Engelskind

„Du bist ein Naphil. Das Kind eines Menschen und eines Engels."

Im ersten Moment wollte ich ihm einfach nicht glauben. 

Nein, ich konnte es nicht glauben. Sowas passierte nicht in dieser Welt. Es war zu absurd und vollkommen abwegig.

Aber dann besann ich mich und wusste instinktiv, dass es sehr wohl so sein konnte. Denn immerhin sprach ich gerade mit einem Dämonen. Sie waren ebenso echt wie Menschen. Folglich konnten sowas wie Engel doch existieren.

"A-aber wie soll das gehen. Mein Vater ist tot und meine Mama... Nein, sie hätte das nie vor mir verheimlichen können."

Changbin hob eine Augenbraue und dann musste ich kurz an die Stimme vorhin denken. Meine Brust wurde bei dem Gedanken, der wie ein Blitz durch meinen Kopf schoss, plötzlich enger und ich schluckte schwer. Dann schüttelte ich abwehrend den Kopf.

"Nein, das kann nicht sein."

Ungerührt sah Changbin zu mir, seine Augen wurden langsam heller und dennoch wirkte seine Miene kalt und unleserlich. "Ich denke, du weißt selbst was das heißt. Du hast mir von deinem Vater erzählt."

Wollte er wirklich andeuten, dass ich richtig lag? Wollte er mir ernsthaft sagen, dass mein Vater ein Engel gewesen war? Dass ich seinetwegen anders war? Aber warum merkte ich es erst jetzt?

"Könntet ihr uns vielleicht auch an euren Erkenntnissen teilhaben lassen?", meinte nun Seungmin leicht besorgt und stellte sich direkt neben Jisung, der mich mit offenem Mund und geweiteten Augen anstarrte. Ji kannte mich besser als jeder andere hier. Er wusste von der Geschichte mit meinem Vater. Nur er kannte die Details und wusste wie traurig es mich machte, dass ich ihn nie kennengelernt hatte oder dass meine Mutter immer noch um ihn trauerte. Und jetzt erfuhren wir, dass ich womöglich wegen der himmlischen Herkunft meines Vaters ein halber Engel war.

"Ich-ich denke, Changbin könnte Recht haben", murmelte ich. "Meine Mama hätte es nicht vor mir verheimlichen können... Aber mein Vater, er ist tot... Also konnte er es mir auch nicht sagen."

"Felix." Changbin griff fest nach meiner Hand und das Kribbeln in dieser verstärkte sich. Es war wie pure Energie und dennoch konnte man es nicht als unangenehm beschreiben. Der Dämon sah mich unverwandt an und dann erkannte ich kurz etwas Düsteres in all dem Weiß aufblitzen. "Es ist nicht gesagt, dass er tot ist. Wenn er ein Engel ist, ist es durchaus möglich, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hat."

Die Worte trafen mich wie Schläge ins Gesicht und für einen Moment starrte ich benommen und völlig überfordert in das strahlende Weiß.

"Wie...?" Ich war so neben der Spur dass ich keinen klaren Satz herausbrachte.

"Hey, Lix. Hey." Plötzlich befand sich Jisung wieder neben mir, kniete an der Couch nieder und streichelte über meine Wange. "Nicht weinen. Wir wissen gar nicht ob es wirklich so ist. Nicht weinen." Seine Finger verwischten die Tränen und er sah mich mitleidig an.

"Aber es ist sehr wahrscheinlich", mischte sich auch noch Hyunjin ein, der sich einige Meter durch den Raum bewegt hatte und sich gerade mit verschränkten Armen gegen den Wohnzimmerschrank lehnte. "Diese gefiederten Biester sind nicht so leicht umzubringen..."

Chan nickte zustimmend und Minho stieß ein verächtliches Schnauben aus. Mein Dämon hingegen blieb still und beobachtete lediglich meine Reaktion, bevor er Jisungs Hand von meiner Wange nahm und dann seine dort platzierte.

"Wir brauchen Klarheit darüber, von wem du deine Gabe hast." 

Verwirrt sah ich ihn an und blinzelte dann.

"Aber.... Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mein Vater ist." 

Ich flüsterte nur, da ich immer noch nicht ganz glauben konnte, dass ich nun übernatürliche Fähigkeiten besaß. Dass ich ein Naphil war, wie sie es nannten. Dass ich mit einem Engel verwandt war. Mein zweites Elternteil, das ich nie selbst kennenlernen durfte. Und dass dieses Elternteil möglicherweise noch lebte. Und zwar im Himmel. 

Konnte man überhaupt sagen, dass es lebte oder existierte es viel eher? Und dann kamen die essentiellen Fragen. Wieso hatte ich es nicht eher gewusst? Warum gerade jetzt? Wieso wurde ich im Stich gelassen? War ich überhaupt bereit für diese Kräfte? Was konnte ich alles?

Meine Gedanken kreisten, doch da nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Minho trat dicht neben Changbin.

"Sag mir wo ich deine Mutter finden kann... Ich bringe sie her", forderte er kühl und musterte mich. Nun stieg Angst in mir auf. Angst, dass sie meiner Mama etwas antun würden, wenn sie ihnen keine Antworten gab. Dass sie ihr wehtaten. Deshalb presste ich die Lippen aufeinander und sah auf meine Füße.

Niemals würde ich sie verraten. Das konnte ich ihr nicht antun.

"Sag du es mir... Sonst frage ich Changbin und dann-" "Ich werde gehen." Changbin hatte sich zu Minho gedreht. "Ich werde sie selbst holen." Dann blickte er zu mir. "Ihr wird nichts passieren. Ich verspreche es." Panisch schüttelte ich den Kopf.

"Nein, nein, bitte tu das nicht. Lass sie in Ruhe. Sie hat nichts damit zu tun." Bei den letzten Worten schluchzte ich leise und wollte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es meine Mama treffen würde wenn sie erfuhr was ich war. Oder wenn man ihr erzählte, was möglicherweise mit Papa los war.

Gerade konnte ich selbst die Verzweiflung wieder deutlich wahrnehmen, obwohl sonst die meisten Emotionen eher gedämpft und viel weniger markant herausstachen. Doch die Angst war so präsent wie ich sie sonst selten wahrgenommen hatte. Als würde sich alles in mir darauf fokussieren. Doch bevor ich irgendwas tun konnte, stand Changbin auf und verschwand. Ich zuckte zusammen und starrte noch für einen Moment auf den Boden, wo er gerade noch gestanden hatte.

Vielleicht hatte ich ja Glück und Mama war noch arbeiten. So oder so lag die Entscheidung nicht länger in meiner Hand. Deshalb sah ich trotzig auf und begegnete den rot glühenden Augen, die mir erneut heiße Wut durch den Körper rauschen ließen. 

Ich hatte von Anfang an diese Abneigung gegenüber Minho verspürt und endlich verstand ich auch, dass mich mein innerer Engel gegen die Dämonen aufstachelte. Dass er ihnen misstrauisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüberstand. Aber bei diesem Teufel vor mir war es besonders schlimm. Vermutlich weil er bei unserer ersten Begegnung so schrecklich überheblich war und Jisung sowieso nur als persönliches Sexspielzeug betrachtete. 

Meine Handflächen kribbelten, als ich meine Kraft unterbewusst in diesen sammelte.

Aber wollte ich ihn wirklich ein zweites Mal angreifen? Ich horchte in mich hinein. Neben dieser Abneigung war noch ein weiteres Gefühl. Es war eindeutig Angst. Angst davor, was Minho im Falle eines Kampfes tun würde. Welche Stärke er aufbringen konnte. Diesmal war Changbin nicht da, um ihn aufzuhalten. 

"Ich denke, du solltest dein Gemüt etwas zügeln. Du bist noch nicht vertraut mit der Energie, die du in dir trägst und wenn du nicht aufpasst, kannst du nicht nur deinen Freunden sondern auch dir enormen Schaden zufügen. Also bekomm deine Abneigung in den Griff... Ich kann dich auch nicht besonders leiden, vor allem nachdem ich jetzt auch noch weiß, wie gefährlich du bist."

Minhos Stimme war ruhig. Als würde es ihn kaum tangieren und trotzdem war es wie ein weiterer Schlag ins Gesicht. Doch er hatte Recht. Ich durfte ihm nicht wehtun solange ich die anderen damit in Gefahr brachte und ich nicht wusste, wie ich diese Kraft in mir beherrschen sollte. 

Aber länger konnte ich mir auch nicht Gedanken darüber machen, denn nun tauchte Changbin wieder in den Flammen auf. Er hielt meine Mutter am Unterarm fest und ließ sie los, nachdem sie beide sicher auf dem Boden standen.

Vollkommen verwirrt sah sich meine Mutter um, erblickte dann mich und weitete die Augen.

"Felix? Was-was passiert hier?"

"Mama. Ich- es tut mir leid." Rasch erhob ich mich von der Couch, wollte schon zu ihr laufen und sie in die Arme schließen, als Minho mich fest am Arm packte und mich davon abhielt.

"Nicht so schnell. Erst müssen wir in Erfahrung bringen, was sie von alledem weiß." Er nickte Hyunjin zu, der sich augenblicklich mit einem Schmunzeln von dem Möbelstück abstieß und auf meine Mama zuging.

"Was soll das hier? Was machen Sie mit meinem Sohn?", fragte Mum empört, doch Hyunjin beachtete ihre verbalen Einwände nicht und stellte sich dicht vor sie, beugte sich ein wenig nach vorn und zeigte dann sein strahlendes Lächeln.

"Keine Sorge Ms. Lee... Wir haben nicht vor hier etwas Frevelhaftes zu tun..." 

Irgendwie glaubte ich seinen Worten nicht, doch was sollte ich schon machen. 

Meine Mama blinzelte kurz in meine Richtung, doch Hyunjin drehte ihren Kopf wieder zu sich und dann sprach er mit eindringlicher Stimme zu ihr.

"Bleiben sie ruhig. Wir wollen nur ein paar Antworten von ihnen. Wären sie so freundlich, uns die Wahrheit zu sagen?" Seine Stimme war honigsüß und vernebelt selbst mir leicht die Gedanken. Hastig schüttelte ich den Kopf und der Zauber war gebrochen. Ich sah flüchtig in die Runde und merkte, dass meine Freunde ebenso auf Hyunjins Worte reagierten, wenn nicht sogar stärker als ich es tat. 

Der blauäugige Dämon hingegen schien immer noch auf die Antwort meiner Mama zu warten, doch diese musterte ihn nur misstrauisch und schwieg. Hyunjin schien kurz verwundert und selbst Chan sah nun angespannt aus.

"Ich wiederhole mich ungern. Aber würden sie uns bitte ehrlich auf die folgenden Fragen antworten? Schaffen Sie das?" Hyunjins Stimme war jetzt deutlich fordernder. Diesmal zeigte es Wirkung und meine Mama nickte sogleich zustimmend. 

"Ja, ich werde antworten."

„Ich habe einen Engel aus Marmor gesehen und habe gemeißelt, bis ich ihn befreit habe." — Michelangelo

--------- 

Sorry aber die Künstlerin in mir musste diesen Spruch jetzt einfach an dieser Stelle bringen. 🤣 Ihr versteht schon... Befreiung und Erschaffung. Ich finde es irgendwie passend und ich liebe die Tiefgründigkeit dieses Künstlers. Er sieht selbst in dem Unvollendeten/ eigentlich noch gar nicht bearbeiteten Stein bereits etwas Vollkommenes. Ist aber vielleicht auch leicht versnobt, wenn er von sich selbst sagt, dass er einen Engel daraus befreien kann. 🙈 Aber Michelangelo kann sich das leisten. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top