- Kapitel 1 -

«Du, Daly Whittel, wurdest auserwählt, um zur Gemahlin eines mächtigen Magiers im Süden zu werden. Ich bin hier, um dich unverzüglich auf die Reise zu ihm zu begleiten!»

Langsam erwachte ich aus meinen Gedanken. Vor sieben Monden waren Benjamin und ich zu einer Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Meine Füsse schmerzten höllisch, was vermutlich daran lag, dass wir seit vielen Stunden durchs Unterholz marschierten. Die Erschöpfung machte sich in mir breit und schon zum wiederholsten Mal fragte ich mich, weshalb ich dieser Reise zugestimmt hatte.

Anfangs war ich empört über die ungehobelten Manieren des Zwerges, der die Dreistigkit besass, mich einfach auf eine Reise mitzuschleppen. Vielleicht lag es an der Manipulationsfähigkeiten der Zwerge, die ihnen unter anderem zu ihrem unermesslichen Reichtum verholfen hatte. Jedenfalls fing meine standhafte Meinung an, zu bröckeln.

Ich konnte mich noch genau an den Moment erinnern, wo ich nachgab. Sei es, weil die Neugier in mir siegte, oder wegen dem Ehrenkodex, der jeden Magier und jede Magierin dazu verpflichtete, allen Lebewesen in Orilon Hilfe zu leisten. Meiner Meinung nach kam dieser Zwerg ohne meine Hilfe ausgezeichnet klar, doch die Missachtung des Ehrenkodex hiess für mich das Ende meiner Magierkarriere.  

Und hier war ich, in Taernsby, einem schon vor vielen Jahren verlassenen Wald, um zur Brücke nach Naporia zu gelangen. Während ich auf die Schlingpflanzen achtete, pfiff Benjamin irgendein Kinderlied und watschelte dabei so tollpatschig, dass meine Mundwinkel sich automatisch nach oben zogen. So schlimm konnte ein kleiner, harmloser Ausflug doch nicht werden, oder?

Wieder einmal übernahmen meine Gedanken die Macht und die unzähligen Fragen, die ich eigentlich verdrängen wollte, schwirrten in meinem Kopf umher. Nachdenklich machte mich die Aussage, dass ich anscheinend die Gemahlin eines Magiers im Süden werden sollte, von dem ich weder gehört, noch gelesen habe.

Diese Vorstellung war einerseits aufregend, andererseits musste ich mir eingestehen, dass ich mich davor fürchtete. Was wäre, wenn er mich nicht mochte? Benjamin sagte, dass ich die Auserwählte sei. Alle Prophezeiungen wurden vom Magierältesten Broomwood vorausgesagt und in den allermeisten Fällen gingen sie in Erfüllung. Weshalb war ausgerechnet ich die Auserwählte?

Langsam beschlichen mich Zweifel und ich verlangsamte meine Schritte. Ich verfluchte mich für meine Neugier, immerhin wusste ich nicht, was auf mich zukommen würde. Schliesslich blieb ich abrupt stehen. Ich hörte noch, wie Benjamin nun fröhlich ein Lied der Zwergenkinder vor sich her trällerte:

"Für Gold gibt es all die schönen Sachen, die man braucht und einem Freude machen..." Als er bemerkte, dass ich stehengeblieben war, drehte er sich zu mir um. Seine eisblauen Augen blickten direkt in meine und schienen mich zu durchbohren.

"Wer ist dieser Magier im Süden?", fragte ich mit zitternder Stimme. "Überhaupt, wieso bin ausgerechnet ich die Auserwählte!?" 

Seine Augen verdunkelten sich. "Du stellst zu viele Fragen", bemerkte er und wandte sich wieder zum Gehen.

"Warte!", rief ich. "Ich möchte Antworten! Sonst mache ich auf der Stelle kehrt."

Er lachte belustigt auf. "Du möchtest zurück zu deinen verstaubten Büchern und deiner schäbigen Hütte? Wer wartet denn dort auf dich?"

Seine Worte bohrten sich wie Messerspitzen in mein Herz. Unvermeidlich blitzten Erinnerungen meiner Kindheit auf, Erinnerungen an die wunderschönen Sommertage, an denen meine Eltern mit mir im Türkissee badeten.

Meine Mutter war eine Elfe, ihre filigranen Hände hatten atemberaubende Kunstwerke aus Stoff erschaffen. Nächtelang sass sie an ihrem magischen Webstuhl und verflochtete goldene Fäden mit Seide. Ihre Kunstwerke erzählten Geschichten. Jeden Abend las sie mir vor dem Einschlafen etwas vor und meistens handelte es sich um Elfen und Trolle.

Mein Vater war ein Magier, genauso wie ich. Er war ehrgeizig und beherrschte in seinem jungen Alter ziemlich alle Zauberkräfte und Sprüche, die sonst nur die Magier Ältesten konnten. Er versuchte mir schon als Kind viel davon beizubringen, meine Leidenschaft für Zauberkünste  stammt definitiv von ihm.

So viele schöne Erinnerungen. Und so viele schmerzhafte, die ich tief in meinem Verstand weggesperrt habe, weil ich mir geschworen habe, mich niemals wieder daran zu erinnern. Der Schmerz war zu frisch, ich war noch nicht bereit, diese mit Trauer verbundenen Erinnerungen zu verarbeiten.

"Daly? Ich rede mit dir!"

Ich schreckte wieder aus meinen Gedanken und sah, wie Benjamin mit seinen Würstchenfingern vor meinem Gesicht herumwedelte. "Tut mir leid", murmelte ich. "Vergiss es einfach. Gehen wir weiter."

Schulterzuckend nahm er den Weg wieder auf und fing an zu singen. Währenddessen beschäftigte mich seine Frage.

"Wer wartet zu Hause auf dich?"

Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und zwang mich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Wie einst eine kluge Person zitiert hatte: Am meisten fühlt man sich von der Wahrheit getroffen, die man sich selbst verheimlichen wollte.

Und die Wahrheit war schrecklicher als die Lüge, die zu meinem Leben geworden war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top