Leidensgenossen
Triggerwarnung: Blut, Wunden
Seungmins Pov:
Der Sonntagvormittag wollte heute irgendwie kaum vergehen. Ich wusste, ich sollte mich entspannen, da ich nicht darüber nachdenken musste, ob ich alle Hausaufgaben für Montag gemacht hatte. Immerhin waren Ferien.
Aber mein Verstand hatte sich noch nicht richtig darauf eingestellt und war mit der plötzlichen Freizeit etwas überfordert. Deswegen hatte ich heute schon gefühlt fünfmal den Fernseher eingeschaltet, um mich abzulenken, doch hatte ihn mit einem vernichtenden Blick oder einem Seufzen nach zehn Minuten wieder ausgeschaltet, weil mir nichts gefiel, was gerade lief und jede fünf Minuten Werbung kam, die mich sowas von ankotzte.
Auch Netflix und all die anderen Streamingdienste boten mir keine Ablenkung, da ich mich dort genauso wenig entscheiden konnte, was ich sehen wollte. Mit meinen Freunden war das irgendwie immer einfach. Da wurde gemeinsam beschlossen und dann wurde sowieso teilweise zwischendurch geredet. Einen Film zusammen zu sehen, war immer besser als allein.
Jedenfalls stand ich nun ein weiteres Mal auf und tapste zur Küche, um mir irgendeinen Snack aus dem Kühlschrank zu stibitzen und mich dann entweder wieder in mein Zimmer zu verziehen oder weiterhin dumm in der Gegend herumzustieren.
Ich fand tatsächlich noch einen Joghurt und schnappte mir einen Löffel. Bevor ich jedoch zurück zu meinem Zimmer gehen konnte, fiel mein Blick nach draußen. Besser gesagt auf die andere Straßenseite. Dort lief ein Junge den Gehweg entlang und schien Musik über seine Kopfhörer zu hören. Er war höchstwahrscheinlich in meinem Alter und irgendwie bildete ich mir ein, sein Gesicht von irgendwoher zu kennen, doch ich kam gerade nicht darauf woher. Außerdem sollte es mich nicht wirklich interessieren. Sicherlich war das nur ein großer Zufall und als ich genauer hinsah, drehte er sich schon um und wollte die Straße überqueren.
Entgegen meiner Gewohnheit beobachtete ich ihn. Wieso wusste ich selbst nicht genau. Doch dann riss ich die Augen auf und starrte auf das Auto, das viel zu schnell die Straße entlangraste. Ich wollte schreien, um den Jungen zu warnen, der gerade die Fahrbahn betrat und das Fahrzeug offenbar nicht bemerkte. Aber er konnte mich ja gar nicht hören.
Also sah ich nur wie erstarrt zu, als der Wagen genau auf den Jungen zuhielt. Dann ging alles viel zu schnell. Er versuchte auszuweichen, stürzte dabei, doch anstatt anzuhalten, fuhr das Auto mit quietschenden Reifen weiter.
Erst als ich den Jungen am Boden liegen sah, reagierte mein Körper endlich wieder. Ich rannte los zur Haustür. Riss diese auf und stürzte einfach hinaus auf die Straße und zu dem Jungen, der sich gerade mühsam aufrappelte.
„Oh mein Gott! Ist dir etwas passiert? Brauchst du einen Krankenwagen?", rief ich erschrocken, noch bevor ich bei ihm ankam und mich neben ihm hinkniete. Äußerst vorsichtig griff ich nach seinem Unterarm und half ihm, sich aufzusetzen.
Mein Gegenüber hob den Kopf, offenbarte damit eine Platzwunde auf der Stirn und eine blutige Nase. Seine Arme und Hände waren ebenfalls aufgeschürft, zumindest soweit ich das erkennen konnte. Doch ich wusste nicht wie schlimm es ihn sonst getroffen hatte. Also wartete ich seine Antwort ab.
„Sch-schon gut, ich denke es geht gleich wieder."
Erleichtert stieß ich die Luft in meinen Lungen aus und fragte nochmal nach. „Bist du sicher? Ich kann gern einen Arzt rufen." Doch der andere schüttelte den Kopf und wischte sich umständlich über die Nase und verschmierte sein eigenes Blut.
„Nicht, du verwischst es nur noch weiter." Ich suchte schon nach etwas, um die Blutung zu stoppen, aber hatte nichts bei mir. Deshalb blickte ich prüfend zu ihm. „Meinst du, du kannst aufstehen? Ich wohne nur über die Straße, dort könnte ich zumindest deine Wunden versorgen."
Der Junge nickte und rappelte sich dann leicht schwankend auf, bevor er meine Hilfe annahm und sich auf meine Schulter stützte und mit mir zum Haus hinüberhumpelte. Sein linkes Bein schien auch etwas abbekommen zu haben und selbst mir war nicht wohl bei dem Gedanken, ihn selbst zu verarzten. Ich hatte ja kaum Erfahrung mit sowas.
„Danke für die Hilfe. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, solche Umstände zu bereiten." Entschuldigte sich der Junge und verzog kurz leidend das Gesicht, als ich ihm die Stufen nach oben half.
„Kein Problem. Das ist doch selbstverständlich."
Ein etwas gruseliges Lächeln tauchte auf den Lippen des Jungen auf. Aber es rührte wohl von dem Blut her, dass er sich halb über das Gesicht gewischt hatte. Seine Lippen waren unversehrt. Sie waren voll und rosig. Seine Nase etwas breiter und das Gesicht leicht kantig. Selbst von Nahem schien er mir auf eine seltsame Art vertraut, doch ich schob den Gedanken beiseite und drückte den Leidenden auf einen der Küchenstühle.
„Bleib kurz hier. Ich hole den Verbandskasten und ein wenig Eis zum Kühlen. Außer du hast dich nun doch für einen Arzt entschieden?"
Ich fühlte mich immer noch nicht qualifiziert genug, ganz im Gegenteil eher überfordert. Aber ich wollte helfen und deshalb packte ich das Eis in ein Küchentuch und reichte es dem Braunhaarigen.
„Schon gut, ich brauche keinen Arzt. Ich bin im letzten Moment zurückgesprungen und hab nur unangenehm mit dem Boden Bekanntschaft gemacht", versicherte mein Gegenüber und drückte das Eis gegen seine Stirn.
Ich nickte und machte mich auf den Weg ins Bad, um den Verbandskasten zu holen. Ich brachte auch einen Waschlappen mit, um das Blut abtupfen zu können und legte dann alles neben dem Jungen auf den Tisch.
„Ich heiße übrigens Seungmin." Um nicht vollkommen unsozial rüberzukommen, stellte ich mich vor und lächelte aufmunternd. Sowohl um dem anderen zu versichern, dass alles gut werden würde und zum anderen um mich selbst davon zu überzeugen.
„Freut mich, ich bin Christian." Der Junge zeigte mir ein strahlendes, blutrotes Lächeln und streckte mir seine Hand entgegen. Sanft drückte ich sie und nutzte den Moment auch gleich, um seine Wunden genauer zu begutachten.
„Ein schöner Name." In Wahrheit wusste ich einfach nicht, was ich sonst noch sagen sollte und ich wollte ihn ablenken, als ich begann, das Blut wegzuwischen und die Wunde zu reinigen.
„Finde ich auch, hat meine Mama ausgesucht."
Nickend fuhr ich mit meiner Tätigkeit fort. „Hat sie dich aus einem bestimmten Grund so genannt? Was bedeutet der Name überhaupt?"
Christian lachte leise und drehte seinen Arm leicht, sodass ich diesen besser verarzten konnte.
„Christian kommt aus dem Altgriechischen. Ich glaube es heißt so viel wie Gefolgsmann oder Anhänger von Christus."
Seine Augen verfolgten nun genau, wie ich einen Verband um seinen Arm wickelte und mich dann den anderen Blessuren zuwandte. „Meine Mama hat mir den Namen gegeben, weil er sie immer an meinen Vater erinnert hat."
Kurz unterbrach ich meine Tätigkeit, sah ihn an und fragte dann nach. „Heißt das, dein Vater ist früh gestorben?"
Doch der Junge schüttelte den Kopf und lachte freudlos. „Wohl kaum, er hat meine Mama vielmehr mit mir sitzenlassen und hat sich aus dem Staub gemacht. In seinem Leben hatten eine Familie oder ein Kind keinen Platz und das hat er deutlich gemacht."
Betroffen und zunächst schweigend arbeitet ich weiter und versuchte, dafür die passenden Worte zu finden. „Das tut mir leid. Es gibt wirklich schreckliche Menschen. Ich denke, ich verstehe deinen Schmerz. Zwar habe ich beide Eltern noch, doch sie lassen mich teilweise auch ungewollt fühlen. Hattest du denn die Möglichkeit, ihn nochmal wiederzusehen oder das Ganze mit ihm zu klären?"
Diesmal antwortete Christian erstaunlich kühl. „Ja, die hatte ich. Aber erst nachdem meine Mutter gestorben war und ich ihm sagte, er könne sich nicht länger aus der Verantwortung ziehen."
„Und was hat er dann getan? Deiner Reaktion nach zu urteilen, ist das ja nicht wirklich gut gegangen."
Mittlerweile hatte ich den Lappen in warmes Wasser getaucht und tupfte sanft um die Ränder der Platzwunde. Große, grüne Augen sahen mir entgegen und dann seufzte Christian.
„Du hast es erfasst. Er hat mir angeboten, meine Ausbildung zu unterstützen. Er hätte sie wohl sogar selbst geleitet, doch das ging nicht lange gut. Mein Können hat ihn nicht zufriedengestellt, immer hatte er etwas auszusetzen und ich konnte es ihm nie recht machen. Schließlich bin ich freiwillig gegangen und habe mich selbst weitergebildet."
Seine Worte trafen mich nur tiefer ins Herz, allein deshalb, weil es meinem eigenen Schmerz und den Sorgen auf eine verdrehte Art ähnlich schien. Aber ich war irritiert.
„Wie alt bist du denn, dass du schon eine Ausbildung machst?"
„Ich bin gerade siebzehn geworden. Und ja, ich weiß, das ist sehr jung... aber ich habe die Schule gehasst und deshalb wollte ich lieber schnell irgendwas Praktisches machen."
Das leuchtete mir ein. „So warst du auch schneller unabhängig von deinem Vater."
„Korrekt."
Ich richtete mich auf, schob meinen eigenen Stuhl zurück und lächelte. „Ich bin soweit fertig, vielleicht könntest du dir selbst nochmal das Gesicht waschen. Aber alles andere sollte vorerst versorgt sein und sich nicht entzünden."
Dankbar nickte Christian und sah an seinen bandagierten Armen herab und grinste schief. „Wirklich nett von dir, Seungmin. Ich hätte nicht erwartet, dass es noch viele Menschen wie dich gibt. So reine und gute Seelen, die anderen helfen ohne viele Bedenken. Ich werde mich sicher eines Tages revanchieren können."
Schnell winkte ich ab und schüttelte den Kopf. Seine Worte schmeichelten mir zwar, doch das was er von reinen Seelen gesagt hatte, ließ mich unangenehm an den Dämonen in meinem Leben denken. Und irgendwie passte rein und gut so gar nicht in das Repertoire meiner derzeitigen Eigenschaften.
„Das macht mir wirklich nichts aus. Du musst nichts zurückgeben. Ich bin froh, dass ich helfen konnte und dir nicht mehr passiert ist."
Der Junge stand auf und trat auf mich zu. Nun konnte ich in seinem Blick eine Art Unruhe sehen, fast schon gehetzt hielt er mir seine Hand entgegen und bedankte sich erneut.
„Trotzdem lieb von dir. Ich muss jetzt leider los. Ich hatte noch etwas Wichtiges vor."
Perplex ergriff ich die Hand, bevor Christian sich auch schon umdrehte und den Flur entlanglief. Ich folgte ihm dann doch; brachte ihn zur Tür. „Sicher, dass du schon allein herumlaufen willst? Du kannst gern jemanden anrufen, wenn es wichtig ist."
Er schüttelte vorsichtig den Kopf, um seine Verletzungen nicht zu belasten und verabschiedete sich dann von mir. „Keine Sorge. Ich bin stärker als ich aussehe. Also, man sieht sich, Seungmin."
Verunsichert stand ich doch noch einen Moment in der offenen Tür, sah ihm nach und murmelte mehr zu mir selbst. „Eigentlich siehst du nicht schwach aus. Aber nachdem ich das beobachtet habe, mache ich mir doch Sorgen."
Da ich aber nichts weiter tun konnte, zuckte ich die Schultern, blickte nochmal die Straße entlang und schloss die Tür dann hinter mir.
Immer noch dezent überwältigt von dem Erlebten, schlurfte ich den Flur entlang bis zu meinem Zimmer und erlebte beim Öffnen der Tür gleich die nächste Überraschung.
Ein kleiner weiß-braun gescheckter Hund sprang mir entgegen und bellte fröhlich. Zunächst erschrak ich fürchterlich, stolperte zurück aber begriff dann, dass mir das Tier nichts tun wollte und hörte schon ein ausgelassenes Lachen von meinem Bett.
„Wie ich sehe mag Berry dich. Das ist doch super."
Schwankend zwischen gefühlt hunderten Emotionen und mindestens zwanzig bissigen oder urkomischen Erwiderungen trat ich in mein Zimmer und beugte mich herab zu dem Hund. Ich strich über das leicht lockige Fell und bekam ein Schwanzwedeln und ein fröhliches Bellen zurück.
„Wenn das dein Hund ist, dann hast du Glück gehabt. Immerhin heißt es ja, sie sind sehr empfindliche Wesen und wenn er dich als seinen Besitzer akzeptiert, dann muss doch irgendwas Gutes an dir sein."
Den Seitenhieb konnte ich mir einfach nicht verkneifen, als ich zu Chan herabsah, der auf meinem Bett saß und genau beobachtete, wie ich mich mit Berry anfreundete.
„Ouch. Das trifft mich jetzt aber." Jedoch grinste er unverschämt und sah dann zu Berry. „Was sagst du dazu?"
Der Hund drehte sich zu seinem Besitzer, wedelte mit dem Schweif und kläffte dann zweimal. So als könnte er ihm tatsächlich antworten. Ich stand mit offenem Mund daneben und verstand die Welt nicht mehr. Doch als ich schon dachte, es sei genug für einen Tag, stand Chan auf und trat zu mir. Er schloss mich in seine Arme und sah mir tief in die Augen.
„Ich bin nur hier, um dir etwas Wichtiges zu sagen. Streng genommen nicht nur dir, sondern auch deinen kleinen Freunden." Sein Daume strich über meine Wange. „Ich werde dich in der nächsten Woche nicht besuchen können, möglicherweise sogar länger. Selbes gilt für die anderen drei Dämonen. Ich kann dir nicht sagen warum. Ich werde es dir später erklären."
Seine Augen blitzten gelb auf und ich hatte irgendwie den Verdacht, dass er nicht ganz die Wahrheit sagte, doch ich war zu sehr von dem Fakt abgelenkt, dass er mich nicht besuchen würde.
Was wäre, wenn ich ihn brauchte? Wenn meine Eltern so schlimm wurden, dass ich nicht wusste was ich tun sollte?
„Minnie? Hey, ganz ruhig. Ich werde dich nicht vollkommen alleinlassen. Ich werde dir Berry hierlassen. Er wird auf dich aufpassen."
Kurz fiel mein Blick auf das Hündchen, das sich am Fuße meines Bettes niedergelegt hatte und nun mit dem Schweif wedelte, als würde ihm diese Vorstellung gefallen.
„A-aber wie soll er-" Chan unterbrach mich mit einem federleichten Kuss.
„Keine Sorge. Er wird mich gut vertreten. Außerdem kannst du ja auch immer noch einen deiner Freunde kontaktieren. Aber wir werden eben nicht verfügbar sein. Also versucht nicht, uns irgendwie zu rufen oder andere Dämonen zu beschwören." Seine Worte klangen eindringlich und automatisch nickte ich.
„O-ok." Dann krallte ich mich an ihn und küsste ihn erneut. Instinktiv wusste ich, dass er nicht lange bleiben würde und bevor er ging, musste ich ein letztes Mal seine einzigartigen Küsse schmecken. Erleichtert ließ ich mich an ihn sinken, schmolz in seinen Armen und beruhigte mich, als mein Verstand registrierte, dass er sich immerhin wirklich Gedanken gemacht hatte, um mich nicht ganz ohne Schutz zurückzulassen.
Dann löste sich der Höllenprinz jedoch. Er schob mich sanft aber bestimmt von sich und sein Blick fiel auf das Band um meinen Hals.
„Pass gut auf Berry auf. Er wird an deiner Seite bleiben. Aber nimm ihm nie sein Halsband ab. Und deins bleibt auch an seinem Platz." Er strich über den schwarzen Samt und ich nickte eilig.
„Ja, Chan."
Zufrieden trat dieser zurück und verschwand dann in den Flammen.
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Wieder mal eine Anekdote aus meinem eigenen Leben: Diese Szene als Seungmin beobachtet, wie Christian angefahren wird, ist aus einem meiner Träume entlehnt, den ich als Jugendliche öfter hatte. Die Background Story dazu ist, dass ich mit meiner besten Freundin unterwegs war, wir an einer Straße entlanggelaufen sind und uns ein Auto entgegen kam. Und wie auch immer es dazu kam, aber plötzlich war das Auto eben viel zu nahe und ist auch auf den Bordstein gefahren und ich habe in dem Moment meine Freundin rein instinktiv zurückgezogen. Uns ist nichts passiert und wir waren einfach nur super geschockt. Das Auto ist einfach weitergefahren und in der Zeit danach hatte ich eben diese Träume, in denen ich aber eben immer gesehen habe, was hätte passieren können. Noch heute stelle ich mich nie zu nahe an die Bordsteinkante und versichere mich immer doppelt, dass kein Auto kommt.
Stay save. 💖
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