Im Bannkreis der Gegenwart
„Stop"
Augenblicklich drehten sich alle drei zu mir um und musterten mich teils verwirrt, teils neugierig.
Felix löste sich von Jeongin und kam auf mich zu. „Was ist den los Hannie? Was hast du entdeckt?" Seine Augen funkelten warm und schienen mich aufzufordern, etwas zu sagen.
Doch ich blieb stumm, trat mit gerunzelter Stirn zu der mit Holz vertäfelten Wand und deutete auf eine der angebrachten Lampen.
„Die passt nicht hier hin."
Das war es also gewesen, was mich vorhin so gestört hatte. Schon beim ersten Anblick war mir etwas aufgefallen, doch ich hatte es nicht benennen können. Aber nun sah ich es ganz deutlich. Diese Lampe passte nicht ins Gesamtbild.
„Was? Wieso denn?" Auch Seungmin und Jeongin standen jetzt dicht hinter mir und starrten irritiert auf die Wand und dann auf mich. Keinem schien es aufzufallen.
„Die Lampe sieht genauso aus wie die anderen Jisung. An ihr ist nichts besonders."
Ich seufzte ein wenig frustriet. „Doch. Sie hat nicht den passenden Abstand zu den anderen Lampen. Seht es euch an." Mein Zeigefinger deutete den Gang entlang. Alle übrigen Lampen waren in einem nahezu perfekten Abstand zu einander angebracht. Dann zeigte ich auf die, die unmittelbar vor meiner Nase hing. „Sie hängt viel zu weit links. Eine solche Asymmetrie ist ganz sicher nicht normal."
„Oh... jetzt sehe ich es auch. Naja, vielleicht ist hing an der großen freien Fläche früher ein Gemälde oder so..."
Ich schenkte Felix einen kurzen, ungläubigen Blick. „Selbst wenn, würde kein vernünftiger Innenarchitekt für ein Gemälde eine Lampe so dämlich anbringen Lix." Mit einem weiteren, großen Schritt war ich nach vorn getreten und betrachtete den Leuchter, der direkt an der Holzplatte angebracht zu sein schien. Dann umfasste ich den Stiel und zog probehalber daran.
Doch nichts löste sich.
Ich probierte es damit, den Leuchter nach rechts zu kippen und hörte ein mechanisches Klicken. Ich drückte stärker gegen den Lampenstiel, der plötzlich wie ein Hebel wirkte und mit einem leisen Knarren schob sich ein Teil der Wand zurück und offenbarte einen großen Durchgang. Es fiel zwar Licht in den freigelegten Korridor doch man konnte nicht weiter als zwei Meter sehen.
„Krass", hauchte Felix und zückte sein Handy. Sekunden später leuchtete ein kleines helles Lämpchen und er trat in den freigelegten Flur. „Ok Leute, das wird jetzt wirklich spannend."
Auch mich durchfuhr ein kleiner Schauer, als ich mich dem Gang zuwandte. Angst hatte ich zwar nicht, aber das Adrenalin und meine Abenteuerlust flammten auf. Das war wirklich mal etwas Neues. Wir waren zwar schon ein oder zweimal in irgendwelchen verlassenen Gebäuden gewesen, doch nie hatten wir einen Geheimgang entdeckt oder das Glück gehabt, sowas zu erforschen.
Schnell folgte ich Felix und sog die trockene Luft ein, die uns entgegenströmte. Hier im Korridor roch es viel stärker nach Leder und altem Pergament. Fast war es, als würde man das Verbotene und die Spannung in der Luft wittern, wie ein weißer Hai das Blut im Wasser. Das war tatsächlich noch cooler, als ich erwartet hatte.
Als ich kurz stoppte, da auch Felix vor mir angehalten hatte, um kurz zur Seite zu leuchten, stieß Jeongin prompt gegen meinen Rücken und kicherte entschuldigend.
„Sorry Hyungie, hier ist es einfach viel zu dunkel."
„Wir sollten lieber alle unsere Taschenlampen anmachen." Ich kramte ebenfalls mein Handy aus der hinteren Hosentasche und nur kurze Zeit später erhellten insgesamt vier kleine Lichtquellen die Dunkelheit. Vor uns lag ein fast schon winziger Raum, der nicht mal über ein Fenster verfügte. Es gab also keine Möglichkeit, um natürliches Licht in dieses Zimmer zu lassen. Wohin man auch leuchtete, vor uns war alles vollgestopft mit Büchern oder Manuskriptstapeln, die sich in den Regalen türmten.
„Nach was suchen wir hier eigentlich?", fragte Seungmin neugierig und lief zu einem eingestaubten Globus, der auf einem Tisch in der Mitte des Raumes stand. Mit dem Zeigefinger fuhr er andächtig über die nördliche Erdhalbkugel und hinterließ eine kleine saubere Spur an der Stelle, wo sein Finger den Staub weggewischt hatte.
„Nach gar nichts. Wir sehen uns nur um." Ich lief ebenfalls zum Tisch und blätterte einen Stapel Zeitschriften durch, die bereits aus den sechziger Jahren stammten. „Aber falls es etwas wirklich Interessantes zu finden gibt, dann wohl hier."
„Naja, ich weiß ja nicht, ob diese alten Geschichtsbücher wirklich was Besonderes sind", kommentierte Felix, der vor einem Regal in die Hocke gegangen war.
„Also ich habe hier noch ein paar Klassiker der Literatur." Jeongin hatte ein dickes Buch aus dem Regal gezogen und leuchtete nun den Einband an. „Jane Austen", murmelte er und öffnete es mit spitzen Fingern.
„Es scheint eher so, als wäre hier das Depot für alle möglichen Bücher. Ich habe hier Werke, die sich mit philosophischen Lehren beschäftigen. Offenbar war hier jemand sehr großer Fan von Platon", ergänzte Seungmin.
„Den Versuch war es ja wert. Trotzdem verstehe ich nicht, dass man einen Raum so gut versteckt, wenn es nichts Außergewöhnliches zu entdecken gibt." Ich war fast ein wenig enttäuscht. Auch wenn ich nicht einmal wusste, was ich zu finden gehofft hatte. Alles hatte so vielversprechend begonnen... ein geheimer Durchgang, ein Raum voller alter Bücher. Irgendetwas mussten wir hier doch finden.
„Könnte ja sein, dass dieser Raum eine Art Rückzugsort für den Bibliothekar war oder so... sowas wie ein eigenes kleines Studierzimmer." Seungmin deutete auf das braune Ledersofa, das eingekeilt zwischen zwei wandhohen Regalen stand und dann auf den massiven Holztisch und den Stuhl. „Wenn man mal ganz für sich sein will oder eben eine Studie durchführt, dann bietet sich ein solcher Raum an. Man kann alle benötigten Werke herbringen und dann ganz in Ruhe arbeiten."
Wie aus dem Nichts war ein kleiner spitzer Schrei von Jeongin zu hören. Alle Handytaschenlampen richteten sich schlagartig auf den Jüngsten. Dieser saß freudestrahlend auf dem Boden und hatte den Lichtschein seines Handys auf einen kleinen Bücherstapel gerichtet, der in seinem Schoß lag.
„Das müsst ihr euch ansehen! Das ist sooooo cool. Lix, Hanni, ihr werdet es lieben. Diese Zeichnungen wären genau das Richtige für euer nächstes Projekt."
Ein erleichtertes Seufzen verließ meine Kehle, denn für einen Moment hatte ich geglaubt, Jeongin sei etwas zugestoßen. Ich hockte mich neben ihn und leuchtete auf die Buchseiten, die er mir entgegenstreckte. Bei den Zeichnungen handelte es sich eindeutig um Pentagramme und Bannkreise. Zumindest soweit ich es beurteilen konnte. Es gab beispielsweise ein Pentagramm, dass mit Runen versehen war oder Bannkreise, die mir vollkommen fremde Schriftzeichen enthielten. Die meisten der Zeichnungen und eingeklebten Drucke sahen tatsächlich ziemlich abgefahren aus und waren schon an sich besonders verschnörkelt und ausgefallen. Mein Blick fiel auf den kleinen Stapel mit Büchern, die bei näherer Betrachtung eher aussahen, wie Notiz- oder Tagebücher.
„Alles klar, die sehen wirklich vielversprechend aus. Wir nehmen sie einfach alle mit." Ich erhob mich wieder und der Jüngere reichte mir das Bündel an, sodass ich sie ihm abnehmen konnte. „Sonst noch etwas, was wir näher betrachten sollten?"
Seungmin hatte sich bereits in den Gang gestellt und hielt das Buch im Arm, das er bereits die ganze Zeit mit sich herumschleppte. „Nee, ich denke wir können wieder gehen."
Auch wir anderen sahen keinen Grund, noch länger die Zeit zu vertrödeln und so machten wir uns auf den Weg Richtung Ausgang. Als wir wieder aus dem finsteren Korridor in den Hauptgang traten, blinzelte ich leicht. Die Sonne stand schon recht tief am Himmel und fiel direkt durch die verdreckten Fensterscheiben auf die Treppen und auf uns. Das Abendrot war schon in einem blassen Rosaton am Horizont zu erkennen und tauchte die Szenerie in ein angenehm warmes Licht.
Als wir uns schon zum Gehen umwandten, betätigte ich noch schnell den Hebel oder besser gesagt die Lampe und die Holzvertäfelung schob sich wieder nach vorn, verschloss den Eingang und ließ alles wieder vollkommen unberührt aussehen.
„Ich denke, wir sollten für heute nach Hause. Immerhin ist morgen Schule."
Wir stimmten Felix mit einem Nicken zu und machten uns auf den Weg nach unten zur Eingangshalle. Im Grunde genommen hatten wir nur die Hälfte der Bibliothek wirklich erkundet. Der ausgebrannte Teil des Ostflügels zum Beispiel, dem hatten wir heute gar keine Beachtung geschenkt. Doch wir konnten ja einfach nochmal herkommen. Kurz sah ich auf den kleinen Stapel an Büchern in meinem Arm. Am Ende war unsere Ausbeute doch etwas karg gewesen, aber womöglich würde sich das bei genauerer Betrachtung noch als Irrtum erweisen.
Es konnte ja tatsächlich sein, dass diese Notizbücher ein paar interessante Details enthielten. Vielleicht sogar Aufschluss darüber gaben, wer sie angefertigt hatte.
Nacheinander zwängten wir uns erneut durch die Eingangstür ins Freie und drückten diese dann wieder ins Schloss. Schnell hasteten wir geduckt über das abgesperrte Vorgelände und kletterten durch das Loch im Maschendrahtzaun, das wir natürlich nur ganz zufällig entdeckt hatten. Nachdem wir hinter dem schützenden Zaun entlang, zur Straße gelaufen waren, drehte ich mich nochmal zu dem verlassenen Gebäude um.
Nun tauchte die Abendsonne den Himmel hinter der Bibliothek in ein sattes Rot und die ersten Schatten fielen auf den Vorplatz. Kurz glaubte ich, in einem der Fenster den Umriss einer menschlichen Gestalt ausmachen zu können, doch als ich blinzelte und genauer hinsah, war nichts mehr zu erkennen. Schulterzuckend wandte ich mich ab und schloss wieder zu den drei anderen auf, die gerade über die Hausaufgaben für morgen sprachen.
Gemeinsam liefen wir die Straße entlang, die zurück zur Siedlung führte. Die Stadt, in der wir alle lebten war nicht besonders groß. Hier war es manchmal so ruhig, dass man glauben mochte, sie wäre ausgestorben. Vor allem unter der Woche, wenn die meisten Menschen noch bei der Arbeit waren, ihren Vorgarten gossen oder einfach in ihren Häusern vor dem Fernseher dümpelten, dann hatte man das Gefühl am langweiligsten Ort dieser Welt gelandet zu sein.
Vielleicht unternahm ich auch deshalb so viel mit meinen Freunden. Vielleicht war dies das Einzige, dass mich an diesem öden Ort hielt. Sehr wahrscheinlich sogar.
Aber gerade empfand ich diese Stadt als gar nicht so schrecklich, gerade fühlte ich mich wohl und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Der heutige Ausflug war ganz und gar nicht langweilig gewesen. Eher das genaue Gegenteil. Der Nervenkitzel etwas Unerlaubtes zu tun und auch noch einen geheimen Raum zu finden, hatte meine Laune deutlich gebessert.
„Alles klar, dann bis morgen", verabschiedete sich Seungmin als Erster. Schließlich bog auch Felix in eine der Seitenstraßen der Siedlung ab und so blieben nur noch Jeongin und ich übrig. Der Jüngste strich sich gerade sein weiß gefärbtes Haar nach hinten und schenkte mir ein warmes Lächeln.
„Morgen ist schon Freitag Ji. Wollen wir da wieder was zusammen machen?"
„Klar. Ihr könnt gerne zu mir kommen. Meine Eltern sind ja sowieso noch in Malaysia am neuen Filmset, also könnt ihr auch einfach bei mir übernachten." Ich war selbst sehr angetan von dieser Idee, da ich gern Gesellschaft hatte und mich manchmal sehr allein fühlte, wenn meine Eltern mal wieder um die halbe Welt reisten, um ihrem Job nachzugehen. Tia, als Sohn von zwei erfolgreichen Schauspielern hatte man es nicht immer leicht. Aber da ich meine Eltern auch nicht ständig begleiten konnte und wollte, verbrachte ich sehr viel Zeit allein. Oder besser gesagt mit meinen Freunden.
„Das klingt super Hyung. Also, bis morgen." Jeongin winkte mir noch ein letztes Mal zu und lief dann den kleinen Kiesweg zum Haus seiner Familie entlang.
Dank der Aussicht, das Wochenende nicht allein zu verbringen, lief ich glücklich summend die geraden Straßen entlang, die mit immergrünen Hecken oder kleineren Bäumen gesäumt waren. Hier in der Siedlung reihte sich ein hübsches Einfamilienhaus an das nächste. Alle sahen sich irgendwie ähnlich und unterschieden sich doch in kleineren Details. Jeder Vorgarten war individuell gestaltet, einige bevorzugten Blumen, andere einen kleinen Steingarten mit Brunnen und wieder andere hatten Gartenzwerge oder andere verrückte Deko aufgestellt.
Fast täglich nahm ich diesen Weg. Ich lief an all den eintönigen Häusern vorbei und strebte das südliche Ende der Siedlung an. Dies war der abgelegene Teil der Stadt, in dem die Reichen ihr Häuser besaßen und da meine Eltern nicht schlecht verdienten, durfte ich dieses Villenviertel dann wohl meine Area nennen.
Es war ja nicht so, dass ich unser großes Haus nicht mochte oder ich den Lebensstil nicht zu schätzen wusste, aber er ersetzte nun mal nicht die Geborgenheit einer Familie.
Seufzend tippte ich den Zahlencode in das Feld am Gartentor ein und mit einem leisen Piepen entriegelte sich das schmiedeeiserne Tor. Direkt hinter mir schloss ich es wieder und hörte erneut das Piepen. Ich lief den Sandweg der Einfahrt hinauf und stellte mich direkt vor die Tür. Blickte in die Kamera direkt auf Augenhöhe und schon öffnete sich der Eingang zu meinem Zuhause mit einem weiteren nervigen Piepen.
Technik... wirklich eine wunderbare Spielerei.
Mit schnellen Schritten durchquerte ich den Eingangsbereich, eilte direkt die Treppe nach oben und legte den mitgebrachten Bücherstapel neben die gemütliche Couch in meinem Zimmer.
Miau
Sofort wurde mein Lächeln breiter und ich sah zu meinen Füßen herab. Meine rot getigerte Katze saß neben meinem linken Bein und sah zu mir auf. Sie schnurrte ganz leise und schien sich genauso über meine Anwesenheit zu freuen, wie ich mich über ihre.
„Hallo Soonie. Ich weiß, ich war lange weg. Aber jetzt bekommst du Futter und dann sehen wir noch einen Film zusammen." Als hätte sie mich verstanden, maunzte sie erneut und rieb ihren kleinen Kopf gegen mein Bein.
„Dann los."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top