Das 3.Kapitel
"Wissen Sie, der Zettel hat mich zur Besinnung gebracht. Er hat mir gezeigt, wer ich bin und was richtig ist. Mein Vater hat ihn mir aus dem Gefängnis geschrieben. Sie haben ihn hinter Gitter gesperrt, ich habe ihn nie wieder gesehen.
Oft habe ich ihn vermisst. Oft hätte ich jemanden gebraucht, der mir gezeigt hätte, was ich hätte tun sollen.
Können Sie das nachvollziehen, Doktor?
Ich war so verloren in einer grossen, grausamen Welt und niemand hat mir geholfen, ich war allein. Da habe ich meine Freunde kennengelernt. Wir waren alle im gleichen Heim, waren gefesselt und unserer Freiheit beraubt. Können Sie mir folgen, Doktor?
Jeden Tag das Gleiche: Aufstehen, Anziehen, Frühstücken im Saal, genau um viertel ab sechs; dann hinauf in die schäbigen Zimmerchen rennen und die Schulsachen holen, nur um dann trotzdem zu spät zum Unterricht zu kommen und nachsitzen zu müssen. Sie haben uns nichts beigebracht, das ich jemals wieder gebraucht habe. All die unnützen Stunden, all die Zeit, in der ich an meiner Technik hätte feilen und üben hätte können. Einfach vergeudet mit Zeichnen, mit einem Kaugummi kauenden Psychologen über seine angeblichen Probleme sprechen und damit, zu lernen, wie man sich in der Welt verhalten soll.
Zeichnen kann ich jetzt, alle Kunstwerke beweisen es, aber die Ersten, die ich erlöst habe, sind gründlich schiefgegangen. Wir haben immer nur mit Pinsel oder Farbstift gezeichnet, wissen Sie, Doktor, da hatte ich überhaupt keine Übung. Ich sag's ja, Doktor, einfach nur Verschwendung kostbarer Zeit.
Und die desinteressierten Psychologen haben mir gelernt zu lügen. Das ist eigentlich ein positiver Punkt, wie ich gerade merke, Doktor. Ich habe sie bei jeder Sitzung angelogen, und bei jeder Sitzung wurde ich besser und besser. Anfangs hatte ich noch Schuldgefühle, weil sie immer gesagt hat, man solle nicht lügen. Aber da habe ich daran gedacht, dass sie uns verraten hat und da habe ich ihr nicht mehr geglaubt. Was zählen Worte schon? Sie sind da, um Lügen zu erzählen. Zumindest meistens. Jetzt erzähle ich auch, aber es ist eine Geschichte. Geschichten lügen nicht, das wissen Sie doch hoffentlich, Doktor?
Und wie man sich in der Welt verhalten soll, um nicht aufzufallen, das hat mir am meisten geholfen. Ich hatte den perfekten Tarnmantel, niemand hat mich erkannt, niemand bemerkt, wer ich bin oder was ich tue. Niemand. Und so konnte ich immer alles makellos arrangieren, bis in's kleinste Detail planen, damit nichts schiefgeht.
Ich bin Perfektionist, wissen Sie, Doktor.
Bei mir muss alles perfekt sein. Verstehen Sie das, Doktor?
Wenn ich jetzt nachdenke, haben mir die unnützen Stunden doch etwas gebracht. Aber man hätte die Nützlichkeit noch optimieren können, da stimmen Sie mir sicher zu, nicht wahr, Doktor?"
Ein nachdenkliches Nicken.
Dann ein verwirrtes Aufschrecken und ein darauf folgendes Zusammenzucken der gegenübersitzenden Person.
"Wo bin ich stehengeblieben?"
Ein hastiges Blättern durch die Notizen. Ein Suchen nach etwas, das man nicht finden will.
"Ah, Sie können aufhören zu suchen, Doktor, ich weiss, wie ich weitermachen kann."
Ein Zurücklehnen und ein kurzes Verziehen des Gesichtes, als der Rücken gegen die unbequeme Holzlehne stösst.
"In diesen öden Stunden voller Langeweile habe ich sie kennengelernt, meine Freunde. Sie waren ein Lichtblick in einer Welt voller Dunkelheit. Ich habe sofort erkannt, dass wir uns verstehen werden. Martha war schon da, als ich im Heim abgesetzt wurde, sie ist mir nur lange Zeit nicht aufgefallen, da sie so still war. Die perfekte Tarnung hatte sie damals schon beherrscht. Es hat geschneit, als wir uns das erste Mal unterhalten haben, ich erinnere mich genau. Viele Worte sind nicht gefallen, wir haben sie beide für unnötig gehalten. Sie hatte gerade ein Eichhörnchen aus dem Winterschlaf gerissen und es mit einem Messer aufgespiesst. Als ich mich ihr genähert habe, wollte sie es zuerst verstecken, aber als sie gemerkt hat, dass meine Augen wohl begeistert funkelten, hat sie es mir zögernd gezeigt. Mit einer Seelenruhe hat sie ihm das weiche Fell abgezogen, während ich daneben gesessen und zugeschaut habe. Ohne Worte. Wir haben uns ohne Worte verstanden, können Sie das nachvollziehen, Doktor?
Wir sind uns immer öfter über den Weg gelaufen und in unser beider Augen hat ein stilles Verständnis geherrscht. Wir haben uns auch heimlich getroffen, in der Nacht sind wir heimlich zueinander geschlichen und haben unser nächstes Opfer besprochen. Ja, schon damals haben wir alles geplant."
Ein stolzes Anschwellen der Brust und ein glückliches Grinsen.
"Schon bald hatten wir unser erstes Opfer, ein nerviges Mädchen, das mich des öfteren verfolgt und mir die wahre Liebe vorgegaukelt hatte, umgebracht. Sie war übrigens eines der Opfer, das schiefgegangen ist. Martha hat darauf gestanden, ihr die Haut abzuziehen und das, während sie noch lebte. Sie hat natürlich geschrien wie am Spiess und fast wären wir entdeckt worden. Danach haben wir sie heimlich in den Müllcontainer geschmissen, sie ist erst gefunden worden, als der Verwesungsprozess derart stark eingesetzt hatte, dass keine Fingerabdrücke mehr zu sichern waren.
Riechen Sie den Gestank auch, Doktor? Er hängt jetzt noch in meiner Nase."
Ein Nasenrümpfen.
"Einige Tage, nachdem der Körper gefunden wurde, kam ein Neuer. Ich denke, Sie wissen, wer es sein könnte, oder?"
Zusammengepresste Lippen und ein verzweifeltes Schütteln des Kopfes.
"Also wirklich, Doktor, passen Sie bitte ein wenig besser auf."
Ein enttäuschtes Ausatmen.
"Sein Name war Lucien. Erinnern Sie sich jetzt, Doktor?"
Ein leichtes Nicken, aber keine Worte.
Erleichtertes Aufseufzen.
"Also, Doktor, Lucien war der dritte im Bunde. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, stand er mit einem blauen Augen und blutverkrusteten Haaren vor dem Eingang des Heims. Es war schon Frühling geworden, Blumen spriessten überall und passten so gar nicht zu dem Jungen, der angekommen war. Als die Heimleiterin das erste Mal mit ihm sprach, war sie doppelt geschockt. Seine stimme war fein und melodiös, aber seine Worte waren toll. Na ja, für sie eher weniger. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Doktor?"
Sofort weitere Worte, kein warten auf eine Antwort, die sowieso nur aus Kopfschütteln bestehen würde.
"Er hat ihr schon am ersten Tag damit gedroht, dass er sie umbringen würde, wenn sie ein falsches Wort an ihn richtete. Es hat ihr natürlich die Sprache verschlagen und Lucien unzählige Therapiestunden mit dem bekloppten Psychiater eingehandelt, aber seine Worte haben mich wirklich beeindruckt. Das erste und das letzte Mal, dass ich mich um Worte gekümmert habe.
Zufälligerweise war in meinem Zimmerchen noch ein Bett frei und so kam Lucien zu mir. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Ich mochte seine Morddrohungen, er hat wirklich mit Worten umzugehen gewusst. Mit ihm hat alles gleich nochmal viel mehr Spass gemacht. Schon kurze Zeit später waren wir unzertrennlich, Martha, Lucien und ich. Und spätestens ab unserem ersten gemeinsamen Mord schien unsere Allianz unzerstörbar. Kennen Sie diese Gefühl, Doktor?
Nur im Punkt Mord waren wir uns nicht einig. Für Lucien war es Rache und für Martha Entspannung. Sie haben nicht verstanden, dass es hierbei um Erlösung geht. Wir waren trotz allem sehr verschieden."
Ein wehmütiges Lächeln.
"Ich vermisse sie ein wenig, weissen Sie, Doktor. Sie waren ein stückweit so wie ich. Alleine, meine ich. Sie wussten nicht, wo sie hingehörten. Wie Ballone, die losgelassen wurden und nun vom Wind in eine beliebige Richtung getrieben wurden. Nun, bei mir und meinen Freunden war es die richtige. Wir haben viele Leute umgebracht, niemand hat uns verdächtigt. Doch ich muss hier wirklich betonen, wir hatten sehr verschiedene Ansichten.
Lucien zum Beispiel, er hat seine Opfer immer vergewaltigt und sie anschliessend durch eine Kugel getötet. Er hat keine Ahnung gehabt, wie man das richtig macht. Ich habe es ihm gezeigt, als ich ihn mir vorgenommen habe.
Bei Martha war es schon etwas Anderes. Sie hat all ihre Opfer gehäutet und ihnen Zeichen in die blutige Haut geritzt, sie hat es geliebt Spielchen zu spielen. Jeder, den sie umgebracht hat, hat geschrien, aber das ist nicht das Schlimmste. Sie selbst hat es genossen!
Können sie sich vorstellen, wie krank sie war, Doktor?
Ja, anfangs waren wir drei noch eine Einheit gegen den Rest der Welt, aber mit der Zeit begann unsere Allianz zu bröckeln. Mit jedem Mord wurden unsere Unsinnigkeiten grösser.Martha wollte sie häuten, Lucien vergewaltigen und ich sie ohne Laut erlösen. Oft haben wir tagelang gestritten und danach für Wochen keine Worte mehr gewechselt. Nicht, dass Worte wichtig wären, aber damals sind sie trotzdem wichtig gewesen.
Wir sind unsere gesamte Jugend im Heim geblieben. Natürlich nicht freiwillig. Sobald wir alle drei volljährig waren, hauten wir ab. An Lucien's Geburtstag haben wir unsere wenigen Habseligkeiten gepackt, während alle Heimbewohner unten vor der Geburtstagstorte gesessen und gedacht haben ,wir würden gleich herunterkommen. In Martha's Zimmer haben wir uns durch das kleine Fenster gequetscht und sind hinunter auf den Müllcontainer gesprungen, in dem wir unsere erste Leiche verschwinden lassen hatten. Zurückgeblickt haben wir nie. Als wir draussen in der Welt waren, musste wir wieder einmal erkennen, wie schlecht sie war. Nur Geld hat gezählt, sonst nichts. Also haben wir auch so gedacht.
In den ersten Wochen haben wir jeden ausgeraubt, der uns über den Weg lief. Martha hat die Männer in eine dunkle Gasse gelockt, dann haben wir sie bewusstlos geschlagen, ausgeraubt und anschliessend in einer verlassenen Fabrikhalle erlöst. Damals hatten wir uns darauf geeinigt, dass jeder alleine über ein Opfer bestimmen durfte, das heisst, ich konnte jedes dritte Opfer ordnungsgemäss erlösen.
Schon bald hatten wir genug Geld, um uns eine Wohnung zu leisten und ich fing an zu studieren, während Martha in einer Bar arbeitete und Lucien als Elektriker.
Wir haben einfach vor uns hingelebt, hin und wieder jemanden getötet und waren soweit glücklich. Aber dann passierte es.
Ein Mann war Martha in der Gasse aufgelauert und vergewaltigte sie, dann liess er sie liegen. Sei wäre beinahe verblutet!"
Ein Wutschrei und ein erschrockenes Zusammenzucken.
"Sie wollte den Mann natürlich auf's Grausamste foltern, während ich ihn einfach aus der Welt schaffen und Lucien ihn erschiessen wollte. Da hat Lucien einfach eine Pistole genommen und ihm eine Kugel in den Schädel gejagt.
Martha war derart wütend, dass sie nur noch geweint hat. Da habe ich entschieden, ihr zu helfen. Sie hatte es nicht verdient, mit Schmerzen zu leben, sie war zu gut für diese Welt. Ich habe sie erlöst, aber sie hat geschrien."
Ein deprimiertes Seufzen.
"Lucien kam mit Martha's Tod nicht klar und war nur noch ein Schatten seiner selbst, dahaben ich es noch einmal auf mich genommen und ihn ertränkt. Auch er hat versucht zu schreien, aber er hat bemerkt, dass ihm so nur noch mehr Wasser in die Lungen strömt, da hat er es aufgegeben."
Schweigen.
"Trotzdem waren sie die wichtigsten Personen in meinem Leben, ich habe sehr lange gezögert, bis ich sie endlich erlöst habe. Ich hätte das nicht machen sollen, wie Sie ja wissen, haben sie sich als unwürdig herausgestellt. Aber ich bereue es nicht und würde es wahrscheinlich wieder machen, auch wenn es falsch wäre.
Tja, jetzt kennen Sie meine Freunde. Sie sind nett, nicht wahr, Doktor?
Aber genug von ihnen, ich erzähle noch ein bisschen weiter. Es gab noch bessere Opfer.
Ich habe viele Menschen erlöst, auf ganz verschiedene Arten und Weisen. Ich bin sehr kreativ, wissen Sie?
Mein würdigstes Opfer war, dessen bin ich mir ganz sicher, ein Mann namens Thierry. Raten Sie mal, was ich mit ihm gemacht habe!"
Ein Kopfschütteln und zusammengepresste Lippen.
Dann ein zitterndes "Nein".
"Sie sind ja heute gar nicht gesprächig. Schade, dass ich mir nicht selber einen Psychiater aussuchen kann, aber was soll's, so muss ich halt mit Ihnen vorlieb nehmen. Sie könnten jedoch wenigstens ein bisschen mehr Interesse zeigen, schliesslich waren Sie diejenige, die meine Geschichte unbedingt hören wollte.
Also, mein würdigstes Opfer oder meine beste Erlösung war ein Mann namens Thierry. Ich habe ihm tausend Schnitte zugefügt, ich habe sogar mitgezählt, als die Klinge auf seiner Haut entlanggefahren ist und sie geteilt hat. Er muss gelitten haben, oh ja, aber er hat nicht geschrien. Kein Laut ist über seine Lippen gekommen, er hat sie so zusammengepresst wie Sie eben gerade. Er war ein Mann aus der Unterschicht, Müllmann von Beruf, das harte Leben war ihm zur Gewohnheit geworden. Er hatte eine Frau, die er über alles liebte und zwei kleine Kinder.
Ja, ich habe gründlich nachgeforscht wie bei all meinen anderen Opfern auch, ich weiss über jeden zu berichten. Jede Kleinigkeit, alles.
Auf jeden Fall hat er, während ich ihn habe leiden lassen, nicht einmal geschrien. Er hat seine Sache sehr gut gemacht, ich hatte noch nie ein besseres Opfer und ich war wirklich stolz auf mich, die ganze Woche bin ich mit einem breiten Lächeln umher gelaufen, sodass mich alle gefragt haben, was los sei. "Wenn sie wüssten.", habe ich mir gedacht und noch mehr gegrinst, innerlich bin ich in hysterisches Lachen ausgebrochen. Haben Sie schon einmal gehört, wie es klingt, wenn jemand hysterisch lacht, Doktor?"
Sie lacht hysterisch und schüttelt den Kopf.
"Aber Sie haben es doch gerade getan und man muss Ihnen das lassen, es war wirklich gut.
Oh, ich bin wieder einmal abgeschweift, ich wollte Ihnen doch meine Geschichte fertig erzählen. In dem Heim blieb ich bis ich volljährig war. Eine lange Zeit, ich weiss. Als ich endlich das Heim verlassen durfte, hatte ich bereits acht Menschen vor dieser Welt gerettet. Natürlich zusammen mit Martha und Lucien.
Stellen sie sich das einmal vor, Doktor!
Acht Menschen, das ist viel. Aber ich war ehrgeizig, ich habe weitergemacht, wollte besser als meine Freunde sein. Wir haben uns ein Apartment geteilt, wissen Sie, wir waren trotz unserer unterschiedlichen Ansichten immer noch Freunde. Wir hatten nur uns und keiner wollte alleine sein. Und genau das ist es, was mich dazu gebracht hat, Ihnen alles zu erzählen.
Die Einsamkeit.
Wenn man hier in einer Zelle sitzt, kommt nie jemand vorbei. Man ist allein und einsam, wissen Sie das, Doktor?
Nach ihrer Vergewaltigung kam Martha in eine psychiatrische Klinik, in ein Einzelzimmer. Das ist schrecklich, finden Sie nicht auch, Doktor?
Lucien hingegen wurde geschnappt und sass in Untersuchungshaft. Er war unvorsichtig gewesen und hatte wieder einmal einfach so aus Spass jemanden ermordet. Dummerweise hat er ihre Leiche im Geschäft, in dem er angestellt war, liegen lassen.
Ich habe ihnen geholfen zu flüchten. Zuerst habe ich Martha aus dieser grausamen Klinik herausgeholt. Irgendwie hat sie mich an unser Heim erinnert und ich musste mich regelrecht zwingen, einen Fuss in das Gebäude zu setzen.
Ich habe mich als Doktor verkleidet reingeschlichen, einen Ausweis geklaut und sie rausgeholt. Es hat nicht mehr als zehn Minuten gedauert und sie war unglaublich erleichtre, dass ich sie endlich gerettet hatte.
Zu Feier des Tages hat sie das weisse Kleid angezogen und ich habe mich entschieden sie zu erlösen. Ich habe mir gedacht, dass sie in der Psychiatrie mehr als genug gelitten hat. Sie war nicht meiner Meinung. Wie Sie wissen, hat sie geschrien, ich wäre fast entdeckt worden wegen ihr. Ich hätte ihr nicht helfen sollen, ich war damals so töricht."
Ein Hände-in-die-Luft-werfen.
"Als nächstes habe ich mir Lucien geschnappt. Bei ihm war es schon schwieriger, das Gefängnis ist sehr gut bewacht. Ich musste die Lüftungsschächte nutzen, um überhaupt in seine Zelle zu gelangen. Mein Schweissgerät ist dabei draufgegangen. Er war auch sehr erleichtert. Aber als wir zu Hause ankamen und keine Martha da war, war er alles andere als glücklich. Ich habe ihm bis zum Schluss verschwiegen, dass ich sie erlöst habe, er hätte es nicht verstanden. Trotzdem hat er oft geweint und ich habe mich ein zweites Mal dazu entschieden, jemanden, den ich gerne mochte und der mir etwas bedeutete, zu erlösen.
Ihn habe ich in unserer Badewanne zu Hause ertränkt. Er hat nicht so viel geschrien wie Martha. Das konnte er auch gar nicht, schliesslich ist ihm die Luft knapp geworden. Ausserdem musste ich danach weniger aufputzen."
Ein versonnenes Schmunzeln.
"Danach folgten noch einige weitere Kunstwerke, doch sie waren alle nicht so gut gelungen wie die, welche ich bereits erwähnt habe und darum auch nicht so wichtig.
Wissen Sie, Doktor, ich wollte alle nur beschützen. Ich wollte alles richtig machen und ihnen helfen. Ihnen allen. Ich wollte sie leiden lassen und erlösen. Erlösen von der Welt. Von Traurigkeit. Ein wenig Schmerz für ein ewiges Leben ohne ihn. das ist doch erstrebenswert.
Ein alter Mann auf der Strasse hat mir einmal erklärt, was ein Paradies ist. Seitdem war mein einziges Ziel, so viele Menschen wie möglich von ihrem Leiden zu befreien und ihnen eine Fahrkarte ins Paradies zu vermachen.
Paradies. Nur schon das Wort. Es bedeutete ursprünglich Einzäunung. Das ist passend, nicht wahr, Doktor?"
Ein erwartungsvolles Lächeln und ein abgewandtes Gesicht.
"Die Menschen hier auf der Erde haben zu viele Freiheiten. Sie sind hemmungslos, werden nicht gezügelt.
Das Paradies hingegen ist eingezäunt, es wird überwacht. Ich habe mich mein Leben lang gefragt, von wem. Wissen Sie die Antwort, Doktor?"
Wieder ein Kopfschütteln.
Ein genervtes Augenzwinkern.
"Von der Angst, Doktor, von der Angst. Die Angst zäunt auch uns ein, aber in einer anderen Weise. Sie treibt uns vom Paradies weg, direkt in die Hölle, direkt zur Erde, direkt in die Arme der Welt und ihrer Verwerflichkeit. Aber sie zäunt auch das Paradies ein und gerade deswegen macht sie es auch so schön. Verstehen Sie, was ich Ihnen zu vermitteln versuche, Doktor?
Es ist nicht reizvoll, die Zäune zu überwinden, wenn man nicht weiss, was einem auf der anderen Seit erwartet, aber da drinnen wartet das Gute. Ausserhalb ist nur das Leben und die Welt. Innerhalb ist der Tod, das Paradies. Die Angst ist praktisch unmöglich zu überwinden, keiner will die Grenzen ins Ungewisse überschreiten. Sie wollen das Gute nicht sehen. Keiner will ins Paradies, weil der Eintritt schmerzhaft ist. Wenn sie es bloss wüssten, wenn sie es bloss wüssten. Wenn sie bloss wüssten, wie es innerhalb ist. Wenn ich es bloss wüsste. Aber ich weiss es ja bald, nicht wahr, Doktor?"
Ein Nicken, endlich ein Nicken.
Ein erleichtertes Lächeln und das Rasseln der Handschellen, als er die Hände voller Freude in die Luft wirft.
"Wann, Doktor, wann ist es endlich so weit? Ich freue mich schon darauf, ich freue mich so sehr!"
Ein Zettel Papier mit einem Datum und einer Uhrzeit.
"Sehen Sie, Doktor. Wieder sind es nur Worte, aber sie versprechen Taten."
Mit diesen Worten winkt er dem Wächter zu, seine Handschellen werden vom Tisch gelöst und er läuft beschwingt zur Tür hinaus.
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