine Augen schimmerten. "Und ich habe deine Mutter aufrichtig geliebt. Sie ist ein besonderer Mensch. Du kein halbwertiges Produkt oder eine Laune und ganz sicher keine Spielerei für mich. Ich wusste wie riskant es war, aber ich wollte dich. Ich wollte ein Kind, das ich im Himmel nie haben könnte." Nun kam er wieder auf mich zu, während ich perplex dastand und einige Male blinzelte, bis seine Worte in meinem Gehirn ankamen.
Mein Vater hatte mich gern. Er hatte mich ebenso gewollt und mochte meine Mutter tatsächlich. In den letzten Tagen hatte ich selbst schon öfter darüber nachgedacht, wie ernst einem Engel eine Beziehung zu einem Menschen sein konnte. Doch ich zweifelte nicht an der Aussage meines Vaters.
"Du-Du hast mich also wirklich lieb?", fragte ich leise nach und selbst wenn meine Empfindungen in den letzten Tagen seltsam verschoben auftauchten, so mischte sich jetzt das Glück zur Ungewissheit, die Erleichterung zur Angst, als der hübsche Mann vor mir nickte und dann den Arm ausstreckte, um über meine Haare zu streichen.
"Ich habe dich nie aus den Augen verloren. Und du bist eines der bedeutsamsten Dinge in meiner langen Existenz. Eine Schöpfung, auf die ich außerordentlich stolz bin." Wie um seine Worte zu unterstreichen, glühte alles um ihn herum ganz sanft. Es war reine und gute Magie, die sich auf mich übertrug und meiner so ähnlich schien.
"Und gerade deshalb wollte ich nicht, dass du im Himmel aufwächst. Erstens konnte ich dich deiner Mum nicht wegnehmen. Das hätte ich selbst nie gewollt. Sie brauchte dich nach dem Abschied von mir. Dank ihr hast du eine gute und unbeschwerte Kindheit gehabt. Hätte ich dich erziehen müssen, wärst du heute zwar ein wunderbarer Krieger... Die perfekte, tödliche Waffe des Himmels, aber die Ansprüche an dich wären enorm."
Jetzt wo ich das so hörte, war ich doch froh, meine Kindheit und Jugend mit meinen Freunden verbracht zu haben. Ich konnte spielen, auf eigene Art lernen und entscheiden was ich tun wollte. Der freie Wille war wohl doch etwas Tolles.
"Aber warum die hohen Ansprüche? Nur weil ich ein Naphil bin? Warum muss ich zur Waffe werden?"
Für einen Moment sah ich das Zögern und dann klang mein Vater fast zurückhaltend in seiner Wortwahl.
"Du weißt nicht viel über Nephilim habe ich Recht?"
Verneinend schüttelte ich den Kopf.
"Dann sollte ich es wohl ausführlicher erklären." Mein Vater strich sich selbst durch die blonden Locken und kurz ertönte wieder das Rascheln, als sich seine Flügel offenbar neu auf dem Rücken positionierten.
"Wie du sicher schon weißt oder zumindest einmal gehört hast, sind wir Engel nicht nur die Boten Gottes. Wir sind nicht nur die Aufpasser, die das Recht und den Willen unseres Herren durchsetzen... Na gut, das eine schließt das andere nicht aus. Aber wir sind vor allem Gottes Krieger. Wir verteidigen den Himmel, schützen ihn und halten das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Und da ihr Nephilim von uns Engeln abstammt, seid ihr ebenso gesegnet mit Stärke, Magie und eben auch Kampfkraft. Und natürlich gibt es auch unter den Nephilim wie unter den Engeln Stärkere und Schwächere. Doch vieles kann man mit hartem Training und langem Üben erlernen."
Mein Vater sah sekundenlang hinab auf den Boden, griff dann nach meiner Hand und umfasste diese. "All diejenigen, die einen Naphil nicht als vollwertiges Mitglied des himmlischen Reiches akzeptieren - und da gibt es so einige- haben euch an vorderster Front kämpfen lassen... Euch die schwersten Aufträge erteilt, da euer Verlust nicht so schwer wog, wie der eines Engels." Seine Miene wurde härter. "Das konnte ich nicht zulassen."
Auf einmal fühlte ich mich fast etwas schlecht, dass ich ihn vorhin so angegriffen hatte. Ihm vorgeworfen hatte, dass er mich nicht ernst nahm. Er hatte nur mein Leben schützen wollen.
"Ich-das wusste ich nicht", murmelte ich leise und legte dann meine zweite Hand auf seine. "Ich muss mich entschuldigen."
Doch schon schüttelte der Engel den Kopf. "Das musst du nicht. Du bist der Unwissende in dieser Angelegenheit und ich habe die Pflicht es dir zu erzählen." Dem Engel schien eine neue Frage zu kommen, die er auch prompt stellte.
"Ich habe leider nicht mehr viel Zeit bevor ich zurückkehren muss. Weißt du wie genau sich das Siegel gelöst hast, Felix? In letzter Zeit war ich sehr beschäftigt, bis ich vor wenigen Wochen eine stärkere Bedrohung gefühlt habe... Und ich habe dich versucht zu warnen. Aber dann überkam mich das Gefühl, die Kontrolle über dich zu verlieren. So als würden meine Kräfte zurückgedrängt und damit auch das Siegel beschädigt werden."
Mit wachsender Besorgnis hörte ich meinem Vater zu und bekam tatsächlich Angst davor, wie er reagieren würde, wenn ich ihm sagte, dass es an einem Dämonen lag. Dass Changbin vielleicht daran beteiligt war, dass mich nichts mehr vor dem Himmel und der Hölle schützte. Aber jetzt hieß es wohl Augen zu und durch. Außerdem kam mir ein weiterer Gedanke.
Vielleicht konnte uns mein Vater helfen und die Verbindung aufheben.
"Ich... Also ich- möglicherweise haben ich und meine Freunde ein paar Dämonen beschworen." Die letzten Worte hatte ich recht schnell und undeutlich genuschelt, doch der Engel hatte sie verstanden.
"Du hast was?" Seine Stimme klang bestürzt.
"Einen Dämonen beschworen?", wiederholte ich unsicher und sah zu meinem Vater auf. "Wir-ich wusste es nicht besser.... Ich dachte sie existieren nicht."
Der blonde Engel fasste sich recht schnell wieder. Nur seine blauen Augen wurden immer heller, so als würden sie bald nur noch aus durchsichtigem Glas bestehen.
"Was für einen Dämon? Hat er dir gesagt, welcher Gattung er angehört? Wie heißt er?"
Die Anspannung und Abneigung gegenüber dem höllischen Wesen konnte man sogar in der Luft spüren und ich beeilte mich, zu antworten.
"Er- er ist ein Erinnerungsdämon und er heißt Changbin."
Augenblicklich entspannte sich mein Vater ein wenig und beäugte mich eingehend.
"Ein Erinnerungsdämon ist wohl wirklich eines der geringeren Übel. Sie sind sogar mitunter sehr hilfreich. Auch wenn ich es nicht gutheiße... Was für eine Art Deal hast du mit ihm?"
"Eigentlich gar keinen Deal. Zumindest verlangt er nichts von mir. Er kommt nur manchmal zu mir, wenn er Lust dazu hat."
Gut, das war nicht die ganze Wahrheit, aber wie sollte man seinem Vater sagen, der ganz nebenbei ein Engel war, dass man sich von einem Dämon durchnehmen ließ?
Richtig. Gar nicht.
Besagter Engel musterte mich nun gründlich, schien meine Erklärung aber zu akzeptieren.
"Ich hatte erwartet, dass das Siegel selbst einem Dämon standhalten kann... Was hast du gemacht? Also wann genau und in welcher Situation ist es zerbrochen?"
Und da war schon der unangenehme Moment.
"Ich-ähm... Ich glaube das war, als ich Changbin gesagt habe, dass ich an seiner Seite bleiben will", sagte ich kleinlaut und konnte nun eine missbilligende, tiefe Stirnfalte auf dem sonst so ebenmäßigen Gesicht meines Vaters erkennen.
"Felix. Solche Versprechen gibt man nicht leichtfertig. Schon gar keinem teuflischen Wesen... Was hast du dir nur dabei gedacht?" Am Ende zuckte ich bei der plötzlichen Härte seiner Stimme zusammen und kam mir selbst total dumm vor. Aus seiner Perspektive musste ich vollkommen irrsinnig gehandelt haben, auch wenn es mir so richtig erschienen war.
"Tut mir leid", murmelte ich. Doch da seufzte mein Vater und legte eine Hand auf meine Schulter.
"Ich darf nicht zu streng mit dir sein. Es hätte mir klar sein sollen. Denn schließlich ziehst du magische Wesen ebenso an, auch wenn du zunächst nichts von deine Gabe wusstest. Es hat dich wohl unterbewusst dennoch genug beeinflusst. Also trage auch ich einen Teil der Schuld an dieser Entwicklung."
Ich sah zu dem blonden Mann auf und konnte immer noch nicht so recht fassen, dass mir ein Engel einfach so verzieh.
Dann ertönte wieder das leise Rascheln und die schneeweißen Schwingen spannten sich zu voller Größe auf. Ich bewunderte sie einen Moment lang, bis mein Vater mich zurück in die Realität rief.
"Ich muss wieder zurück... Aber ich werde erneut zu dir kommen, wenn es meine Zeit zulässt, Felix. Ich bin verantwortlich für dich. Und denk immer daran dass ich dich liebe, mein Sohn."
Mehr als ein Nicken brachte ich erstmal nicht zustande. Es machte mich schon unglaublich glücklich, dass er selbst davon sprach, dass wir uns wiedersehen würden. Aber sein letzter Satz ließ mich dann mit einem Lächeln zu ihm aufschauen.
Und so beobachtete ich wenige Augenblicke später, wie sich die langen, weißen Federn spreizten und der Engel mit einem einzigen Flügelschlag emporschoss wie ein Pfeil und schon im nächsten Moment nicht mehr zu sehen war.
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