Getrennt

Ich folgte Zebra durch das Lager der Waldgeister. Es wurde kein Wort gesprochen. Wir wussten beide, dass ein falsches Signal uns schlimmstenfalls das Leben kosten konnte und so gingen wir nebeneinander her wie zwei Fremde.
Es stellte sich heraus, dass es im Grunde genommen falsch war, von einem Lager zu sprechen. Es war vielmehr ein ganzes Dorf, was auf einer ungewöhnlich kleinen Grundfläche im Wald lag, diesen so wenig wie möglich beeinträchtigte und sich bis in die höchsten Baumwipfel erstreckte. Ich konnte aufgrund der Dunkelheit und der sporadisch aufgestellten Laternen nicht viel erkennen, aber die Baumhütten waren ein außergewöhnliches Kunstwerk der Architektur, teilweise sogar verbunden durch schmale Brücken wie ich meinte zu erkennen.
Es dauerte nicht lange, bis unser Schweigen beendet wurde und Zebra mir mit der Stimme, die auch im Gasthaus meines Heimatdorfs benutzt wurde, sagte, dass wir an meinem Schlafplatz für heute angekommen waren.
"Die Hütte ist etwa sechs Meter in der Höhe. Ich teile sie mir mit einem anderen Mädchen, Ira, aber es gibt noch einen dritten Schlafplatz, den du haben kannst. Hier geht es nach oben"
Zebra deutete auf eine Strickleiter, die nach oben führte, bis die Äste von selbst eine Möglichkeit boten, an ihnen nach oben zu klettern.
Ich begann nach oben zu klettern, was mir einfacher fiel als erwartet. Ich spürte die Strapazen, die der Tag physisch und auch psychisch hinterlassen hatte und war froh, als ich es problemlos nach oben geschafft  hatte und durch den Vorhang ging, der den Eingang des Baumhauses verdeckte.
Zebra trat kurz nach mir in den dunklen Raum und zündete eine Kerze an, die auf einem kleinen Tisch gestanden hatte, den ich im Dunkeln nicht hatte erkennen können. Nun erkannte ich schemenhaft drei Feldbetten, die sich nebeneinander an der hinteren Wand aufreihten und mehr als die Hälfte des Raumes einnahmen.
"Nimm das rechte Bett", wies Zebra mich an. "Ich schlafe in dem in der Mitte. Es ist am besten, wenn du jetzt sofort einschläfst. Auf dem Tisch hier steht ein Krug mit Wasser und Becher, falls du Durst hast. Padma wird morgen mit dir reden."
Zebras Stimme war nicht kühl oder abweisend, aber sie hatte nicht dieselbe Leichtigkeit wie sonst. Allgemein klang sie nicht wie das Kind, das sie eigentlich war.
Da ich einfach nur noch schlafen wollte, begab ich mich sofort zu dem Bett, das mir zugeteilt worden war und wünschte Zebra eine gute Nacht. Ich hörte noch, wie sie das Baumhaus wieder verließ.
Ich legte mich hin, deckte mich zu und schloss die Augen. Doch anstatt, dass die Dunkelheit mich empfing, sah ich Bilder vor meinem inneren Auge. Ich sah all das Schreckliche, was ich in den letzten Wochen erlebt hatte, sah meine tote Familie, fühlte sogar noch einmal wie Rico meine Hand losließ und ich ihn wie immer verlor. Und dann war da noch das, was heute geschehen war. Es war so viel realer und näher als der Rest und es schmerzte tief in meinem Inneren. Es war an ein Verrat an mir begangen worden, der in keiner Art und Weise wieder gutgemacht werden konnte. Ivo war ein eiskalter Mörder und er hatte mir alles genommen, nur um mir neue Hoffnung zu geben, die dann innerhalb kürzester Zeit wieder zerstört wurde und alles noch schlimmer machte.
Ich weinte mich in den Schlaf, aber ich bekam nicht mit wie Zebra zurückkehrte oder das andere Mädchen, das auch hier wohnte, auftauchte.
Ich schlief durch bis zum Morgen, einen unruhigen Schlaf. Jener Schlaf, der einen beim Aufwachen müder und ausgelaufter zurückließ als vor dem Zubettgehen.
Es war schon hell, als ich erwachte und als ich die Augen aufschlug sah ich Zebra vor mir, die auf ihrem Bett saß und mich beobachtete.
"Es wird Zeit, dass du aufstehst", sagte sie, "aber ich wollte dich nicht wecken. Frühstück gibt es, wenn du mit Padma gesprochen hast, aber ich habe hier schon mal einen Apfel für dich."
Sie hielt mir einen roten Apfel hin und ein Teil von mir wollte wissen, wo sie in der Übergangszeit zwischen Frühling und Sommer einen solchen herbekommen hatte, aber ich konnte jetzt nichts essen und so lehnte ich einfach dankend ab.
Padma erwartete mich in ihrer Hütte, eines der wenigen Gebäude am Boden. Ich kam in einen Raum, der durch viele Fenster, die auch im Dach zu finden waren, hell war und dadurch sehr freundlich und einladend wirkte.
Die Anführerin der Waldgeister stand in der Mitte des Raumes und lächelte mich an, als ich eintrat.
"Guten Morgen", begrüßte ich sie.
"Dir auch einen guten Morgen", lautete ihre Antwort. Ohne Umschweife nahm sie das Gespräch in die Hand und begann mit dem Thema, das ich so gerne aus meinem Leben verbannen wollte.
"Du hast in den letzten paar Wochen mit Ivo zusammengelebt", sagte Padma. "Wo genau?"
Ich könnte ihr einfach so antworten, dennoch spürte ich, dass mein Gewissen mir drohte, ich solle ja keine genaue Antwort geben. Wieso wollte ein Teil von mir Ivo noch schützen?
"Ich weiß es nicht genau", sagte ich deswegen. "Dieser Wald hier ist riesig und es war reiner Zufall, dass ich hierhin gelangt bin. Ich könnte nicht wieder zu unserem Lager zurückfinden."
Ich war mir sicher, dass die Nymphe wusste, wenn ich log, aber da es genau genommen keine Lüge war, die ich ihr erzählte, wähnte ich mich in Sicherheit.
"In Ordnung. Bist du dir bewusst, welche Gefahr er für jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt darstellt?"
Ich zögerte, antwortete dann aber doch. "Ja, ich bin mir dessen bewusst. Ich habe zugesehen wie er meine Familie getötet hat und gestern habe ich beobachtet wie er zwei Soldaten im Wald in seiner Schattengestalt niederstreckte. Ich hatte nie das Gefühl, er sei eine Gefahr für mich, aber er hat getötet und ich glaube nicht, dass er das, was in ihm steckt unter Kontrolle hat."
Meine Worte klangen so, als würde ich seine Taten rechtfertigen.  Aber Padma schien sich damit zu begnügen.
"Ich kann dich sofort zurück in dein Dorf schicken, wenn du es wünschst", bot sie mir an. "Dort wirst du sicher sein und wir werden uns um das Problem, das Ivo für uns darstellt kümmern. Vielleicht werde ich auch einen Bann um dein Dorf aufstellen wie er um unsere Siedlung hier liegt. So kann kein Dämon dorthin gelangen. Sei er in seiner Schattengestalt oder seiner menschlichen Form."
"Das ist sehr freundlich", erwiderte ich und ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus, "aber ich will nicht dorthin zurück. Ich habe nichts mehr, was mich dort hält. Alle, an denen mir etwas lag, sind tot und ich wüsste nicht, was ich tun sollte. Wäre es nicht möglich, dass ich vorerst hierbleibe?"
"Ich schätze es, dass du sagst es wäre eine vorläufige Lösung, aber ich kenne keine Alternative außer dem Hierbleiben und dem Zurückkehren in die Gesellschaft aus der du gekommen bist. Und ich denke du bist intelligent genug, um zu wissen, dass ich Recht habe. Wenn du also bleibst, dann bleibst du als eine von uns. Wir würden dich in unsere Gemeinschaft einführen. Dein Leben wäre anders als du es bisher kennst und es würde nicht einfach für dich werden. Und bevor ich dir dieses Angebot überhaupt machen werde, muss ich wissen, was du uns bieten kannst. Es hat seinen Preis hier bei uns zu leben und wenn du nicht hier geboren bist, wirst du bemerken, dass du ihn zahlst. Was also kannst du uns geben, Chiara?"
"Ich bin eine Bäckerstochter", sagte ich ohne zu überlegen. Ich hatte mitbekommen, dass gutes Brot hier eine Rarität zu sein schien und ich wusste einige Rezepte. Ich hatte zwar nie vollwertig an der ganzen Produktion mitgearbeitet, aber ich wusste wie es ging. "Ich kann verschiedene Arten von Brot backen und kenne mich mit den Zutaten aus. Ich kenne verschiedene Arten von Getreide, kann sie auseinanderhalten und ihre Qualität beurteilen. Ich kann helfen, die Gemeinschaft zu ernähren."
Padma schien überrascht von meiner schnellen Antwort, aber ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
"Das klingt vielversprechend. Wir haben momentan nicht die notwendigen Zutaten zur Verfügung, aber es ist ohnehin besser, wenn du dich erst einmal einlebst und die grundlegenden Aufgaben erledigst, bevor du dich deiner spezifischen Arbeit widmest. Geh zu Zebra und lass dich noch einmal richtig von ihr herumführen. Sie wird dir etwas zu essen geben und dann kannst du schon anfangen Aufgaben wie Wasser holen zu erfüllen. Das Leben hier im Wald ist hartm aber das wirst du schon gemerkt habe so wie ich Ivo kenne. Ich hoffe unsere kleine Abmachung hier wird Früchte tragen und uns beide davon profitieren lassen. Du kannst jetzt gehen."
Ich nickte ihr zum Abschied zu und verließ die Hütte, um erneut ein neues Leben zu beginnen, in das ich noch zufälliger und plötzlicher hineingeschlittert zu sein schien als in das letzte.

-

Ivo war rastlos. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war wütend auf sich selbst. Zum einen war er wütend darüber, dass er sich nicht hatte zurückhalten können, andererseits verfluchte er sein jüngeres Ich dafür, dass es sich dafür entschieden hatte, den Dämon in sich aufzunehmen.
Er war sich der Bürde, die er trug schon immer bewusst gewesen, aber bis vor Kurzem hatte er noch nie spüren müssen, wie grausam es war, ein Dämon zu sein. Er war ein Mensch mit moralischen Vorstellungen und dennoch überrumpelte ihn das Wesen in ihm vollkommen und ließ ihn zum Mörder werden. Und anstatt, dass er sich schlecht fühlte, konnte er die Stärke spüren, die ihm das gab und die steigende Verbundenheit mit dem Dämon. Sie waren eins geworden und durch die letzte Verwandlung war dieses Band noch stärker geworden.
Es war jetzt irreversibel, unzerstörbar.
Und dennoch wusste er, dass er immer noch nicht in der Lage wäre, den Schatten am Ausbrechen zu hindern, wenn er in eine lebensgefährliche Situation käme oder der Hunger des Dämons zurückkehren würde.
Und er wusste, er hätte damit leben können, wenn er Chiara nicht besser kennengelernt hätte. Wäre sie für ihn weiterhin die Fremde geblieben, deren Familie er getötet hatte, hätte er sie irgendwann vergessen können.
Jetzt aber wurde ihm dadurch unausweichlich ein Spiegel vorgehalten und er konnte nicht verhindern, dass tief in ihm drin der Selbsthass brodelte.
Er hatte sie gerettet. Er hatte sie gerettet, weil der Dämon es ihm befohlen hatte, weil er den kostbaren Körper, um einen Nachkommen dort hineinzusetzen nicht hatte sterben lassen können. Er hatte sie bei sich behalten in der Hoffnung, dass sie irgendwann den Nachkommen seines Dämons in sich aufnehmen würde und sie beide somit etwas verband, das einer Blutsverwandtschaft nahe kam.
Und jetzt hatte er es innerhalb weniger Sekunden ruiniert. Er war wütend, der Dämon war wütend und es gab nichts, was diese Wut lindern könnte. Außer vielleicht, Chiara wiederzufinden und irgendwie wieder alles geradezubiegen und da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte.
Seine rationale Seite wusste, dass das völliger Schwachsinn war, aber die Hoffnung ganz aufgeben, wollte er trotzdem noch nicht.
Und diese rationale Seite sagte ihm auch, dass es allein die Schuld des Dämons war und dass er selbst nichts damit zu tun hatte, dass seine Seele unbefleckt und unschuldig war, aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wusste er, dass er sich selbst belog. Er war der Dämon geworden. Es war nicht länger ein Parasit, der seinen Körper bewohnte, es war ein Teil von ihm, den er nicht mehr loswerden konnte, ohne sich selbst zu töten.
Dieser Teil mochte noch nicht gänzlich seiner Kontrolle unterliegen, aber er war auf einem guten Weg dorthin. Mit etwas Hilfe würde er es allerdings schneller meistern. Er brauchte Maron.
Er hatte nicht die Absicht gehabt je zu seinem Mentor und dem Vater des Dämons in ihm zurückzukehren, aber es war der einzig richtige Weg.
Vorher galt es aber noch eine Sache zu erledigen. Er musste sichergehen, dass es Chiara gutging, dass sie nicht in die Arme weiterer Soldaten gelaufen war, dass sie lebte und wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrte.
Ivo setze sich im Schneidersitz auf den Boden, schloss die Augen und streckte seinen Geist aus, verband ihn mit dem Wald wie er es schon so oft getan hatte und machte sich so auf die Suche nach Chiara.

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