Das 2.Kapitel
"Haben Sie Fragen an mich, Doktor? Wollen Sie wissen, warum das alles so gekommen ist? Ich denke, ich habe Ihnen schon einige Hinweise gegeben, sie sollten eine Vermutung haben. Haben Sie eine?"
Ein Kopfschütteln.
"Also wirklich, ich hätte mehr von Ihnen erwartet.
Sehen Sie mich nicht so auffordernd an, ich habe Ihnen ja schon versprochen alles zu erzählen, oder?"
"Es war wegen ihm. Und wegen ihr. Er war mein Vorbild, ich wollte ihn stolz machen. Ich glaube, manchmal hätte er sie auch gerne befreit, aber er hat es nie getan. Er hat wohl immer gedacht, sie habe es nicht verdient. Vielleicht stimmt das ja. Er hat immer geschrien, dass sie an allem schuld sei.
Sie war schuld gewesen, dass wir in diesem schmutzigen, kleinen Apartment wohnten. Sie war schuld, dass wir kein Geld hatten. Sie war schuld, dass er trank. Er hat immer nach Alkohol gerochen, wenn er nach Hause kam. Und dann hat er Gutes getan. Er hat sie geschlagen. Einmal hat er sie sogar auf den Glastisch im Wohnzimmer geworfen. Er ist in tausend Scherben zerbrochen. Ich glaube, dasselbe ist mit meinem Leben passiert. Stimmt das, Doktor?"
Keine Antwort. Nur ein Verkrampfen.
"Wissen Sie, es genügt mir für jetzt, wenn Sie einfach nur zuhören.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den Scherben....Manchmal ist er auch zu mir ins kleine Zimmer gekommen. Ich habe mich immer verkrochen und gehofft, dass er nicht kommt. Wie dumm ich damals doch war. Er wollte mir nur Gutes tun. Dann hat er jeweils seinen Gurt aus seiner Hose gelöst und mir mein Hemd über den Kopf gezogen. Der Gürtel hat meinen Rücken in Fetzen gerissen und ich habe geblutet, aber ich habe nicht geschrien. Wissen Sie, dass war ganz schön schwierig, aber ich habe durchgehalten. Kein Mucks ist über meine Lippen gekommen. Denken Sie nicht auch, dass das eine grossartige Leistung war, Doktor?
Oft hat sie blaue Flecken überall an ihrem Körper gehabt. Sie haben ausgesehen wie kleine Bergseen bei Sonnenuntergang. Fast immer waren sie dunkelblau. Und dann wurden sie violett. Sie waren wunderschön, die Flecken meine ich. Aber sie hat dieses Kunstwerk, dass er vollbracht hat, nicht gerne gezeigt. Sie ist immer mit langen Ärmeln und Hosen herumgelaufen, sogar im Sommer. Dabei hat er ihr doch nur Gutes getan. Ich habe sie nicht verstanden, mein ganzes Leben lang nicht.
Ich habe auch die Leute nie verstanden, die uns angestarrt haben. Sie müssen wissen, wir haben in einem kleinen Kaff gewohnt, vor einer grossen Stadt und trotzdem weit weg von ihr. Wenn wir in den Supermarkt gingen um ein paar Flaschen Whisky oder Wodka für ihn zu holen, haben uns die Leute angestarrt und gewispert. Dabei waren es doch nur sie und ich. Nur wir beide. Wir haben nicht viel gezählt in einer so grossen Welt wie dieser. Nur Leute zählen, die Grosses vollbracht haben.
Was meinen Sie, habe ich Grosses vollbracht?"
Keine Antwort. Zusammengepresste Lippen.
"Vielleicht zähle ich dann. Auf jeden Fall sind wir dann immer vom Supermarkt zurückgelaufen, ein Auto hatten wir nur eines und das hat ihm gehört, ihm allein. Wir durften es nie benutzen, nicht einmal, als sie fast gestorben wäre und zum Arzt in die Stadt musste. Wir sind den ganzen Weg gelaufen. Immer wieder habe ich sie gestützt und ihr hochgeholfen, wenn sie auf den harten Asphalt gefallen ist. Ich glaube, sie hat die Regeln nicht verstanden. Sie hat das Ritual nicht verstanden. Sie hat nicht verstanden, dass Schmerzen die einzige Möglichkeit sind, alles Schlechte loszuwerden. Sie hat es nicht verstanden.
An diesem Tag haben die Leute wieder geflüstert. Sie haben alles kaputt gemacht. Sie haben ihre Köpfe zusammengesteckt und geflüstert. Ich glaube, jemand hat ihr Flüstern gehört. Ich habe es nie herausgefunden. Ich weiss auch jetzt nicht, wer.
Wer? Wer? Wer?
Das ist die Frage, die mich umhertreibt.
Eines Tages sind sie vor der schäbigen, eingeschlagenen Tür gestanden und haben durch das zerschlagenen Fenster hereingesehen. Ihre Augen waren voller Mitleid und ihre Stimmen verständnisvoll, als sie zur ihr gesprochen haben. Ich habe mich versteckt, hinter der Tür der kleinen, eingepferchten Küche. Sie hat den Mitleidigen Tee angeboten und sie haben am wackeligen Küchentisch gesessen. Sie haben viele Fragen gestellt. Zu viele. Viel zu viele.
Irgendwann sind sie dann wieder gegangen.
Nein, nicht irgendwann, ich muss Ihnen die Geschichte mit allen Details erzählen, finden Sie nicht auch, Doktor?
Der verbogene Zeiger unserer dreckigen Küchenuhr stand auf der Zahl sechs. Ja, es war genau sechs Uhr, ich bin mir sicher. Dann erst sind diese bösen Menschen gegangen. Damals habe ich mir keine weiteren Gedanken über sie gemacht, sie waren nicht wichtig für mich gewesen, ein kleiner Junge vergisst schnell einmal etwas wie diese mitleidigen Besucher. Doch sie haben uns nicht vergessen. Weder sie noch mich.
Eine Weile lang war alles normal. Ich glaube, ich war glücklich. Wissen Sie, ich glaube, ich weiss nicht wie Glück sich anfühlt. Oder vielleicht doch? Ja doch, ich glaube, ich habe es gefühlt, als ich Lucien ertränkt habe. Aber das ist eine andere Geschichte, das passt nicht hier rein Warten Sie bitte noch ein wenig, auch diese Geschichte werde ich Ihnen vielleicht noch erzählen.
Sie hören mir doch zu, nicht wahr, Doktor?"
Ein schwaches Kopfnicken.
"Gut, denn diese Geschichte ist wichtig. Sie erklärt, wie alles begann. Wo war ich? Ach ja, es war alles normal gewesen. Er hat ihr blaue Seen auf die Haut gezaubert und ihr geholfen ein besserer Mensch zu werden. In dieser Zeit ist er auch oft zu mir gekommen und mein Rücken hatte praktisch keine heile Haut mehr dran. Ich bin heutzutage wirklich stolz darauf, er hat mir gezeigt, was es heisst, alles richtig zu machen. Irgendwann sind sie wiedergekommen, die mitleidigen Blicke, doch dieses Mal waren sie nicht allein. Blaulicht hat sie begleitet. Es war schon spät am Abend, Blau hat durch die Nacht geleuchtet und die Nacht zum Tag gemacht. Sie hätten das nicht gedurft, aber sie haben es trotzdem getan. Es war falsch.
Sie haben mich aus der Wohnung gezerrt, ich habe mich richtig gewehrt, habe gekratzt, gebissen und geschlagen. Es hat alles nichts genützt, bald sass ich in einem der blauen Wagen. Sie ist freiwillig mitgegangen, auf ihrem Gesicht einen erleichterten Ausdruck. Ich habe sie nicht verstanden. Wir wurden weggebracht, weg von zu Hause, weg von ihm. Ich habe auch sie nie wieder gesehen, schade eigentlich, sonst wäre sie eines meiner Kunstwerke geworden. Aber ich denke, sie ist schuld gewesen, dass ich in das grosse Heim kam. Überall Kinder und strenge Augen. Sie haben mich nicht in Ruhe gelassen und jeden Schritt beobachtet. Ich hätte mich fast von ihnen vergiften lassen und wäre so geworden wie sie, aber da habe ich einen Zettel bekommen.
Einen Zettel von ihm. Es stand nicht viel drauf.
Eigentlich waren es nur Worte.
Aber es waren Worte, die mich retteten.
Worte, die mich handeln liessen."
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