Gespräche
Ich wusste nicht wie spät es war, als ich aufwachte. Ich fühlte mich müde und hohl. Einfach hohl. Ich konnte einfach keine Gefühle einordnen. Da waren nur die Erinnerungen, die sich vermischten, während ich die Augen aufschlug, die Holzdecke ansah und versuchte, die verschiedenen ungewohnten Geräusche einzuordnen.
Ich wusste sofort, wo ich mich befand. Es lag nicht an der ungewohnten Umgebung, den fremden Geräuschen und Gerüchen. Es lag an Ivo. Ich spürte ihn neben mir. Ich hörte, wie er ein- und ausatmete.
Langsam setzte ich mich auf. Ich fühlte mich überraschenderweise nicht steif und unbeweglich, was wohl an der Matratze lag. Ich wusste immer noch nicht, was in ihr drin war und es interessierte mich auch nicht weiter.
Ich sah neben mich. Ivo lag dort auf seiner Matte und schlief. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, weil ich Angst hatte ihn zu wecken. Er sah müde aus. So, als ob er die ganze Nacht über wach gewesen wäre.
Ich zog die Beine an den Körper und schloss die Augen, verbarg mein Gesicht. So sehr ich es auch wollte, ich konnte nicht mehr weinen. Meine Augen fühlten sich leer an.
Ich saß eine Weile so da, bis ich spürte wie Ivo begann, sich neben mir aufzurichten.
„Guten Morgen", sagte ich und rang mir ein Lächeln ab.
„Dir auch." Er lächelte zurück. „Wie geht es dir?"
Ich zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Eigentlich ganz gut. Irgendwie normal, aber da ist irgendetwas in mir drinnen, was wie zerfetzt ist und es schmerzt. Aber ich kann nicht mit dir darüber reden. Noch nicht."
„Wenigstens bist du ehrlich", antwortete Ivo mir und seufzte.
Ich überlegte, ob ich etwas erwidern sollte, als jemand an die Tür klopfte. Ich zuckte kurz zusammen. Ivo stand auf und öffnete die Tür. Zebra stand da und hatte ein Bündel in der Hand. Sie zog ein dunkelgrünes Kleid heraus. Auf den ersten Blick sah es aus wie ihres. Sie warf es mir zu und ich fing es ungeschickt auf.
„Guten Morgen", sagte Zebra fröhlich. „Ich habe leider nicht viel Zeit. Alle denken ich bin nur kurz in den Wald für einen kurzen Spaziergang. Raus hier, Ivo! Kiki muss das anprobieren und falls es nicht passt muss ich ein neues besorgen und das ist nicht leicht."
„Ist das eines von den Kleidern, die meine Schwester früher getragen hat? Was ist, wenn auffällt das eines fehlt?"
„Ivo, sie lebt seit über einem Jahr in der Stadt. Sie hat geheiratet und ist glücklich dort und selbst wenn sie zu Besuch vorbeikommt wird sie nicht die alten Kleider tragen, die ihr zu klein sind."
Mit diesen Worten zerrte sie Ivo raus und schloss energisch die Tür hinter sich.
Ich war absolut verwirrt. In meiner Hand hielt ich das Kleid, das einmal Ivos Schwester gehört haben musste, von der er mir noch nicht erzählt hatte. Zebra war so plötzlich hier aufgetaucht, dass ich mich nicht hatte ordnen können. Ich konnte nicht wütend auf sie sein, weil sie ein Gespräch von Ivo und mir unterbrochen hatte, das vielleicht dazu geführt hätte, dass wir uns besser kennen lernen.
Ich zog mir das dreckige Nachthemd über den Kopf und streifte das Kleid über. Es ging mir bis knapp über die Knie und ähnelte auch sonst Zebras Kleid, bis auf die Tatsache, dass es enger am Körper anlag. Es passte mir perfekt. Ich konnte mich in keinem Spiegel betrachten und mir ein Bild von mir machen, aber ich fühlte mich trotzdem nicht wie ich selbst. Ich spürte wie mir meine Haare wirr vom Kopf abstanden und ich stellte mir mein Gesicht vor mit dicken Ringen unter den Augen und vollkommen blass. Vielleicht sah ich aber auch relativ gut aus. Ich hatte nicht geweint und wenigstens so viel gegessen, dass sich mein Hungergefühl in Grenzen hielt.
Da ging die Tür wieder auf und Zebra steckte ihren Kopf hinein.
„Das Kleid passt. Gut", meinte sie. „Ich muss wieder weg. Tschüss." Und schon war sie wieder verschwunden. Ivo kam herein. Er versuchte mich wieder durch ein Lächeln aus der Reserve zu locken.
Schon wieder war es vorbei mit der Privatsphäre, aber vielleicht war das hier so. vielleicht sollte ich hier nicht allein sein. Falls das so wäre musste ich Ivo kennen lernen. Es war höchste Zeit mit ihm zu reden. Über seine Familie, sein Leben, seine Persönlichkeit.
-
Padma war gerade dabei, sich die Haare hochzustecken, als es anklopfte. Sie ließ ihre Haare wieder fallen, ohne sie zu ordnen und ging zur Tür. Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht die Frau, die dort stand. Sie kannte sie von früher. Ihr Mann hatte öfters mit ihr gehandelt. Auf dem Arm trug sie einen kleinen Jungen, der vielleicht ein bis zwei Jahre alt war. An der Hand führte sie ein kleines Mädchen um die vier Jahre.
„Sei gegrüßt, Padma", sagte die Frau, die Lavinia hieß, wenn sich Padma nicht irrte, leise. Sie fühlte sich unwohl. Padma spürte das. Sie spürte jedes Gefühl. Manchmal war es gut, dass sie diese Gabe hatte, ebenso wie ihre Unsterblichkeit, aber es machte es schwieriger rationale Entscheidungen zu fällen.
„Komm herein", sagte die Anführerin der Waldgeister, die wusste wie wichtig es jetzt war, freundlich zu bleiben, und führte die junge Frau zu einem kleinen Tisch in einer der Ecken des kleinen Zimmers mit der niedrigen Decke über der man die Blätter rauschen hörte, wenn man sich nur Mühe gab. Padma fiel auf, dass sich ihr Bauch leicht wölbte unter der weiten Kleidung. Sie war schwanger.
Lavinia setzte sich und nahm den Jungen auf den Schoß.
Das Mädchen setzte sich auf den Boden uns spielte mit einem geschnitzten Hund, der etwa so groß war wie ihre Hand, oder was das auch immer für ein Tier war. Es war schlecht geschnitzt, aber es lag eher am Nichtkönnen des Schnitzers, als an der Eile in der er es geschnitzt hatte.
„Warum bist du hier, Lavinia?", fragte Padma und musterte die Frau eindringlich, versuchte jedoch, sich neutral zu verhalten, denn die Schwangere schien stärker als sie aussah und brauchte kein Mitleid oder sonstige Freundlichkeiten.
Lavinia schluckte. „Mein Mann ist verstorben. Gestern habe ich ihn im Wald gefunden unweit unseres Hauses. Er hatte keine äußeren Verletzungen, aber es sah so aus, als wäre er schmerzhaft gestorben. Du hättest ihn nicht sehen wollen." Padma sah, dass Lavinia Tränen unterdrückte und versuchte möglichst förmlich zu bleiben. Das gelang ihr ausgezeichnet. Die Anführerin rechnete ihr das sehr positiv an.
„War er eiskalt?", fragte Padma.
Lavinia nickte. Die Tränen glitzerten in ihren Augen. „Ja, er war eiskalt. Als ob man ihn seiner Seele beraubt hätte."
Padma nickte. Sie wusste, was geschehen war. Ein Schatten. Er hatte es sich erdreistet ihr Gebiet zu betreten. Hier lebte sie. Hier lebten die Menschen, die sie beschützen sollte und das ging nicht, wenn Pakte gebrochen wurden.
„Darf ich bleiben?", fragte Lavinia immer noch ängstlich. „Ich meine für längere Zeit. Hier im Lager. Ich kann keine gewöhnliche Arbeit tun und ich habe gehört man kann hier Arbeiten für die Gemeinschaft erledigen."
„Was hast du uns zu bieten?"
„Die Hütte mit ihren Möbeln, etwas zu Essen und mein letztes bisschen Geld. Nicht sehr viel."
„Du kannst bleiben", entschied die Anführerin der Waldgeister. „Aber nur unter der Bedingung, dass du deine Kinder von uns erziehen lässt. Lass sie zu Waldgeistern werden. Und ich meine alle deine Kinder." Padma sah auf Lavinias Bauch. Wer bei ihnen bleiben wollte musste bezahlen und sie wusste, dass Lavinia das Angebot annehmen würde. Sie konnte nicht anders sie hatte keine andere Chance. Padma fühlte sich siegessicher.
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„Du hast eine Schwester?", fragte ich beiläufig, als wir zusammen im Baumhaus saßen und uns anschwiegen. Ich zumindest schwieg. Ivo las in einem seiner Bücher von dem er jetzt aufblickte.
„Ich habe drei Schwestern, aber zwei von ihnen leben nicht bei den Waldgeistern. Sie sind gegangen. Die eine in die Stadt und bei der anderen weiß ich es gar nicht. Meine jüngste Schwester ist zehn und wohnt noch bei unserer Mutter. Sie zu verlassen fiel mir wohl am schwersten aber Zebra kümmert sich gut um sie und sagt ihr wie es mir geht."
Seine Offenheit war überraschend.
„Geschwister zu haben, ist toll", sagte ich nachdenklich in meinen Erinnerungen schwelgend und machte mich darauf gefasst wieder weinen zu müssen, aber es kam nichts. Es war ein dumpfer Schmerz, der mich beherrschte, der mir sagte dass sie nicht wiederkamen und es sich nicht lohnte sie zu beweinen.
„Sie lenken deine Eltern von dir ab. Sie geben dir Freiraum. Ich weiß nicht, was mein Vater von mir erwartet hätte. Dafür ist er viel zu früh gestorben. Meine Mutter hat sich an uns geklammert und erwartet, dass wir kleine Ausgaben von ihr und unserem Vater werden, aber ich wollte nie so werden. Wie sie auf keinen Fall und Vater habe ich viel zu wenig gekannt. Er starb, als ich zehn war und damals war er einfach der größte für mich, mein Vorbild. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wer er über seine Vaterrolle hinaus war und er war in dem, was er erreichen wollte, unserer Mutter sehr ähnlich."
„Vielleicht geht es ja nicht nur dir so. Vielleicht liegt alles einfach an Padma. Du hast mir gesagt, wie einnehmend sie ist. Wahrscheinlich beeinflusst sie alle Eltern so, dass die Kinder unter ihren idealen aufwachsen als wären es ihre eigenen."
„So ist es auch", gab er zu, „aber sahen sich die anderen gezwungen wegzugehen, bloß um dieser... dieser Diktatur zu entkommen?"
Ich spielte an einem Faden herum, der aus dem Saum meines neuen Kleides ragte. „Kann sein, dass du einfach nur mutiger bist. Du bist schließlich in einen tödlich rasenden Fluss gesprungen, bloß um mich, eine Fremde, zu retten. Hätten das die anderen gemacht?"
„Kommt drauf an, wen du mit „die Anderen" meinst." Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Etwas belustigte ihn. Dieses Lächeln war ansteckend, denn ich spürte wie auch meine Mundwinkel sich hoben, obwohl ich es gar nicht wollte und als Reaktion darauf liefen meine Wangen rot an. Ich fühlte mich immer schrecklich wenn das geschah, aber er achtete gar nicht auf mein Gesicht.
Ich hatte mir eigentlich eine Antwort zurechtgelegt, aber irgendwie fiel mir nicht mehr ein, was ich hatte sagen wollen, weswegen ich zuerst nichts sagte und mir überlegte wie es mir gelänge unsere Konversation weiterzuführen, ohne dass es gezwungen wirkte.
„Was machst du eigentlich so den ganzen Tag alleine im Wald?" Eine vollkommen unverbindliche Frage, die selbst dann interessiert gewirkt hätte, wenn ich es aus purer Höflichkeit gefragt hätte.
„Hmm", lautete Ivos wenig geistreiche Antwort.
„Was hmm?", hakte ich nach. Meine Stimme hatte einen lockeren Klang, den ich nie von mir erwartet hätte, zumal mir vor einer Minute im Grunde noch zum Heulen zumute gewesen war. Ivo wirkte immer noch wie eine gute Medizin.
„Naja, dies und das..."
Es war mir furchtbar peinlich, aber ich musste lachen. „Komm schon, du wirst doch wohl wissen, was du tust irgendein Tagesablauf wie Essen, Schule, Essen, Hausarbeit, Lesen, sich mit Freunden treffen, Schwimmen gehen... Irgendwas eben."
„Eigentlich gibt es da echt nichts. Ich habe bis letzter Nacht in aus Stöcken gebauten Hütten gehaust, wenn ich Glück hatte, mir eine bauen zu können. Zu essen gab es das, was Zebra mir bringt und was ich finde. Ich jage nicht sonderlich gerne. Außerdem habe ich kein besonders großes Talent dafür."
„Dann können wir es ja zusammen ausprobieren, weil ich nämlich noch nie gejagt habe. Mein Großvater hatte eine Armbrust, aber er hat sie nie benutzt und dann ist Oma gestorben und er ist zu meinem Onkel gezogen. Ans Meer, wo die Luft angeblich viel besser ist als in den Wäldern. Naja, da gibt es angeblich nichts zum Jagen und er hat sie hiergelassen. Sie liegt irgendwo verstaubt auf dem Dachboden."
Alle „gefährlichen" Gedanken an mein Zuhause ließen sich leicht aus meinem Kopf verbannen, wenn Ivo mich so ansah. Er linderte allen Schmerz, der in mir brannte und hielt mich an der Wasseroberfläche des gefährlichen Meeres in mir.
„Hast du Lust mal mit Pfeil und Bogen zu schießen?", fragte er und ich nickte.
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