Der blutige Turm
Seungmins Pov:
Der Dienstagnachmittag kam schneller als erwartet. Der Anfang der Woche war diesmal etwas angespannt gewesen. Wahrscheinlich steckte uns allen noch das Wochenende und Felix Offenbarung in den Knochen. Als ich ihn gestern vor der Schule wiedergesehen hatte, war er erstaunlich gefasst. Er schilderte uns in knappen Worten, was Changbin ihm über Nephilim anvertraut hatte und erzählte auch von einem weiteren Gespräch mit seiner Mutter, die diese ganze Geschichte genauso erstmal verdauen musste.
Alles in allem war er aber erstaunlich normal. Seine Haut hatte aufgehört zu leuchten, nur die Augen und Haare verrieten die Veränderung. Doch kaum jemand schien sich daran zu stören, da es für beides halbwegs plausible Erklärungen gab.
Hwanwoong hatte Felix sogleich einige Komplimente gemacht und war so fröhlich und aufgedreht wie eh und je. Ihn konnte man wohl leichter täuschen als seinen Bruder. Dieser hatte den Kopf minimal schief gelegt, den jetzt blonden Jungen betrachtet und dann eine Augenbraue gehoben. Doch Gunhak blieb so einsilbig wie immer und deshalb war schwer zu sagen, was er dachte.
Jedenfalls waren das die einzigen nennenswerten Ereignisse gewesen. Alles andere war auffallend unauffällig. Nun gut, bis auf meinen Hals...
Ich hatte gestern früh einen kleinen Zusammenbruch erlitten, als ich in den Spiegel sah und die rötlich bis lila verfärbten Druckspuren des Halsbandes mir förmlich entgegensprangen. Leider konnte dieses nicht annähernd den Schaden verdecken, den es angerichtet hatte und so musste ich mit Make-up nachhelfen.
Glücklicherweise war es bisher keinem aufgefallen. Oder meine Freunde sprachen mich schon gar nicht mehr darauf an, einfach weil sie die Wildheit der Dämonen selbst kannten und wussten was ich durchmachte.
Unbemerkt huschte ich jetzt vom Bad, wo ich nochmal gecheckt hatte, dass mein Make-up noch saß und meine Eltern die Spuren nicht bemerken würden, zurück zu meinem Zimmer und war nur milde überrascht, Chan wartend vor meinem Schreibtisch vorzufinden.
„Und bist du bereit?" Seine Stimme beruhigte mich irgendwie und dennoch wurden meine Wangen zart rot, als ich an Sonntag zurückdachte. Chan trat näher und etwas fragend starrte ich in die belustigt funkelnden Augen. Er stand nun dicht vor mir und betrachtete meine Jeans und das lockere Shirt, das ich trug.
„Das müssen wir definitiv noch ändern bevor wir gehen", stellte er mit einem kritischen Blick fest und sah dann auch an sich selbst herab. Er trug ebenfalls eine dunkle Jeans und ein enges schwarzes Hemd. Dann grinste er und sah wieder in meine Augen. „Ich werde uns beiden jetzt ein kleines Umstyling verpassen." Mit diesen Worten schnippte er mit dem Finger und ich blinzelte überrascht, als mich diese seltsam prickelnde Magie durchströmte.
Hastig blickte ich an mir herab, als ich die grobe, ja fast schon raue Verarbeitung des Stoffes auf der Haut spürte und betrachtete verwundert die Robe, die eher eine Person der frühen Neuzeit kleiden würde, als einen modernen Menschen. Als ich schon fragen wollte, warum ich dieses seltsame Gewand trug, erkannte ich, dass Chan ganz ähnlich angezogen war und plötzlich erinnerte mich unsere Aufmachung an all die Filme, in denen man das Altertum darstellte. Mit Rittern, Königen und Burgen. Aber warum trugen wir solche Kleidung?
„Chan? Was machen wir jetzt?", fragte ich immer noch eher skeptisch und trat zum Spiegel, um mich besser betrachten zu können.
„Soll ich dir diese Überraschung wirklich schon verraten?"
Tatsächlich überlegte ich einen Moment und drehte mich wieder zu ihm. „Ich weiß nicht so recht... vielleicht doch nicht. Aber dann weiß ich ja auch nicht, auf was ich mich vorbereiten muss", erwiderte ich leise.
Bevor ich meiner Fantasie weiter freien Lauf lassen konnte, griff Chan nach meiner Hand und zog mich plötzlich mit einem kräftigen Ruck an seine Brust. Er hielt mich fest an sich gedrückt und sah mit einem belustigten Funkeln und dem Glühen seiner gelben Dämonenaugen in meine.
„Sagen wir es so. Du solltest auf unserer Reise heute nicht den Kopf verlieren Puppy."
Dann hörte ich nur noch ein Kichern und als nächstes wurde alles um mich herum in ein grelles rotes Flammenmeer getaucht. Um uns tobte ein Sturm aus Feuer und wir standen mittendrin, bewegten uns keinen Millimeter und dennoch spürte ich das eigenartige Ziehen, so als würde ich dennoch vom Fleck bewegt werden.
Doch schon mit dem nächsten Atemzug ließ das Gefühl nach und auch die gelben Dämonenaugen vor mir, wurden langsam wieder braun. Alles war wieder normal. Keine Flammen und keine Hitze. Nur ein leicht muffiger Geruch und ein offenbar recht kleiner Raum.
„Wo sind wir?", wisperte ich diesmal und klammerte mich an den hübschen Jungen vor mir. Statt einer Antwort wurde ich am Handgelenk gepackt und eine hölzerne Tür wurde von meinem Begleiter aufgestoßen. Helles Licht flutete den kleinen Raum und ich kniff kurz die Augen zusammen, bevor ich hinaus auf eine Gasse blickte und auf die gegenüberliegende Steinwand.
„Überzeug dich doch mit deinen eigenen Augen davon, Seungmin". Kam es keck als Antwort und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als ich meine Neugier tatsächlich nicht mehr zügeln konnte und in die schmale Gasse trat. Der Untergrund war mit groben Steinen ausgelegt und die Luft um mich herum roch ganz anders, als Zuhause. Es war nicht unbedingt ein unangenehmer Geruch. Zumindest nicht verschmutzt von Abgasen oder Fabrikanlagen. Erst jetzt hörte ich mehrere Stimmen vom Ende der Gasse, die wohl an eine große Straße anschloss.
Dann drehte ich mich zu Chan um und sah ihn ungläubig an. „Wir-wir sind doch nicht etwa wirklich...?" Meine Füße trugen mich wie von allein die schmale Gasse entlang und mein Begleiter folgte mir. „Das kann nicht wahr sein."
Ungläubig starrte ich auf die Szenerie vor mir und fragte mich, ob ich träumte.
Die Straße war angefüllt mit umhereilenden Personen. Diese liefen die Straße hinauf oder hinunter. Wieder andere saßen auf Pferden oder fuhren in einem Karren oder kleineren Kutschen. Weiter oben auf der Straße erkannte ich mehrere Verkaufsstände, die mit frischen Lebensmitteln befüllt waren. Die Menschen davor verhandelten lautstark über den Preis.
Dann bogen mehrere Reiter in die Straße ein und trieben ihre Pferde energisch voran. Sie preschten in enormem Tempo auf ein riesiges Bauwerk zu, dass etwas weiter hinten über alle anderen Gebäude hinausragte.
Nun drehte ich mich wieder zu Chan um.
„Wir sind in der Vergangenheit?", fragte ich vorsichtshalber nochmal nach und erhielt von meinem Begleiter ein erfreutes Nicken.
„In welchem Land befinden wir uns gerade? Ich erkenne zwar, dass es Europa sein muss, aber mehr weiß ich leider auch nicht", murmelte ich und war ein wenig enttäuscht über mein mangelndes Wissen.
„Wir sind in England. Genauer gesagt London. Einer der blühenden Städte des spätmittelalterlichen Lebens." Gab mir Chan bereitwillig Auskunft. Schon wanderte mein Blick erneut über die faszinierend fremde und bereits vergangene Zivilisation, die ich nun mit eigenen Augen bewundern durfte.
Ich liebte Geschichte. Ich liebte diese alten Erzählungen und die faszinierenden Kulturen. Auch über England wusste ich einiges. Über seine Konflikte mit anderen Ländern, die Könige und auch über ihre berühmten Künstler und Philosophen. Sogleich kamen mir die beiden Gelehrten und Staatsmänner am Königshof in den Sinn. Morus und Cromwell.
„Welches Jahr?" Je länger ich die umliegenden Gebäude und das Verhalten der Menschen beobachtete, desto faszinierter und gefesselter war ich.
„1536" Kam es schlicht und einfach über die Lippen des Dämons und ich schnappte nach Luft.
„1536?" Mein Gehirn braucht ein paar Sekunden, um diese Zahl irgendwie einzuordnen und dann realisierte ich erst, wie krass das eigentlich war. Doch bevor ich schon wieder verbal kundtun konnte, wie abgefahren das alles war, hörte man das durchdringende Läuten einer Glocke und Chan griff nach meinem Arm.
„Komm jetzt Minnie. Du kannst dich später noch genug über all die Besonderheiten und Raffinessen des Mittelalters freuen. Aber wir wollen doch nicht zu spät kommen."
Schon wurde ich die breite Straße entlanggezogen und bemerkte, dass wir uns auf das Bauwerk zubewegten, das aussah wie eine Festungsanlage. Von dort schallte auch die Glocke zu uns herüber und ich bestaunte weiterhin die Bauanlage, die nun im Zentrum meines Blickfeldes lag.
Zuallererst erkannte man einen nahezu viereckigen Bau in der Mitte, der von vier Ecktürmen begrenzt wurde und alles andere um Längen überragte und sich majestätisch in den Himmel erhob. Dann erkannte man eine oder vielleicht auch zwei Mauern.
Ich kniff die Augen zusammen und stellte dann fest, dass es sich tatsächlich um mehrere Schutzwälle handelte, die nach innen immer höher wurden. Aber noch beeindruckender war es, dass die Wände des Gebäudes hell und sauber erstrahlten. Ohne zu zögern konnte man feststellen, dass dieses Gebäude für die Stadt von größter Wichtigkeit war.
Dann endlich kamen mir Chans Worte wieder in den Sinn.
„Zu spät wofür? Wohin wollen wir eigentlich?"
„Wir sind auf dem Weg zum Tower of London." Chan deutete auf das pompöse Gebäude und zog mich dann weiter mit sich. „Und mehr werde ich dir nicht verraten."
Seine Worte klangen selbst so, als würde er sich auf das Folgende freuen und ich war sowieso noch vollkommen geflasht von der Erkenntnis, dass ich gerade auf den Tower of London zumarschierte, den ich noch nicht einmal zu meiner normalen Lebzeit mit eigenen Augen gesehen hatte. Also lief ich bereitwillig neben ihm her und sah zu, wie die Festungsanlage immer größer wurde und wir schließlich am Wassergraben und der darüber führenden Brücke anlangten.
Das Holz unter unseren Füßen gab ein hohles Geräusch von sich, als wir mit gemächlichen Schritten auf das Eingangstor, das zum Innenhof des Towers führte. Sobald wir jedoch fast auf der anderen Seite angelangt waren, traten uns zwei grimmig aussehende Soldaten in den Weg und versperrten den Durchgang mit ihren Lanzen. Ich erschreckte mich ein wenig und trat näher zu Chan.
„Der Tower ist heute für alle Händler und Passanten gesperrt. Nur die gehobenen Personen sind befugt dem Prozess beizuwohnen." Brachte die eine Wache barsch hervor und ich wäre beinahe zurückgezuckt, als sie mit so viel Nachdruck sprach. Doch als ich unsicher zu Chan hinüberschielte, glommen dessen gelbe Augen für einen Moment auf und dann sprach er mit autoritärer Stimme. „Wir gehören zu den Personen, deren Anwesenheit erwünscht ist. Denken sie nochmal gut nach."
Fast wie auf Knopfdruck konnte man erkennen, wie sich die Mimik und Gestik unseres Gegenübers wandelte und auf einmal war er höflich und sehr zuvorkommend. Es war unglaublich faszinierend, Chans Kräfte in Aktion zu sehen. Vor allem, wenn er mit solch spielender Leichtigkeit einem Menschen seinen Willen aufzwang.
„Aber natürlich eure Hoheit. Entschuldigt bitte, dass ich euch nicht sogleich erkannt habe." Er verbeugte sich vor dem Dämon und trat dann eilig zur Seite. Und schon setzte sich Chan in Bewegung. Eilig tat ich es ihm gleich und lief mit schnellen Schritten neben ihm her.
„Chan? Was machen wir hier? Wieso meinte er der Ort, an den wir offensichtlich gehen, wäre nur für ausgewählte Personen?" In meinem Kopf bildeten sich immer größere Fragezeichen. Doch der Angesprochene schenkte mir nur einen knappen Seitenblick, der mir sagte, ich solle mich gedulden.
Gerade gingen wir einen Kiesweg entlang, der uns durch die insgesamt drei Mauerringe führte. Kurz sah ich mich um und musste feststellen, dass das Verteidigungssystem äußerst clever war. Wie ich vorhin schon bemerkt hatte, war die innerste Mauer die Höchste, so konnten die Verteidiger bei einem Angriff über ihre Verbündeten auf den äußeren Wällen hinwegschießen, ohne sie zu gefährden.
Wir mussten plötzlich abbiegen und liefen an der inneren Mauer entlang. Weiter vorn erkannte ich mehrere gut gekleidete Gestalten, die in diesem Augenblick durch einen weiteren Torbogen verschwanden. Chan und ich steuerten nun ebenfalls auf diesen Durchgang zu. In der Zeit, die wir dazu benötigten die Strecke zurückzulegen, versuchte ich mir nochmal alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich über den Tower of London wirklich wusste.
Jedoch konnte ich mich nur noch sporadisch an die Fakten erinnern. Mir war bewusst, dass der Tower eine Festungsanlage war und deshalb auch auf die Verteidigung ausgerichtet. Allerdings gab es hier auch mehrere Gemächer für royalen Besuch und auch die Münzprägegilde hatte hier ihren Stammplatz. Doch hauptsächlich war dieser Ort wohl für die Unterbringung von Gefangenen berüchtigt.
Dann endlich traten wir durch den letzten Verteidigungsring, der durch einen kleineren gedrungenen Turm unterbrochen wurde, in den Innenhof. Nun erhob sich das Gebäude mit den vier Türmen, der wie ich mich jetzt erinnerte White Tower hieß, erhaben direkt vor uns. Mein Blick war allerdings nur kurz von dem prachtvollen Bau eingenommen, bevor er sich auf die kleine Menschenansammlung legte, die auf einer Grünfläche links von uns stand. Sie drängte sich vor einer hölzernen Bühne. Es war eigentlich nur eine quaderförmige Erhöhung, die jeden der darauf stand für die Umstehenden gut sichtbar machte.
Ich blieb unvermittelt stehen und sah mir das Bild an und etwas an diesem Anblick ließ meine Nervosität ansteigen. Doch dann spürte ich, wie Chan nach meiner Hand griff und mich mit sanfter Bestimmtheit in die Richtung der fein gekleideten Menschen zog. Er umrundete die Menge dabei halb, sodass wir in die Nähe eines Arkadenganges kamen und somit am Rand der Menschenansammlung blieben. Aber dafür trat er weiter nach vorn, sodass wir eine gute Sicht auf die Erhöhung hatten.
Mein Verstand sagte mir, dass mir diese Szenerie auf eine seltsame Art und Weise vertraut erschien, aber ich partout nicht wusste woher. Erst als ein dunkel gekleideter Mann aus einem Nebengebäude trat und sich einen Weg durch die Menge und über eine kleine Treppe auf die Bühne bahnte, durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz.
Das war keine Bühne... das war ein Richtplatz und die Menge war hier, um auf die Hinrichtung einer Person zu warten.
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Und wie gut sind eure Geschichtskenntnisse?
Wessen Hinrichtung werden sie sich ansehen?
Achso und ein kleiner Funfact am Rande. Der Tower of London umfasst tatsächlich einen Turm, den man Bloody Tower nennt. Und dieser ist auch gleichzeitig einer der Durchgänge in den Innenhof. Ich habe es so beschrieben, dass Chan und Seungmin genau diesen Weg nehmen. Deshalb auch der Titel.
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