Unter den Sternen
Ich hatte ihm das Märchen von der Gänsemagd erzählt. Es war nach dem Märchen mit der Windprinzessin eigentlich eines der Schönsten.
Das hatte auch Ivo gefunden. Er hatte die ganze Zeit, die ich erzählt hatte geschwiegen und zugehört.
„Du hast wunderschön erzählt", hatte er mir gesagt und war dann aufgestanden.
Ich hatte ihn vollkommen perplex angestarrt und hatte ihn dann gefragt: „Warum stehst du auf?"
Natürlich hätte ich keine Antwort erwarten dürfen. Er hatte mir mit dem Finger gedeutet ihm zu folgen und ich hatte es getan. Natürlich immer noch eingemummelt in die Decke weil draußen jetzt eine eisige Kälte herrschte.
Es war fast vollkommen dunkel und nur das Licht des halben Mondes drang durch die dichten Äste des Baumes zu uns durch. Erst als Ivo anfing zu klettern, sagte ich etwas.
„Ich kann doch nicht in der Dunkelheit, die hier herrscht klettern. Das ist doch verrückt."
Als ich sprach, bemerkte ich, dass mein Atem zu sehen war.
„Es ist eiskalt, Ivo!"
„Komm schon, Chiara", sagte er und sah mich vorwurfsvoll an. „Komm doch einfach. Es lohnt sich."
Ich seufzte theatralisch.
„Na, gut. Aber nur, wenn es sich lohnt."
„Vertrau mir." Ich vermutete, dass er lächelte.
Ich nahm die Decke unter meinen Arm und versuchte auszublenden, dass die Kälte durch mein Kleid hindurchdrang und mich zum Zittern brachte.
Wir kletterten nach oben und ich tat nichts anderes als seiner dunklen Silhouette zu folgen. Das brachte mir ein gewisses Unbehagen. Ich hatte das Gefühl das schon einmal gesehen zu haben. Ein Déjà-vu.
Schnell verdrängte ich diesen Gedanken wieder. Es war vermutlich nur die Kälte, die mich langsam verrückt machte. Ich war so etwas einfach nicht gewöhnt.
Auf einmal wurde es heller. Eine Lücke zwischen dem Astgewirr. Vor uns lagen die Sterne und sie wirkten zum Greifen nahe.
Ich hielt für einen kurzen Moment meinen Atem an.
„Es hat sich gelohnt", presste ich hervor. „Es ist fantastisch. Überwältigend. Ich weiß nicht was man dafür noch sagen könnte. Tausende von Wörtern."
„Ja, Chiara", antwortete Ivo. „Ich habe diese Stelle eben gefunden, als ich unsere Sachen geholt habe. Nebenbei bin ich noch etwas rumgeklettert." Er lächelte leicht.
Ich mummelte mich wieder ein und hockte mich auf einen dicken Ast. Ivo setzte sich neben mich. Er saß dort ohne einen Mantel oder eine Decke.
„Frierst du nicht?", fragte ich und musterte ich skeptisch von oben bis unten.
„Nein, warum sollte ich?", sagte er.
„Weil ich sogar unter diese Decke noch spüre, wie kalt es ist. Und ich möchte gar nicht wissen, in welcher Höhe wir uns gerade befinden. Es ist ziemlich windig hier."
„Wenn man schon sein ganzes Leben unter freiem Himmel verbracht hat, ist das hier ein lauwarmes Lüftchen."
„Du bist verrückt", lachte ich und kuschelte mich wie eben an ihn und sah in die leuchtenden Sterne.
„Wie viele Sterne glaubst du gibt es?", fragte Ivo nachdem wir kurz geschwiegen hatten.
„Tausende vielleicht. Ich weiß es nicht", flüsterte ich. „Aber ich denke jeder Stern ist einzigartig wie jeder Mensch. Hat seine guten und seine schlechten Seiten."
„Chiara. Glaubst du jeder Mensch hat gute Seiten?"
„Was glaubst du denn?", fragte ich daraufhin zurück.
„Ich habe dich gefragt. Aber das ist eine gute Frage. Ich weiß manchmal nicht was ich glauben soll. Ich habe manchmal das Gefühl ich verstehe Zebra, die ich seit ihrer Geburt an kenne besser als mich selbst."
Ich lächelte.
„Das denke ich manchmal auch", gab ich zu. „Vielleicht liegt das daran weil wir andere einschätzen können aber uns selber nicht, weil wir uns nach unserem Gefühl entscheiden und uns nicht vorhersehen können."
„Interessante Theorie", meinte Ivo.
„Vielleicht."
Während ich in die Sterne sah, glaubte ich zu sehen, wie sie sich bewegten. Wie sie sich neu zu formieren schienen. In dem Moment dachte ich, dass sie mein Leben zeigten. Es hatte sich immer gewendet. War hin und her geschaukelt. Vielleicht hatte es nun einen Punkt erreicht an dem es stehen blieb. Ab dem es keine Veränderungen mehr gab. Ab dem endlich Frieden herrschte.
„Kennst du das Sternbild da vorne?", fragte Ivo mich auf einmal in meine Gedanken herein.
„Welches?", antwortete ich automatisch.
„Das", sagte er und deutete auf etwas das für mich aussah wie alles andere. Ich erkannte nichts Besonderes.
„Ich kenne mich mit so etwas nicht wirklich aus", gestand ich und versuchte weiter etwas zu erkennen. „Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Ahnung. Nicht die geringste."
Ich spürte wie Ivo sein Gewicht verlagerte. Ich schlang die Decke enger um meinen Körper und versuchte auch meine halb eingefrorenen Füße zu wärmen.
„Ist dir wirklich so kalt?", fragte Ivo. Die Frage hörte sich rhetorisch an, aber er schien eine Antwort zu erwarten.
„Naja", murmelte ich, aber meine klappernden Zähne ließen sich nicht verbergen.
„Ich hole dir noch eine Decke", sagte Ivo sanft, stand auf und verschwand in der undurchdringbaren Dunkelheit.
Sobald ich ihn nicht mehr hörte, war ich wieder allein mit meinen Gedanken.
War das alles die Wirklichkeit? War Rico wirklich vor fast drei Tagen ertrunken? Wegen mir? Mein Zittern war jetzt nicht mehr nur wegen der Kälte. Ich hatte Angst. Tat ich das Richtige? Ich war glücklich. Ich hatte Spaß gehabt. Das konnte doch einfach nicht gerecht sein. Ich hatte alles verloren. Es war nicht richtig nicht zu trauern. Eigentlich war es doch gerecht wenn es mir schlecht ging. Der Tod von Rico und mindestens der von meinem kleinen Bruder waren meine Schuld. Und jetzt blendete ich die Wahrheit aus, als ob sie mir nicht das Geringste bedeuten würde.
Ich hatte das Gefühl wieder im Fluss um mein Leben zu kämpfen. Das Wasser umspülte mich. Da war Ricos Hand die verzweifelt versuchte mich zu erreichen. Und dann hatte er es endlich geschafft doch die Strömung war zu stark. Ich war gezwungen gewesen ihn loszulassen. Ich hatte losgelassen. Nicht er. Ich war schuld.
Als ich wieder in den Nachthimmel sah, in mein Leben wie ich es mir eben vorgestellt hatte, wurde mir klar dass ich allein durch diese dämlichen Gedanken überhaupt Ricos Tod verschuldet hatte. Ich wusste nicht warum ich plötzlich so anders dachte. Erst als ich mich umsah sah ich Ivo.
Ich hatte mir die zweite Decke übergelegt und mich in den Arm genommen. Eine Träne rann über meine Wange.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich weinte.
Schon wieder. Ivo hatte mich schon wieder positiv denken lassen. Woran lag das? Was war der Zauber an der ganzen Sache? Warum heilte er meine Seele? Und heilen konnte ich es wirklich nennen. Ich hatte ihn noch nicht einmal bemerkt und trotzdem hatte er mir geholfen. Ich war wieder aus meinen vollkommen dummen Gedanken herausgekommen und hatte meine Umwelt wieder wahrgenommen.
„Erkläre mir was das für ein Sternbild ist. Bitte", flüsterte ich. „Ich muss auf andere Gedanken kommen. Sonst kann ich das nicht ertragen."
„Oh, Chiara", hörte ich ihn sagen. „Es mag vollkommen absurd sein, dass du jetzt etwas über Sternbilder lernen willst, aber gut. Wenn es sein muss."
„Ja, es ist absurd", sagte ich und merkte, dass ich ein wenig schmunzeln musste.
„Nun gut", meinte Ivo. „Das Sternbild da heißt kleiner Bär. Du kannst dieses Sternbild immer an dem hellen Stern dort erkennen. Man nennt ihn bei den Waldgeistern Nordstern, aber ich glaube auch im Rest des Landes ist er unter diesem Namen bekannt."
Ich versuchte das Bild um diesen besonderen Stern zu erkennen. Aber es bleib nichts weiter als ein Sternenhaufen.
„Ich erkenne es nicht", murmelte ich und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
„Vielleicht nächste Nacht", antwortete Ivo darauf und ich spürte wie er mich auf seine Arme nahm.
„Du bist müde", flüsterte er mir ins Ohr.
„Werde ich bei dir bleiben?", fragte ich, während ich fühlte wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und wieder senkte.
„Solange du willst", versicherte er mir.
Dann spürte ich nur noch das Rucken wenn er sich von Ast zu Ast bewegte. Als es wärmer wurde öffnete ich noch kurz die Augen und fand mich im Baumhaus wieder.
„Gute Nacht", sagte ich noch und glitt ins Land der Träume.
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