Die Genesis eines Rituals

Felix Pov:

„Felix? Kannst du mir bitte mal helfen?" Die Stimme meiner Mama drang an mein Ohr, während ich gedankenverloren auf den Tisch starrte. Doch jetzt hob ich den Kopf und sah zur Küchenanrichte, wo sie gerade vergeblich versuchte, ein Glas Marmelade zu öffnen. Sie kam mit wenigen Schritten zum Tisch und reichte mir das widerspenstige Glas mit einem Lächeln.

Ich nahm es entgegen, klopfte fest auf den Boden und wendete dann etwas Kraft auf, um den Deckel zu lösen. Mit einem lauten Knacken öffnete sich der Schraubverschluss und ich reichte die Marmelade an meine Mom zurück.

„Danke Liebling."

Ich beobachtete, wie sie zur Anrichte zurückging und die Pfirsichmarmelade auf zwei Toasts strich, dabei summte sie ausgelassen eine Melodie vor sich hin und es kam mir schon wieder so falsch vor, ihr alles zu beichten. Gefühlt schob ich es schon Jahre vor mir her, ihr zu sagen, dass ich meinen Vater getroffen hatte. Aber sie hatte ein Recht darauf es zu wissen. Wenn es jemanden gab, der es wissen sollte, dann sie.

„Mom-", begann ich leise und zaghaft, was so gar nicht typisch für mich war. Wir hatten immer ein so gutes Verhältnis und ich vertraute ihr uneingeschränkt. Ebenso wie sie mir. Auch jetzt drehte sie sich in meine Richtung, lächelte und schenkte mir ihre Aufmerksamkeit. Doch als sie offenbar erkannte, dass ich nach passenden Worten suchte, legte sie das Messer weg, nahm nur den Teller mit den zwei Broten und trat zum Tisch.

„Was ist Felix?", fragte sie, stellte den Teller zwischen uns auf der Tischplatte ab und sah mich aufmunternd an. Als das immer noch nicht half, ließ sie sich mir gegenüber nieder und versuchte es zur Auflockerung der Stimmung mit einem kleinen Scherz.

„Was ist los? Hast du beschlossen die Schule abzubrechen? Einen Diebstahl begangen oder bist du schwanger?" Sie kicherte und winkte ab. „Okay okay, ich bin ja schon ruhig. Und ja, ich weiß, dass das nicht möglich ist." Offenbar war mein Blick Antwort genug gewesen und nun lehnte sie sich zurück, wartete geduldig auf meine Worte. Diese wollten mir aber irgendwie nicht recht über die Lippen kommen.

Ich konnte nur schwerlich einschätzen, wie sie reagieren würde und das machte es besonders kompliziert. Sanft schüttelte ich den Kopf.

„Mama", murmelte ich und knetete unruhig meine Finger. „Ich-ich habe Papa getroffen... er hat mich besucht."

Es blieb ungewöhnlich still und als ich endlich aufblickte, war das Gesicht meiner Mutter blass geworden. Ich beobachtete wie sie heftig blinzelte und ihre Haltung minimal änderte, so als würde sie sich auf ihrem Sitzplatz momentan sehr unwohl fühlen.

„Wa-" Sie räusperte sich umständlich und ihre Stimme war immer noch etwas kratzig. „Wann?"

Schuldbewusst vermied ich den Augenkontakt. „Das erste Mal vor etwa einem Monat", nuschelte ich und fügte dann rasch hinzu. „Er-er hat auch nach dir gefragt."

Ein komischer kleiner Laut entwich ihren Lippen, bevor sie die Hand hob und sich mit Daumen und Zeigefinger kräftig den Nasenrücken massierte, wie sie es immer tat, wenn sie sich beruhigen wollte.

„Und was- was hat er gesagt?", flüsterte sie und ich erkannte die Tränen in ihren Augen. Mir tat dieser Moment selbst unglaublich weh und ich streckte meine Hand über den Tisch, griff nach ihren Fingern und strich sanft über die weiche Haut.

„Er... meinte, dass er dich auch vermisst und er hat angeboten, mich in meinen himmlischen Fähigkeiten zu trainieren." Mehr wagte ich vorerst nicht zu sagen.

„Ihr habt euch also bereits öfter gesehen und euch unterhalten?", hakte sie nach und atmete tief durch, als ich mit einem Nicken bestätigte. „Und ist er noch so, wie ich ihn dir früher immer beschrieben habe?", fragte sie kaum hörbar und auch diesmal bestand meine Antwort in einer zustimmenden Kopfbewegung.

„Er gibt sich sehr viel Mühe, Mama. Aber da ist noch etwas." Mir war klar, dass sie es von mir erfahren musste. „Er ist kein gewöhnlicher Engel. Er ist Michael." Ich war mir bewusst, dass meine Mutter mit diesen Worten genug anfangen konnte. Sie brauchte keine weiteren Erklärungen.

„Ein Erzengel also." Sie seufzte und dann hörte ich ein bitterliches Aufschluchzen. Eilig stand ich auf, trat um den Tisch herum und lehnte mich von hinten über ihren Stuhl, um meine Arme sanft um ihre Schultern zu legen und sie an mich zu drücken.

„Es wird alles gut, Mama. Ich bin hier. Ist schon gut." Es tat mir selbst unglaublich weh, sie so zu sehen und nichts dagegen tun zu können. Dennoch strich ich ihr beruhigend über die Schulter und sagte das, was ich unbedingt noch loswerden musste.

„Und Changbin ist eigentlich Lucifer."

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Es war bereits spät am Abend und ich machte mich auf den Weg nach Hause - zurück von Seungmin. Der Himmel war sternenklar und die Luft wurde trotz des Sommerabends langsam angenehm frisch, sodass man von der Hitze des Tages abkühlen konnte. Ich war der einzige, der noch unterwegs war und konnte deshalb sogar meine Schritte auf dem gepflasterten Gehweg hören. Die Hände hatte ich in den Hosentaschen vergraben und mein Blick huschte mal nach links mal nach rechts. Trotz meiner geschärften Sinne und den schnellen Reflexen, wollte ich keine unangenehme Überraschung erleben.

Immer noch spukte mir das nervenaufreibende Gespräch mit meiner Mama im Kopf herum und ich konnte nur staunen, dass sie es schlussendlich mit mehr Fassung getragen hatte, als erwartet. Weder die Tatsache, dass Changbin der gefürchtete Lucifer war, noch das ihr ursprünglich todgeglaubter Mann ein Erzengel war, verstörten sie. Beide Offenbarungen hatte sie mit nur einem einzelnen Tränenausbruch und angelegentlichen Seufzern auf sich beruhen lassen. Sie hatte es klanglos akzeptiert, dass ich mich von Michael trainieren ließ und meine himmlischen Kräfte schulte. Ebenso verzieh sie mir, dass ich ihr die Informationen bezüglich meines Vater so lange vorenthalten hatte.

Sie fragte mich noch einige Dinge zu seinem Erscheinen oder zu seinem Verhalten und ich hatte ihr immer ausführlich berichtet. Ich wollte ihr nichts mehr verheimlichen.

Irgendwann aber klingelte mein Handy und Seungmin hatte gefragt, ob ich vorbeikommen könne, weil sich seine Eltern wohl heftig gestritten hatten und er nicht allein sein wollte. Meine Mutter hatte dem Telefonat gelauscht und mich förmlich dazu gedrängt, zu ihm zu gehen. Sie selbst versicherte mir, dass sie ebenso Ruhe bräuchte, um alles zu verarbeiten und so sagte ich Minnie schließlich zu.

Einige Stunden war ich bei ihm geblieben, hatte ihn mit lustigen Videos oder Gesellschaftsspielen abgelenkt und schließlich waren Seungmins Eltern im Streit auseinandergegangen. Seine Mutter hatte das Haus verlassen und die Tür lautstark hinter sich zugeworfen. Das durchdringende Geräusch hatte Seungmin zum Zusammenzucken gebracht.

Es war schwer, meinen Kumpel so niedergeschlagen zu sehen und deshalb bemühte ich mich, ihm etwas Trost zu spenden. Doch schließlich hatte Minnie selbst entschieden, dass er schlafen gehen wollte und hatte sich mit einer festen Umarmung dafür bedankt, dass ich ihm über den Tag geholfen hatte.

Und nun war ich also auf dem Rückweg zu meinem Wohnhaus.

Anstatt jedoch in meine Straße einzubiegen, blieb ich plötzlich stehen, da eine Stimme in meinem Kopf wie ein leises Summen erklang.

„Felix?"

Das war mein Vater. Nur er hatte diese ruhige Stimme und dennoch den nötigen Einfluss, um dieses Gefühl der Dringlichkeit in mir auszulösen.

„Ja Vater?"

„Komm bitte zur Lichtung." Das war alles was er mir verriet und es war fast so, als könnte ich gar nicht Nein sagen. Ich gab ihm die Zustimmung also quasi ohne einmal richtig nachzudenken.

„Okay." Gerade als ich mich umdrehte, um in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, warf ich einen flüchtigen Blick die Straße entlang und sah auf mein zuhause, das in einiger Entfernung hell erleuchtet zu erkennen war. Doch zunächst musste ich in Erfahrung bringen, was meinen Vater dazu veranlasste, mich zu sich zu zitieren.

Meine Schritte lenkte ich wie von allein zur großen Wiese und dem angrenzenden Wald mit der Lichtung. Vor knapp zwei Wochen hatte ich den Weg hierhin mit so vielen Fragen angetreten. Ich hatte mit mir selbst gerungen, meinen Vater und Changbin an einen Ort zu rufen und hatte danach so viele Dinge gleichzeitig erfahren, dass ich es nur schwer hatte erfassen können und selbst jetzt wusste ich noch nicht, ob ich noch mehr Fragen hatte oder lieber keine weiteren Antworten hören wollte.

Vermutlich würde ich mich jedoch zwangsläufig für die Wahrheit und die Konfrontation entscheiden. Selbst die komplizierten Erklärungen meines Vaters konnten mich am Ende nicht abschrecken. Vor genau dreizehn Tagen hatte er mir einige große Offenbarungen ermöglicht und genauso viele Konflikte in meinem Inneren entfacht. Dank derer ich selbst vor meinen Freunden einige Geheimnisse hatte.

Unterbewusst hatte ich wohl auch meine Kräfte eingesetzt, denn ich schaffte es in weiteren fünf Minuten zu dem kleinen Hain und den hohen Hecken, die einen Teil der freien Waldfläche vor den Blicken der Außenwelt abschirmten. Trotz meines frühen Eintreffens wurde ich bereits erwartet.

Mein Vater stand am Rande der Lichtung. Er trat aus dem Schatten der Bäume, sobald er mich erkannte. Seine Augen leuchteten in diesem hellen Blau und wirkten zum Teil besorgt und andererseits fest entschlossen. Auch zwei Wochen zuvor hatte ich diesen Ausdruck bei ihm lesen können, heute war er ähnlich markant und erweckte in mir nur noch mehr Unbehagen.

„Ist alles in Ordnung?", fragte ich ihn mit betont ruhiger Stimme, bevor ich von mir aus ein paar kleine Schritte auf ihn zu machte und dann von ihm an der Schulter gefasst wurde.

„Wie man es nimmt", wich er einer direkten Antwort aus und sah sich nochmal prüfend um.

„Was ist denn los? Warum hast du mich heute hierher gerufen? Irgendwas muss passiert sein, sonst hättest du nicht eindringlich drauf bestanden", fasste ich die Situation aus meiner Sicht zusammen und der Engel vor mir neigte seinen Kopf.

„Du hast recht. Ich hatte einen guten Grund dich herkommen zu lassen. Nach den vielen Überraschungen bei unserem letzten Treffen ist mir klar geworden, dass du den Rest auch erfahren musst."

Seine Worte waren für mich mehr als kryptisch und ich runzelte die Stirn, legte den Kopf ein wenig schief und versuchte aus dem Wenigen, das ich wusste, schlau zu werden.

„Geht es um Changbin? Hast du mir noch mehr verschwiegen, was unsere Beziehung angeht?" Diese Frage war zwar schroff, doch ich hielt sie für angemessen, da ich auch nicht gerade geschont worden war.

„Nicht direkt... Aber natürlich läuft alles schlussendlich dennoch auf ihn hinaus", antwortete mein Vater und ich schnaubte ungehalten, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte und ihn anfunkelte. 

„Entschuldige bitte, Felix. Du musst wissen, diese Wahrheit fällt mir auch nicht leicht auszusprechen. Sie ist viel komplexer, als du es dir vorstellen magst, sogar komplizierter, als sich jeder Normalsterbliche vorstellen kann..."

„Du machst es mir mit diesen Worten leider nicht einfacher, Vater. Ich verstehe noch immer nicht, was genau du mir mitteilen willst."

Der Engel löste seine Hand von meiner Schulter, blickte hinauf in den Sternenhimmel und lächelte dann grimmig. Sein Kopf senkte sich wieder und nun starrten seine hellen Augen eindringlich direkt in meine.

„Ihr wisst nicht alles über das Ritual, das euch an die Dämonen bindet. Sicher haben ein paar Wesen versucht, dir etwas darüber zu erzählen. Möglicherweise hat Lucifer sich sogar bemüht, es dir und sich selbst zu erklären. Doch lass mich dir eines sagen. Sie wissen nichts über diese Bindung. Sie sind Unwissende."

Ein unangenehmer Schauder lief über meinen Rücken und ich konnte meinen Blick nicht von dem Engel vor mir lösen. Er strahlte in diesem Moment eine unglaubliche Souveränität aus und ließ mich keine Sekunde daran zweifeln, dass endlich der Augenblick gekommen war, in dem ich das wirklich Entscheidende erfahren würde.

„Er hat es versucht... genau wie Jungkook." Ich dachte kurz an die Worte des Dämonen zurück, die er damals ganz am Anfang unserer Bekanntschaft zu mir gesagt hatte. „Selbst ich weiß erschreckend wenig über dieses Ritual." Changbin hatte es damals sofort zugegeben. Manchmal hatte ich daran gezweifelt, dass er dabei aufrichtig zu mir war, aber jetzt würde diese Aussage sich offenbar bewahrheiten.

„Sie meinten beide, dass das Ritual alt und mächtig ist und dass es bis jetzt wenige Menschen getestet haben", fasste ich mein Wissen zusammen.

„Das dachte ich mir. Felix." Meinen Namen betonte der Engel und stellte damit sicher, dass mein Fokus vollständig auf ihm lag. Keine anderen Gedanken ließ mein Gehirn im Augenblick zu.

„Die Beschwörung, die ihr gesprochen habt... sie wurde nicht von einem Menschen, einem Hexenmeister oder einem anderen Wesen auf dieser Welt erschaffen." Erneut unterbrach sich mein Vater und schien mit sich selbst zu ringen. Es war, als würde die Wahrheit ihn verlassen wollen, doch irgendetwas hielt ihn davon ab.

„Meinst du damit, dass ein Dämon diese Bindung geschaffen hat? Warum sollte er sowas tun? Schließlich sind die Dämonen ebenfalls Benachteiligte in dieser Situation. Oder nicht?"

Meine Überlegungen sprudelten nur so aus mir heraus, allerdings stoppte ich mich selbst, als ich spürte, wie mein Vater nach meiner Hand griff, sie fest in seine nahm und nachdrücklich den Kopf schüttelte.

„Nein, auch kein Dämon hat sich diese Art der Grausamkeit einfallen lassen", hauchte er und sah mich beinahe entschuldigend an. „Es war ein himmlisches Wesen... ein Wesen, dem nicht einmal ich Einhalt gebieten kann."

Meine Augen weiteten sich ungläubig, als ich die Tragweite seiner Worte realisierte.

Bei unserer letzten Begegnung hatte er mir noch gestanden, dass er, Michael, einer der gefürchtetsten und einflussreichsten Engel im ganzen Himmel war. Ach was, er war der einflussreichste.

„A-aber das- das bedeutet ja..." Ich konnte nicht weitersprechen und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ein zurückhaltendes Nicken kam von meinem Gegenüber.


„Richtig Felix. Es ist Gottes Schöpfung."





Apologie des Teufels: Erinnert euch daran, daß ihr nur die eine Seite der Hypothese gehört habt. Die Bücher schrieb alle Gott. – Samuel Butler 

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Wisst ihr, bei den beiden heutigen Kapiteln beneide ich euch wirklich sehr... ihr könnt jedes Wort zum ersten Mal lesen und hoffentlich all die Emotionen durchleben, die ich hervorrufen will. Und ich, ich habe nicht diesen tollen Überraschungsmoment (zumindest nicht wenn ich es lese), weil ich ja die Idee und Handlung gefertigt habe... ich weiß vorher was passiert und das, auf was ich mich wirklich freue, sind eure Reaktionen. Also lasst mir gern eure Gedanken und Meinungen da. 💕

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