Die Seele des Waldes

Ich gewöhnte mich schnell an das Leben im Wald. Es fiel mir immer leichter in die Baumkrone hinaufzuklettern und auch wenn mich ein schrecklicher Muskelkater plagte, erfüllte es mich doch mit einem gewissen Stolz.

Ich hatte mir zudem eine gute Zeit ausgesucht, um in den Wald zu kommen. Der Sommer kam und nicht nur die Tage wurden länger und wärmer, sondern die Nächte kürzer weniger kalt. Wir saßen abends häufig noch da und betrachteten die Sterne, bis uns die Müdigkeit schließlich packte. Ich schlief weniger, als ich es zu Hause getan hatte, denn ich ging nicht nur später zu Bett, sondern stand auch früher auf, denn die Sonne und die Vögel weckten einen schon in den frühen Morgenstunden. Merkwürdigerweise fühlte ich mich aber nicht ausgelaugt, sondern geradezu belebt.

Ivo war eine angenehme Gesellschaft und er machte es mir leicht, mich in seinen Tagesablauf einzufügen. Es gab viele Arbeiten zu verrichten. Allen voran ging unsere Ernährung. Ivo schoss kein Wild und Fische, die eine ausreichende Größe zum Essen hatten, gab es in unserer näheren Umgebung nicht. Aber es wurde Sommer und es gab Pflanzen im Wald von denen wir uns ernähren konnten. Ich aß Beeren, die mir noch nie zuvor als essbar aufgefallen waren und Wurzeln von Sträuchern, die ich am Waldrand noch nie zuvor gesehen hatte und die so schmeckten wie eine Mischung aus Möhren und Kartoffeln. Das einzige, was ich an Essen schmerzlich vermisste, war frisch gebackenes Brot, was für mich als Tochter der Bäckerfamilie schon immer zum Alltag gehört hatte. Das Brot, das Zebra uns manchmal brachte war alt und hart und manchmal schmeckte es auch anders. Ich vermutete, dass es nicht nur eine vollkommen andere Rezeptur hatte, sondern auch aus einem wilden Getreide hergestellt wurde, das irgendwo hier im oder eher gesagt am Wald wuchs.

Die unkomfortable Seite des Waldlebens zeigte sich vor allem in der Hygiene. Zuhause hatten wir einen Badezuber gehabt, in dem wir einmal in der Woche alle gebadet hatten. Hier blieb uns nur der Bach, um uns zu waschen, ein kleiner Seitenarm des Flusses. Das Wasser war kälter als das im See und was noch viel schlimmer war, dass es keine einzige Stelle mit Sichtschutz gab. Ich musste mich darauf verlassen, dass niemand - und vor allem nicht Ivo - meiner Badestelle zu nahe kam, wenn ich dort vollkommen entblößt stand und mich mit bibbernden Zähnen wusch.

Ein weiterer Aspekt der Hygiene traf mich vollkommen überraschend etwa eine Woche, nachdem wir am See gewesen waren. Als ich aufwachte, spürte ich sofort das Blut zwischen meinen Beinen und verfluchte mich innerlich dafür, dass ich so dumm gewesen war meine Regelblutung zu vergessen. Völlig verschämt weckte ich Ivo, denn es gab keinen Fetzen Stoff, den ich als Binde hätte benutzen können und außerdem fand ich einen Fleck auf meiner Matratze vor, den ich unmöglich hätte kaschieren können. Nichts war mir je so peinlich gewesen.

Ich merkte ihm an, dass ihm die ganze Sache genauso unangenehm war wie mir, aber er gab sich Mühe, dass ich es ihm nicht anmerkte. Wir hatten das Glück, dass Zebra an diesem Tag vorbeikam und sofort wieder verschwand, um Binden für mich zu holen. Währenddessen hatte Ivo mir behelfsmäßig ein Stück einer alten Decke gegeben und ich war an den Bach gegangen, um meine Wäsche zu waschen.

Am Ende des Tages war nichts mehr von dieser Unpässlichkeit zu sehen und ich würde es zukünftig so regeln können, dass Ivo davon nichts mehr mitbekommen musste.

So begann mein neues Leben in geregelten Bahnen zu verlaufen und Ivo war der Überzeugung, dass es für mich an der Zeit war nicht nur im Wald zu wohnen, sondern ihn auch zu fühlen. Ich verstand nicht genau, was er damit meinte, aber es musste wohl die Magie der Waldgeister sein, von der er da sprach.

Es war ein Tag mit einem wolkenverhangenen Himmel, der es im Wald besonders kühl werden ließ. Wir waren spät aufgestanden, hatten etwas trockenes Brot gefrühstückt und waren losgezogen, um zu sehen, was wir sonst noch alles fanden. Wir waren nicht lange gelaufen, als Ivo auf einmal die Stille durchbrach, die immer zwischen uns herrschte, wenn wir einfach nur durch den Wald spazierten und Worte uns nur gestört hätten.

„In Zukunft wäre es besser, wenn wir uns aufteilen. So finden wir niemals genug Essen für zwei Leute und zu zweit decken wir ein viel größeres Gebiet ab."

Ich nickte. „Klingt einleuchtend. Aber das wäre ein Abschied für immer. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder zum Baumhaus finden würde. Mit Glück würde ich vielleicht den Weg aus dem Wald oder zu den Waldgeistern finden, aber das würde wahrscheinlich auch tagelanges umherirren bedeuten."

Meine Orientierung hatte sich bis jetzt wirklich nicht als die beste erwiesen und ich war froh, dass ich alleine den Weg bis zum Bach und wieder zurückfand. Aber alles, was in einem Radius von mehr als fünfhundert Metern um unser Baumhaus herum lag, war für mich fremd und sah gleich aus.

„Deswegen wird es Zeit, dass du lernst dich zu orientieren", sagte Ivo. „Es wird nicht einfach und einige Zeit in Anspruch nehmen, also je früher wir anfangen desto besser."

„Und was genau werde ich lernen?"

„Du musst lernen den Wald zu fühlen."

„Das sagtest du schon öfter, aber ich weiß immer noch nicht, was genau du damit meinst."

„Das Problem ist, dass es nicht einfach ist, es mit Worten zu beschreiben. Aber ich versuche, es dir so einfach wie möglich zu erklären. Nun, die ganze Welt ist voller lebender Organismen. Das sind nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen und im Wald gibt es besonders viele davon. Und sie sind so nahe beieinander und ihre Wurzeln häufig so miteinander verschlungen, dass sie zusammen eine Einheit bilden. Wie Menschen, die sich an den Händen halten. Und du kannst lernen, jedes einzelne Lebewesen zu spüren, wenn du dich darauf konzentrierst. Du wirst lernen, wie sich die Gegend um das Baumhaus herum anfühlt und du wirst dich selber so mit ihr verankern, dass du immer wieder dorthin zurückfinden wirst."

Ich sah ihn mit großen Augen an. Als ob ich jemals in der Lage wäre, so etwas zu tun. Es war Magie und diese wurde nur von wenigen Auserwählten praktiziert, die ihr ganzes Leben ihrem Zirkel versprochen hatten und abgeschottet von der Gesellschaft lebten.

„Und du denkst, dass ich das lernen kann?" Ich konnte die Skepsis nicht aus meiner Stimme verbannen.

„Ich weiß, dass jeder es lernen kann, Chiara", versicherte er mir. „Es ist vollkommen natürlich. Die Menschen haben das nur vergessen."

„Und wie fange ich an? Wie bringe ich meinen Körper dazu, es zu fühlen?"

„Es gibt verschiedene Wege. Jeder Mensch ist unterschiedlich und lernt es anders als ein anderer. Ich habe es von Kindesbeinen an gelernt und war mir des Waldes bewusst, bevor ich es überhaupt bemerkt habe. Es war schon immer ein Teil von mir."

„Und wie hilft mir das weiter?", fragte ich leicht ungeduldig, denn er gab mir keine Antworten, mit denen ich etwas anfangen könnte.

„Zuerst gar nicht", gab er zu, „aber mit der Zeit wird es sich für dich immer ähnlicher anfühlen. Du weißt zumindest, was dein Ziel ist."

„Sehr ermutigend", antwortete ich sarkastisch.

Ivo verdrehte die Augen. „Am Anfang wirst du dich sehr stark konzentrieren müssen und alle anderen Reize müssen ausgeblendet sein. Du musst etwas in deinem Kopf aktivieren, was zuvor geschlafen hat. Vielleicht kann man es mit lesen lernen vergleichen. Also schließ deine Augen und fokussiere dich fürs Erste nur auf meine Stimme."

Ich war wenig optimistisch eingestellt, aber leistete seine Anweisung trotzdem Folge und schloss meine Augen.

„Gut", fuhr er fort. „Die Geräusche, die Gerüche und die Erde, die du unter deinen Füßen spürst, sind nur nebensächlich. Sie sind lediglich die greifbare Manifestation dessen, was du jetzt zu spüren versuchst. Du willst die Seele des Waldes spüren."

Ich öffnete meine Augen einen Spaltbreit. „Kannst du dich ein bisschen verständlicher ausdrücken? Wenn du solche Worte benutzt, kannst du nicht erwarten, dass ich verstehe, was du meinst."

„Augen zu", forderte Ivo, der ein geduldiger, wenn auch unbeholfener Lehrer war. „Ein letzter Vergleich fällt mir noch ein. Wäre der Wald ein menschliches Wesen, wäre es so, als würdest du seine Gedanken lesen wollen."

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich es anstellen würde, eines anderen Gedanken zu lesen, aber mir wurde deutlicher, was genau ich spüren sollte. „Alles klar, ich versuch's."

Ich versuchte meinen Kopf von allem zu leeren, was zurzeit in ihm herumgeisterte. Ebenso versuchte ich alle Eindrücke des Waldes auf mich abzublocken und letzten Endes waren es nur noch unsere Atemgeräusche, die in meinem Kopf widerklangen. Ich versuchte meinen Geist auszudehnen und mehr wahrzunehmen als nur mich selbst, aber nach zweihundert Atemzügen gab ich es auf. Es fühlte sich kein bisschen anders an als zuvor.

„Ich krieg es nicht hin", seufzte ich und schlug die Augen auf.

Ivo musterte mich nachdenklich. „Ich habe da eine Idee, wie ich es für dich leichter machen könnte, aber ich habe keine Übung darin und weiß nicht, ob es funktioniert."

„Dann erzähl mir, was für eine Idee das ist und solange der Versuch uns nicht in tödliche Gefahr bringt, sollten wir es probieren."

„Ich könnte versuchen, dich dazu zu bringen, es zu spüren."

„Hör endlich auf in Rätseln mit mir zu sprechen."

„Das Ganze ist so schrecklich ungenau. Aber im Groben werde ich versuchen dich zu erfühlen wie ich den Wald erfühle und eine Verbindung zwischen dir und dem Wald knüpfen. Zumindest ist das der Plan."

Ich sah ihn ungläubig an. „Du kannst mich spüren? War das gerade mit dem Gedankenlesen nicht nur rein hypothetisch?"

„Nein, nein, nein. Gedanken zu lesen ist vollkommen unmöglich. Zumindest für Menschen. Ich kann nicht in deinen Kopf eindringen wie es mir beliebt, sondern ihn nur spüren. Stell dir vor der Wald ist ein Apfel, der an einem so hohen Ast hängst, dass du ihn nicht erreichen kannst, ich aber schon. Ich pflücke den Apfel und gebe ihn dir. Einverstanden?"

Ich nickte. „Das war erstaunlich verständlich. Dann fang an. Ich bin bereit."

Diesmal ließ ich meine Augen geöffnet und sah in seine. Sein Blick war so intensiv, dass ich ihm nicht ausweichen konnte. Ich wusste nicht, ob zu diesem Zeitpunkt schon eine Verbindung zwischen uns bestand, aber ich könnte schwören, sie wäre da.

Und da war sie. Unsere Verbindung. Sie gewann immer weiter an Intensität. Zunächst wusste ich nur, dass da jemand war, der mich in meinem Kopf berührte. Dann wurde der imaginäre Blick auf die Person immer klarer und ich spürte klar und deutlich, dass es Ivo war, der mich berührte, mich sanft festhielt mit seinen Gedanken. Es fühlte sich gleichzeitig fremd und vertraut an. Er war sehr vorsichtig und hielt sich zurück und zur selben Zeit konnte ich auch Unsicherheit ausmachen. Es fühlte sich beinahe so an, als könnte ich seine Gedanken lesen und ich war mir sicher, dass ich mich für ihn genauso anfühlte. Hatte er mich was das anging angelogen, um mich zu beruhigen oder hatte er einfach nicht gewusst, dass es so sein würde?

Ich glaubte, dass er diesen Gedanken oder zumindest das Gefühl, das von ihm ausging, gespürt hatte, denn die Unsicherheit war auf einmal stärker zu spüren. Ich deutete es so, dass er nicht gewusst hatte wie weit unsere Verbindung gehen würde. In diesem Zustand war es ihm vollkommen unmöglich, mich anzulügen, beziehungsweise mir etwas vorzumachen.

Er hielt die Verbindung aufrecht und stabilisierte sie. Wir gewöhnten uns beide an das Gefühl des anderen in - nein - an unserem Kopf zu spüren.

Und dann holte er den Wald dazu. Es war etwas Großes, was er mich da spüren ließ, etwas das sich ganz anders anfühlte als er. Einerseits fühlte es sich weniger lebendig an, andererseits jedoch bestand es nur aus purem Leben. Es waren so viele kleine Organismen, die sich in meinem Kopf auf einer abstrakten Karte abbildeten und sich neben Ivo gesellten. Ein unbeschreibliches Gefühl, das so viele einzelne Aspekte umfasste, dass ich sie in einer Million Jahren nicht würde separat spüren können.

Aber da war noch etwas anderes, was sich neu dazu gesellt hatte. Es war etwas, das ich absolut nicht einordnen konnte, was weder Ivo noch der Wald war. Es war eine kleine Präsenz, eindeutig lebendig und eigenständig und doch war sie anders. Und kaum hatte ich sie gespürt da merkte ich, dass Ivo sie blockierte und zurückdrängte, bis ich schließlich nichts mehr davon spüren konnte. War das vielleicht ein Tier gewesen, das uns nahe gekommen war?

Langsam merkte ich, dass Ivo sich immer weiter von mir löste und ich mir immer mehr gewahr wurde, dass wir uns immer noch in die Augen sahen, ohne zu blinzeln.

Der Wald allerdings blieb, auch als Ivos geistige Präsenz für mich nicht mehr spürbar war, blieb der Wald noch einige Sekunden erhalten und ich fühlte die Bäume in unserer Umgebung, das Ungeziefer im Boden und die schiere Unendlichkeit dieses Komplexes.

Viel zu schnell entglitt er mir jedoch wieder und ich fand mich komplett in der körperlichen Welt wieder, die ich vor wenigen Minuten verlassen hatte.

„Ich hab ihn gespürt", sagte ich stolz. „Auch noch als du weg warst."

Ivo lächelte. „Das ist gut. Das ist sehr gut. Es wird dir in Zukunft leichter fallen, den Wald von selbst zu spüren und du kannst üben, wann immer du Zeit hast."

„Ich hoffe, das kann ich wirklich. Sonst musst du mir wieder helfen. Es war beinahe unglaublicher dich zu spüren, als den Wald", sprudelte es aus mir heraus.

„War es das? Ich habe das noch nie bei jemandem versucht und es war anders, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist anders einen Menschen zu fühlen als ein Tier oder gar eine Pflanze."

„Es wundert mich, dass du damit nicht gerechnet hast."

Er zuckte mit den Achseln. „Wenn man an eine Sache so sehr gewöhnt ist, vergisst man schnell, dass sie auch noch Überraschungen für einen bereithalten kann."

„Kann sein", stimmte ich ihm zu. „Wollen wir weiter nach Essen suchen? Mentale Anstrengung macht nämlich auch hungrig."

Er grinste. „In Ordnung."

Und schweigend setzten wir unseren Weg weiter fort, so wie wir es immer taten und genossen dabei insgeheim das neu geschmiedete Band zwischen uns.



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