Gerüchteküche

Ein Besuch im dritten Stock galt als unvermeidliches Ende - zumindest behaupteten das die Rekruten gerne während ihrer Mittagspause. Die Tatsache, dass neunundneunzig Prozent von ihnen nie einen Fuß in dieses Stockwerk gesetzt hatten und es vermutlich auch nie tun würden, minderte ihren Einfallsreichtum dabei keineswegs. Im Gegenteil, sie folgten eher dem Motto: je dünner die Faktenlage, desto üppiger die Gerüchte. Und was für Gerüchte das waren ...

Der dritte Stock, ein Ort der ewigen Ödnis, wo selbst in der brütenden Hitze der kalifornischen Sommermonate eine gespenstische Kälte herrschte. Das nervenaufreibende Gefühl, beobachtet zu werden, überkam jeden, der es wagte, die endlosen Korridore zu durchstreifen. Selbst wenn weit und breit kein anderes lebendes Wesen zu sehen war, fühlte man sich nicht allein.

Oh, und natürlich lauerte hinter praktisch jeder Tür eine grässliche Gefahr in Form tückischer Fallen, die nur darauf warteten, durch die kleine Unachtsamkeit einer armen Seele ausgelöst zu werden. Dass es aus Sicht der Gildenleitung wenig Sinn machte, die eigenen Mitglieder in tödliche Fallen zu locken, wurde in den Gerüchten natürlich nie erwähnt.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Büro der Gildenmeisterin. Das wiederum wurde nur allzu gerne erwähnt. Brach man die Gerüchte herunter, handelte es sich bei besagtem Büro um nichts weniger als das irdische Pendant zur Hölle. Wer einmal hineinging, kehrte als ein gänzlich anderer Mensch zurück. Uhh, gruselig!

Fein, zumindest in diesem Punkt hatten die Frischlinge nicht ganz unrecht. Denn ich für meinen Teil konnte noch so gut gelaunt in Iris' Büro marschieren und kehrte am Ende doch stets schlecht gelaunt zurück. Also ja, in gewisser Weise stimmte dieses Gerücht - nur auf weniger theatralische Art. Der Rest hingegen war selbstverständlich Bullshit.

Es gab keine geisterhaften Temperaturabfälle, genauso wenig wie es keine ominöse Instanz gab, die Besucher im Auge behielt. Die Realität war, dass das Ominöses, was sich in den Fluren des dritten Stockwerks herumtrieb, Pit war, welcher - darauf wettete ich einen Schokoriegel - sich zum aktuellen Zeitpunkt noch immer vor meiner Zimmertür die Beine in den Bauch stand.

Natürlich gab es auch keine tückischen Fallgruben, in die man trat, um ins Ewige nichts zu stürze. Wenn überhaupt war die größte Falle, über die man Stolpern konnte, die endlosen Treppenstufen, die ich just in diesem Moment erklomm.

Nein, die schnöde Wahrheit lautete, der dritte sah ganz genauso, wie der erste und der zweite Stock aus. Was wiederum daran lag, dass sie exakt baugleich waren. Surprise, Surprise, Architektur gab auf Gerüchte einen scheiß.

Stufe um Stufe schleppte ich mich immer weiter hinauf, wobei ich das Brennen meiner Oberschenkel zu ignorieren versuchte, bis ich endlich den Obersteintreppenabsatz erreichte.

Hinter einer Milchglastür, deren verblichene Buchstaben kaum noch das Wort 'Verwaltung' erkennen ließen, verbarg sich der Legendäre dritte Stock. Meine Finger umklammerten den auf Hüfthöhe angebrachten Metall Stoßgriffs, der unter Druck mit einem leisen Ächzen nachgab. Vor mir erstreckte sich ein langer Korridor, dessen gesamtes Farbspektrum sich auf genau einen Farbton herunterbrechen ließ - Grau.

Die hellgrau gestrichenen Wände verschmolzen beinah mit dem ebenso grauen Linoleumboden. Obwohl die Gilde über einen eigenen Stromgenerator verfügte, hatte Iris einen Großteil der Deckenleuchten herausreißen lassen, weshalb nun vereinzelten Lose Kabel von der Decke baumeln. Ansonsten wirkte der Korridor jedoch makellos sauber, ja fast schon steril. Ein Eindruck, der durch den Mangel von jeglicher Dekoration nur noch verstärkt wurde.

Genau wie in den beiden Stockwerken darunter gingen auch hier Links und rechts etliche Türen ab, die zu den einzelnen Büros führten, in welchen fleißig gearbeitet wurde. Nicht einmal die biblische Apokalypse hatte es vermocht, die Menschheit vom Joch der Bürokratie zu bereifen.

Ganz am Ende des Flurs hing an einer schwarz lackierte Tür ein rotes Schild, auf dem sich ein in Gold gehaltenes Pentagramm abzeichneten. Das Büro der Gildenmeisterin. Genau der Ort, an den ich musste.

Ich marschierte den Korridor hinunter auf das Schild zu, wobei ich den übrigen Büros, auf meinem Weg nur flüchtig einen Blick zuwarf. Die Tür des Schatzmeisters stand offen, dahinter erstreckte sich ein kleines, dafür jedoch hervorragend ausgestattetes Büro. 

Hinter einem akribisch sortierten Schreibtisch saß ein älterer Herr, dessen lichter werdende Haarpracht farblich perfekt zum Flur passte. Er trug ein marineblaues Poloshirt und blätterte in seiner Arbeit vertieft, durch einige Akten. Obwohl ich in der Vergangenheit schon des Öfteren mit ihm gesprochen hatte, war es mir doch nie gelungen mir seinen Namen zu merken. Also nickte ich bloß, als er durch meinen Schritt angezogen, die Augen von seinen Papieren hob.

Seine Augenbrauen wanderten angesichts meines Anblicks ein Stück nach oben. Dann erwiderte er ebenfalls schweigend meine Geste und lenkte seinen Blick zurück auf seine Arbeit. 

Ich nahm ihm seine Reaktion nicht übel, denn an seiner Stelle hätte ich mir auch keinen zweiten Blick zugeworfen. Obwohl ich nach meiner Konfrontation mit dem Imp zumindest versucht hatte, die Spuren unseres Kampfs von mir und meiner Kleidung abzuwaschen, ließ das Ergebnis deutlich zu wünschen übrig.

Noch immer klebten Asche und Ruß an mir. Bedeckten hartnäckig Teile meiner Haut und Kleidung, ganz zu schweigen von meinen Haaren, deren aktuelle Farbe Meilen weit von ihrem ursprünglichen Blondton entfernt war.

Als ich vor dem Büro der Gildenmeisterin stand, hob ich die Hand, um anzuklopfen. Hinter mir erklang die Stimme eines Mannes.

»Die Meisterin der Gilde ist gerade nicht in ihrem Büro.«

Stirnrunzeln warf ich einen Blick über die Schulter. Der Kerl von zuvor, hatte seinen Kopf aus der Tür gestreckt und sah mich mit müden Augen an.

»Was soll das heißen?«, fragte ich hörbar genervt. Instinktiv wandte ich ihm nun auch den Rest meines Körpers zu.

»Es heißt, dass die Meisterin der Gilde sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht in ihrem Büro befindet«, erklärte er mir in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er mich für eine Idiotin hielt. 

Wie von selbst verschränkte ich die Arme in abwehrender Haltung vor der Brust.

»Klar, das hab ich verstanden. Aber wo ist die Gilden Meisterin denn, wenn nicht Büro?« 

 Ich konnte wirklich nichts dafür, dass ich schnippisch klang. Immerhin war es Iris, die auf mein sofortiges Erscheinen gepocht hatte, wo zum Teufel trieb sich die alte Schachtel also herum?

Der Schatzmeister zuckte mit den Schultern, »Darüber bin ich nicht informiert.«

Ich stöhnte. »Gut. Wann kommt sie wieder?«

Es folgt ein weiteres Schulterzucken. 

»Tut mir leid. Darüber bin ich ebenfalls nicht informiert«, gab er preis, ohne jedes Beteuern in der Stimme.

Na toll...

Ich versuchte mich an einem neutralen Ton, immerhin konnte der Kerl vor mir nichts für Iris verhalten, doch scheiterte ich kläglich.

»Und was soll ich jetzt tun?«

Schon wieder ein Schulterzucken; »Du kannst warten, oder du kommst später wieder.«

Ein Fluch stahl sich über meine Lippen, während ich die beiden Optionen abwägte. Nicht, dass es da tatsächlich etwas zum abzuwägen gab. Denn selbst wenn ich zurück zu meinem Zimmer ging, so würde ich trotzdem nicht hineinkommen.

»Dann warte ich eben ...«

Der Kerl nickte und verschwand, nach einem weiteren Schulterzucken wieder in seinem Büro. Ich verdrehte die Augen.

In Ermangelung einer Sitzgelegenheit, lehnte ich mich an die Wand neben Iris Bürotür. Neben mir war ein Fenster eingelassen. Obwohl es einen Griff hatte, lies es nicht öffnen, eine Sicherheitsmaßnahme, wie man sie öfter in den höheren Stockwerken von Gebäuden fand. Offenbar waren die Menschen der Vorzeit sehr oft aus Fenstern gefallen. Eine Schulter gegen die Wand gepresst, starrte ich hinaus.

Die Nachmittagssonne stand bereits tief am Horizont. Das Hauptquartier lag in unmittelbarer Nähe zum Highway und somit auch zum Standzentrum. Seit die Gilde der letzten Tage Kalifornien zu ihrem Jagdgebiet gekrönt hatte, dient der frei stehende Bürokomplex ihr als Unterschlupf.

Wie ein aus Beton gegossener Würfel erhob sich das schmucklose, dreistöckige Gebäude über die langsam vor sich hin rottenden Ruinen Torrance. Warum Iris Wahl dabei ausgerechnet auf diese Stadt gefallen war, wusste eigentlich niemand so genau. Nicht, dass es eine Rolle spielte.

Ich hatte genug Jahre auf dieser kaputten Erde verbracht, um zu begreifen, dass es überall mehr oder weniger gleich aussah. Die Welt war ein einziger Scherbenhaufen, und ob man nun hier oder dort lebte, änderte auch nichts daran.

Neben mir wurde plötzlich die Tür geöffnet und ich machte einen Satz nach vorn.

Heilige scheiße, hatte ich mich erschreckt.

»Was machst du da?«

Iris nasale Stimme füllte den Korridor. Sie stand im Türrahmen ihres Büros, das Gesicht in meine Richtung gedreht und hob eine Braue. 

Die Meisterin der Gilde, mit ihren gerade einmal eins sechzig, wirkte auf den ersten Blick geradezu unscheinbar. Ihr Äußeres stand in krassem Gegensatz zu den zahllosen Legenden und Gerüchten, die sich um ihre Person rankten. Sie war nicht nur klein, sondern auch schmächtig – und das nicht auf die drahtige Art und Weise, wie es bei flinken Kämpfern oft der Fall war. Ihr dunkelblondes Haar, dass sie wie immer zu einem strengen Knoten am Hinterkopf gedreht trug, war von dutzenden grauen Strähnen durchwoben.

Die für ihr alter noch erstaunlich straffe Haut, deren milchig weißer Teint von wenigen Aufenthalten in der Sonne erzählte, spannte sich über ausgeprägte Gesichtskonturen. Rasiermesserscharfe Wangenknochen, Augen in der Farbe von geschliffenem Stahl und schmale Lippen, die stets einen Hauch von Missbilligung umspielten.

Genau wie bei unserer letzten Begegnung trug sie auch diesmal das violette Gewand, das ausschließlich dem Kopf der Gilde vorbehalten war. Die sackartige Robe hing unförmig an ihrem Körper herunter. Das einzige, was ihr dabei zumindest den Anschein von Form verlieh, war eine zwei Fingerbreite goldene Kordel, die mittig um ihre Taille geschlungen war.

Bevor ich überhaupt eine Chance bekam, etwas zu entgegen, fuhr sie mich auch schon an.

»Wenn du Zeit hast aus dem Fenster zu gaffen, war der Job in Santa Ana wohl ein echtes Kinderspiel. Da frage ich mich bloß, warum ihr doppelt so lange braucht hab, als eingeplant?«

»Warum bist du ... ich dachte... «

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, während ich mich mühte, einen vernünftigen Satz hervorzubringen. Warum war sie in ihrem Büro und noch viel wichtiger, warum hatte der Schulterakrobat mich angelogen?

»Warum bist du ... ich dachte ... hast du beim Einsatz etwas auf den Kopf bekommen?«

Mein Mund sprang auf, doch Iris gab mir keine Zeit zum Antworten. Mit erhobenem Zeigefinger stach sie in meine Richtung, »Spar dir deine Ausreden, Elowin!« Ihre Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. »Und jetzt schieb endlich deinen Arsch in mein Büro, wir haben Dinge zu besprechen.«

Mit noch immer offenem Mund sah ich dabei zu, wie Iris auf dem Absatz kehrt, macht und wieder im Inneren ihres Büros verschwand. »Mach endlich den Mund zu, du siehst lächerlich aus«, sagte sie ohne mich anzusehen.

Mein Kieffer schnappte  zu. 

Tief durchatmen Elowin! Sie ist die Gildenmeisterin und du hast keinen Bock von Salis gespeist zu werden...

Als hätten meine Gedanken ihn heraufbeschworen, spürte ich prompt das vertraute Stechen im Rücken. 

Herrlich, konnte es denn noch besser werden? 

Augenrollend betrat ich das berühmt-berüchtigte Büro von Iris Nightingale



- 1798 Worte -

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