Home sweet Home I
Torrance, Kalifornien.
Ein Mann lehnte an der Tür meines privaten Quartiers.
Seine Kleidung war ebenso schlicht, wie die farblosen Wände des Korridors um ihn herum. Blaues Shirt, kein Logo. Dazu graue Trainingshosen, deren Enden in abgenutzten Turnschuhen steckten, die aussahen, als wären sie viel zu viele Kilometer gelaufen. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt, die Muskeln darunter wie aus Stein gemeißelt.
Jeder Schritt, durch den schier endlosen Flur auf ihn zu, machte mir nur noch deutlicher, wie riesig er eigentlich war. Eine gottverdammte Mauer aus gestählten Muskeln. Ein klares Hindernis, das jemand mit einem seltsamen Sinn für Humor direkt vor meiner Tür platziert hatte.
Ein Hindernis, das ich postwendend einzureisen gedachte.
Meine Miene war finster, während ich von dem lauernden Giganten unbeeindruckt, wie ein Soldat auf einer Mission voranmarschierte. Ich hatte die letzten sieben Stunden auf dem Rücken eines Pferdes verbracht und mich durch die Überbleibsel der einstigen Zivilisation geschlagen.
Die Welt war eine andere geworden. Nicht dass ich je das Vergnügen gehabt hatte, die alte Welt - jene Welt, von der zahllose Überbleibsel und Geschichten berichteten - persönlich kennenzulernen.
Mein Wissen über die Menschheit vor ihrem Untergang war ein Mosaik aus vergilbten Seiten, verblassten Schlagzeilen und den fragwürdigen Geschichten der Alten.
Internet, Katzen-Memes, Kryptowährung. Worte, deren Sinn und Klang mir auf ewig ein Rätsel bleiben würden, die mich jedoch auf eine beinahe ungesunde Weise faszinierten. Es war die Gier nach verborgenem Wissen, das zwar irgendwie da, aber doch nie wirklich greifbar war. Für mehr als Fragmente hatte jener Wissensdurst jedoch nie gereicht. Es gab keine Zeitzeugen mehr und mit jedem Jahr, das ins Land zog, ging ein wenig mehr Wissen verloren. Für immer begraben in Ruinen aus Stein und Stahl. Alles, was blieb, waren Worte, weitergegebene Erinnerungen, die mit jeder neuen Generation immer mehr an Farbe verloren.
Doch zumindest reichten die wenigen Fragmente an Wissen, um eines ganz genau zu begreifen - Armageddon hatte seinen Job mehr als erledigt. Auf meiner Rückreise von Santa Ana hatte mich meine Route entlang der Interstate 405 geführt. Nordwestlich, dicht an der Küste entlang, vorbei an vergessenen Städten wie Rossmoor und Long Beach, bis nach Torrance, wo die Gilde dieser Tage operierte.
Der Highway, einst eine pulsierende Lebensader, welche täglich die Heimat unzähliger Reifen gewesen war, jetzt kaum mehr als ein Friedhof aus Metall und Erinnerungen. Tausende verrostete Überreste der Fahrzeuge, die einst diese Route bevölkerten, stellten nun unberechenbare Hindernisse dar. Monströse Gerippe aus Stahl, von denen man nie wissen konnte, was sich in ihren Eingeweiden womöglich verbarg.
In einem Moment stieg man nichts ahnend vom Rücken seines getreuen Reittiers, um eine Massenkarambolage zu umgehen und zack, im nächsten Augenblick, knabberte auch schon ein besonders hässlicher Höllenbastard an einem deiner Beine. Doch natürlich waren es nicht nur die Dämonen, die es zu fürchten galt. Oh nein ...
Chaos, Verzweiflung und die totale Abwesenheit jeglicher Ordnungsmächte hatten über die Jahrzehnte den Menschen selbst zu einem nicht minder bedrohlichen Faktor gemacht. Im Grunde war es ganz einfach, die Apokalypse hatte nämlich nicht nur den Großteil der Zivilisation dahingerafft, sondern ganz nebenbei auch die letzten Reste menschlicher Ethik außer Kraft gesetzt – falls solche denn je wahrhaft existiert hatten.
Herumtreiber, Banditen und Mörder herrschten jetzt auf den Straßen, als wären sie in Wahrheit die leibhaftigen Boten der Hölle und nicht die Dämonen, welche wir kollektiv zu überleben versuchten.
Doch trotz aller Tücken blieb der Highway schlichtweg die beste aller Reiseoptionen. Denn die Gefahren, die dort lauerten, mochten ärgerlich sein, verblichen jedoch im Vergleich zu den Schrecken, die in den dicht besiedelten Gebieten der ehemaligen Vorstädte Kaliforniens ihr Unwesen trieben.
Nein, man konnte nie vorhersehen, was in den verfallenen Gassen der Trabantenstädte lauerte. Und weil man es eben nie wissen konnte, mied man diese Orte - zumindest wenn man mehr Verstand als ein schimmeliger Schwamm besaß. Und musste man doch hinein, tja, dann machte man sich besser auf alles gefasst.
Apropos gefasst, worauf ich gar nicht gefasst war, war die Miene, mit der mich Pit begrüßte, als ich vor ihm zum Stehen kam.
Uns trennte mehr als eine Armlänge, und trotzdem musste ich den Kopf weit nach hinten neigen, um in seine Augen zu sehen. Meine Körpergröße von über 1,80 Metern war normalerweise beeindruckend, aber neben Pit fühlte ich mich fast schon klein. Er ragte wie ein verdammter Turm über mir auf.
In dem sanften Licht der nachmittags Sonne, das durch die Fenster des Korridors hereinflutete, leuchtete sein Haar in einem natürlichen Kupferton. Es war eine echte Schande, dass er es so kurz trug, dass die Konturen seiner Kopfhaut darunter deutlich hindurchschimmerten. Zu sagen, dass jemand hässlich war, gehörte normalerweise nicht zu meinem Stil. Immerhin macht Gefallen schön ... doch in Pits speziellem Fall war es eine offenkundige Tatsache.
Oh ja, er war hässlich. Sein Gesicht erinnerte an einen grimmigen Pitbull, mit Mundwinkeln, die ständig nach unten zeigten, und Augen, die so dunkel waren, dass sie fast schwarz erschienen. Daher auch sein klangvoller Name - Pit.
In diesem Augenblick zog er seine Nase hoch, die in der Vergangenheit offensichtlich mehrmals gebrochen worden war, und hob die Augenbrauen so weit, dass es schien, als könnten seine Augen jeden Moment aus ihren Höhlen springen. Wundervoll, ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Ich war am Arsch.
Eine Schar junger Rekruten steuerte von der linken Seite des Korridors lachend auf uns zu. Mein Blick ging unweigerlich in ihre Richtung. Zwei Mädchen und drei Jungen, die alle im jugendlichen Alter von fünfzehn bis etwa zwanzig Jahren zu sein schienen. Sie waren in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, erzählten von einer Trainingseinheit, bei der einer der Jungen, den sie als Lappen bezeichneten, eine unvergessliche "Abreibung" erhalten hatte. Das zumindest erklärte, warum alle Jugendlichen in Uniform waren.
Die Jungen, besonders aufgedreht, ließen ihre Stimmen durch den mit Türen gesäumten Gang hallen, wobei sie sich gegenseitig spielerisch schubsen, wie es Jugendliche manchmal taten, wenn sie zu viel Energie hatten. Entweder war das Training mittlerweile weniger intensiv als zu meiner Zeit, oder die drei Kerle, waren wegen der Anwesenheit der Mädchen so aufgekratzt.
Besessen oder nicht, die Pubertät verschonte niemanden.
Was letztlich auch immer der Grund für ihr Verhalten gewesen sein mochte, ihr Theater fand ein jähes Ende, als sie Pit und mich erblickten. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mir einzureden, dass es an meiner imposanten Erscheinung lag, welche die Jugendlichen derart in Ehrfurcht versetzte.
Nö, es lag eindeutig an Pit.
Die Jungen, die ihre vorangegangene Ausgelassenheit irgendwo im Korridor verloren hatten, richteten ihre Blicke unverzüglich auf den Boden, ebenso wie ihre weibliche Begleitung. Fast war amüsant, die kleine Gruppe zu beobachten, wie sie sich alle Mühe gaben, Ignoranz gegenüber Pit und mir zu heucheln, während sie doch immer wieder heimliche Blicke riskierten. Ich verkniff mir ein Schmunzeln, während ich sie meinerseits ganz offen musterte. Sie versuchten so krampfhaft nicht aufzufallen, dass sie genau das Gegenteil bewirken.
Mein Blick folgte ihnen, als sie mit eingezogenen Köpfen und ohne jeden Gruß an uns vorbeihuschten. Kaum dass sie mich und die menschliche Mauer passiert hatten, nahm ihr Gang an Tempo zu. Demnach dauerte nicht lange, bis sie einheitlich schweigend hinter einer Ecke, am anderen Enden des Flurs verschwanden. Erst dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit zurück zu dem Mann vor mir, der ganz nebenbei noch immer meine Zimmertür blockierte.
»Die haben sich deinetwegen fast in die Hose geschissen«, lies ich Pit wissen und deutet mit dem Daumen über die Schulter. Dieser zuckte nicht einmal mit der Wimper. Noch immer gaffte er mich mit diesem dämlichen Gesichtsausdruck an, als besäße bloß diesen einen Ausdruck. Dann endlich kam doch Bewegung in den menschgewordenen Pitbull und er lösen seine Arme vor der Brust.
Die Hände erhoben, als plante er mich jede Sekunde zu erwürgen, trat er einen winzigen Schritt nach vorne. Nicht genug, um den Weg freizumachen, aber ein Anfang.
- 1296 Worte -
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