Salto Ángel
Felix Pov:
Gelinde gesagt war ich enttäuscht von mir selbst. Ich gab mein Bestes und hatte den ganzen Nachmittag und einen Teil des Abends damit verbracht den Anweisungen meines Vaters zu lauschen und immer wieder neue Versuche zu starten endlich die nächste Hürde in meinem Naphildasein zu bewältigen. Ich hatte so viel trainiert und alles versucht, um die nötige Stärke freizusetzen. Sonst handelte ich immer rein instinktiv und dann brachen meine Kräfte in dem Moment, in dem ich sie am dringendsten brauchte, hervor.
Aber für diese Aufgabe musste ich diese Kräfte noch besser beherrschen können und sie verstehen. Und heute hatte meiner Meinung nach absolut nichts funktioniert.
Nicht einmal als mein Vater seine eigenen Flügel ausgebreitet hatte und kleinere Luftwirbel erzeugte, war ich in der Lage gewesen meinen inneren Engel freizulassen und endlich fliegen zu können.
Mit den meisten anderen Schwierigkeiten kam ich gut klar. Aber das Fliegen war für mich bisher ein rotes Tuch, um nicht zu sagen unmöglich. Einfach aus dem Grund, weil sich meine Flügel nicht zeigen wollten. Egal was ich tat, wie sehr ich mich konzentrierte, sie tauchten nicht auf. So als wollten sie mir den Dienst verweigern.
Ich hatte meinen Vater sogar gefragt, ob es möglich war, dass ich gar keine Flügel besaß, doch er hatte vehement den Kopf geschüttelt und mir gesagt, dass ich als Naphil definitiv Flügel hatte. Er wollte mich beruhigen und redete mir Mut zu. Sagte mir, dass ich sie nutzten könnte, wenn ich bereit dazu wäre. Aber ich wollte nicht länger warten. Ich war mehr als bereit dafür.
Doch das Schicksal schien das anders zu sehen und deshalb stapfte ich nun missmutig nach Hause, schloss die Tür auf und ließ meine Jacke und die Schuhe unordentlich im Flur zurück, während ich in mein Zimmer trottete, ein unwilliges Brummen ausstieß und mich dann auf mein Bett fallen ließ als sei ich ein nasser Sack.
Ich hatte nicht nur das Gefühl meinen Vater zu enttäuschen, sondern auch mich selbst. Wenn ich nicht einmal das schaffte, wie sollte ich da überhaupt meine Freunde beschützen können?
Dabei dachte ich mit einem Frösteln zurück an Seungmin und dessen schwere Verletzungen. Da hatte ich ebenso rein instinktiv gewusst, wie ich helfen musste und ich war so erleichtert zu sehen, wie meine Magie wirkte und sich all die schrecklichen Wunden geschlossen hatten.
Warum schaffte ich es dann bitte nicht, meine Flügel zu benutzen?
„Warum zum Teufel funktioniert das nicht?", meckerte ich mit mir selbst und schlug mit der flachen Hand auf die Decke neben mir. Schloss dann die Finger um den Stoff und knitterte ihn. „Streng dich mehr an Felix... so schwer kann es nicht sein."
„Was hast du denn für Sorgen?" Anstatt überrascht zu sein oder mich furchtbar zu erschrecken, seufzte ich nur abgrundtief und drehte den Kopf in die Richtung der Stimme.
Na super. Der Dämon hatte mir gerade noch gefehlt. Entweder würde er sich gleich über meine Unfähigkeit lustig machen oder nichts dazu sagen. Denn gerade trat er mit einem schelmischen Lächeln näher und sah auf mich herab.
„Ich schaffe es einfach nicht", brummte ich vor mich hin und wandte den Blick von ihm ab, sodass er nicht sah, wie sehr ich mich selbst dafür verurteilte. „Ich schaffe es nicht meine Flügel zu nutzen. Sie tauchen nicht auf, egal was ich tue." Selbst meine Stimme klang frustriert und bockig wie bei einem Kind. Und fast wie erwartet ertönte ein erheitertes Kichern zu meiner Linken.
„Und deshalb schmollst du? Trainiere weiter oder lass es bleiben. Bis jetzt bist du auch ohne sie klargekommen."
Empört setzte ich mich auf. Jetzt befand ich mich so nahe vor Changbins Gesicht, dass es mich für einen Moment wirklich überraschte. „Du verstehst das einfach nicht. Du brauchst keine Flügel, um zu fliegen. Du kannst dich von einem Ort zum anderen teleportieren und kannst nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt sie nicht benutzen zu können obwohl man sie haben müsste. Mein Vater setzt mich zwar nicht unter Druck, aber ich bin trotzdem eine Enttäuschung." Dann ließ ich mich zurück auf die Matratze fallen und atmete geräuschvoll aus.
Einige Sekunden blieb es verdächtig still und ich wandte schlussendlich meinen Blick zu Changbin, nur um in zwei dunkle Augen zu blicken, die eine Mischung aus Gefühllosigkeit und Unverständnis bargen. Den Rest konnte ich auch nicht richtig deuten und dann sprach er endlich.
„Wenn es dich so sehr stört, dann nützt es gar nichts, dich hier aufzuregen. Tu etwas dagegen... oder du vergisst für ein paar Minuten deine Unzulänglichkeiten."
Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, griff er nach meiner Hand und schon verschwamm meine Sicht. Schnell verstand ich, dass er mich mit sich an einen anderen Ort brachte und eilig klammerte ich mich an ihn.
Dennoch landete ich ein wenig unsanft auf meinen eigenen Füßen, strauchelte kurz, wurde aber sofort festgehalten und näher zu Changbin gezogen. Meine Sicht klärte sich und das Erste, was ich sah war der hell strahlende Mond, der rund über uns am sternenübersäten Himmel stand und alles um uns herum in ein magisches Licht tauchte.
Doch das war längst nicht alles. Als ich mich umdrehte, sah ich plötzlich gar nichts mehr. Dann wurde mir klar, dass wir gefährlich nahe am Rand einer Klippe befanden. Sofort machte ich einen Schritt zurück und mein Blick flog zu Changbin.
„Bist du wahnsinnig? Was wäre, wenn ich gestolpert und abgestürzt wäre?", fauchte ich ihn an und er lachte nur.
„Denkst du nicht, ich hätte das verhindern können?", fragte er vollkommen ruhig und dummerweise musste ich ihm ja recht geben.
Also sah ich mich weiter um und tat so, als hätte ich seine letzten Worte nicht gehört. Dieser Dämon machte mich manchmal wirklich rasend. Jetzt erkannte ich, dass sich tief unter uns ein Wald befand, besser gesagt dichter Urwald. Ebenso hinter uns auf dem Plateau. Wir waren davon umgeben und erst dann vernahm ich das laute Rauschen eines Flusses.
Selbst der Fels, auf dem wir aufgetaucht waren, war meiner Meinung nach nicht besonders vertrauenswürdig. Also balancierte ich weiter an einer Seite entlang und sah dann den Fluss, der das laute Geräusch verursachte.
Jedoch endete das fließende Gewässer vor mir gefühlt im Nichts, denn es stürzte an exakt dieser Stelle an den dunkelgrauen Felsen herab und verschwand irgendwann aus meinem Blickfeld.
Ein mulmiges Gefühl kam in mir auf, da ich nicht mal den Boden von hier oben aus erkennen konnte. Rasch strengte ich mich an, um zumindest meine Engelssicht zu nutzen. Doch selbst mit dem geschärften Blick erkannte ich den Wald unter uns nur schemenhaft und der Wasserfall schien sich tief unten nur noch weiter auszubreiten.
„An welches Ende der Welt hast du mich denn hier geführt?" Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme trotz der Überraschung und der eigentlich nicht so guten Laune doch eher erfreut und begeistert als tadelnd klang. Immerhin bekam man nicht jeden Tag einen so atemberaubenden Ausblick zu sehen.
„Wir befinden uns nicht am Ende der Welt, Felix. Das ist nur der Regenwald in Venezuela."
Am liebsten hätte ich bei so viel besserwisserischem Getue die Augen verdreht, aber irgendwie war der Anblick zu einnehmend und so nickte ich lediglich.
„Das ist der höchste freifallende Wasserfall der Welt. Er ist weithin bekannt als Salto Ángel, nach seinem Entdecker benannt. Aber die indigene Bevölkerung nennt ihn Kerepakupai Vena. Das bedeutet so viel wie Ort des tiefsten Sprunges."
Changbin hatte sich dicht neben mich gestellt und sah nun ebenfalls zum Wasser hinüber, das in zwei geteilten Flüsschen über die Kante des Plateaus stürzte und sich in der Tiefe verlor. Dazwischen befand sich noch ein kleiner, felsiger Absatz und plötzlich drückte er mich wieder an sich. Ein Blinzeln meinerseits später, standen wir bereits auf eben gesehenem Absatz und blickten nun zwischen den Wasserfällen hinab.
„Aber Todessehnsucht hast du nicht, oder?", fragte ich hab scherzend und mit dennoch schneller schlagendem Herzen. Die Höhe war doch dezent beängstigend und gleichzeitig war sie traumhaft schön. Ich wandte mich aus seinem Griff und trat noch näher an die Kante.
„Eigentlich nicht. Sind aber auch nur 979 Meter bis unten", meinte Changbin unbeeindruckt und grinste mir frech entgegen, als mein Kopf sich ruckartig zu ihm drehte und ich wohl ziemlich kritisch zu ihm blickte.
„Ihr Dämonen seid nicht mehr ganz bei Trost... nur 979 Meter...", murmelte ich vor mich hin und betrachtete den Urwald um uns herum. „Aber es ist ein traumhaft schöner Ort. Unzugänglich und noch nicht von den Menschen verschmutzt und in Besitz genommen."
„Da kann ich dir nur zustimmen. Tourismus gibt es hier natürlich trotzdem aber die meisten können dieses Wunder nur vom Flugzeug aus betrachten oder mit einem kleinen Boot von unten auf den Wasserfall blicken." Changbin schien sich hier auszukennen und ich drehte mich wieder in seine Richtung, um eine weitere Frage zu stellen.
„Wieso sieht man von hier oben den Wasserfall irgendwann nicht mehr? Ist es zu dunkel?"
Der dunkelhaarige Höllenbewohner schüttelte den Kopf. „Das liegt daran, dass der Wasserfall so hoch ist. Das Wasser wird bereits in der Luft so weit verstreut, dass es nur in kleinen Tröpfchen unten ankommt. Erst dort sammelt es sich wieder und verbreitert sich schlussendlich wieder zu einem Fluss. Der Río Churún fließt durch diesen Teil des Nationalparks und speist weitere Flüsse mit seinem Wasser. Er versorgt die Natur."
„Das ist unglaublich." Ich hatte tatsächlich meine Sorgen vergessen und konnte mich auf das traumhafte Panorama vor mir konzentrieren. Auch wenn ich es bei Nacht sah, war es atemberaubend.
Changbin schlang plötzlich seine Arme um meine Taille und zog mich eng an sich. Noch immer standen wir am vordersten Absatz und direkt vor dem Abgrund. Doch der Dämon hielt mich nahe bei sich und vermittelte mir mit seinem sicheren Auftreten Ruhe und Gelassenheit. Also legte ich meine Hände über seine Arme und schmiegte mich näher an ihn, als er in meinen Nacken hauchte.
„Weist du Felix... manche nennen dieses Kunstwerk der Natur auch den Engelsfall", raunte er mir dunkel zu. „Er ist so hoch, dass es scheint als könnte er den Himmel selbst berühren und die übermütigen Engelchen, die sich zu nahe an dieses reißende Gewässer trauen, stürzen einfach in die Tiefe."
Seine Stimme ließ mich frösteln und ich drehte mich in seinen Armen, um mich nun doch leicht an ihn zu klammern.
„Aber das sind doch nur Geschichten. Ein Engel würde sich nicht durch den Sturz verletzen, schließlich kann er fliegen", wisperte ich und sah in die braunen Augen vor mir.
Dann lächelte Changbin und legte eine Hand an meine Wange, schob sie nach hinten, bis er einige Haarsträhnen zu fassen bekam und dann lehnte er sich zu mir und küsste mich besitzergreifend. Sein Kuss schmeckte süß und rasch schmiegte ich mich an ihn. Ich ließ sein Hemd zwar nicht ganz los aber klammerte mich auch nicht mehr an ihn. Viel mehr streichelte ich durch sein Haar, ertastete seinen muskulösen Oberarm und zog ihn noch näher zu mir, um seine Lippen noch energischer auf meine zu pressen.
Wir küssten uns heiß und innig. In diesem Moment war es überwältigend. Das Panorama im Hintergrund, das Rauschen des Wasserfalls, der runde Mond über uns. Es fühlte sich richtig an. Magisch und unvergesslich. Mein Herz schlug schneller und verzückt hatte ich meine Augen geschlossen.
Dann drückte mir Changbin noch einen ganz sanften Kuss auf den Mund und löste sich knapp von mir. Seine Lippen verweilten direkt vor meinen und seine Augen waren noch geschlossen, als ich bereits blinzelte und die frische, leicht feuchte Luft einsog.
Verzaubert blickte ich auf den Dämon vor mir und wollte mich gerade wieder in einen neuen Kuss vertiefen, als sich seine Augen schlagartig öffneten. Sie funkelten dunkel und voller Stolz. Ich war so abgelenkt von seinem Blick, dass ich erst gar nicht merkte, wie er seine Handflächen an meinen Schultern platzierte.
Erst als es bereits zu spät war, wurde mir klar, was er da tat. Doch schon ging ein Ruck durch meinen Körper.
Changbin hatte mir einen kraftvollen Stoß versetzt und ohne etwas dagegen tun zu können, kippte ich nach hinten.
Ich verlor den Halt, tastete noch panisch nach Changbins Händen, aber sie waren schon unerreichbar und gemeinsam mit dem kalten Wasser stürzte ich in die Tiefe.
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