Kapitel 1 - Echo ♣


Sie erschufen die Pflanzen und Tiere zugleich.
Doch Streit ließ ihre Freundschaft voneinander weich.

Dilexi

Neves liebte den Winter, weswegen er sich riesig auf diese Klassenfahrt hier in den Bergen gefreut hatte. Snowboarden zählte zu seinen größten Leidenschaften. Es gab ihm das Gefühl unabhängig und frei zu sein, für diesen Moment, in dem man mit extremer Geschwindigkeit, sodass einem schon die Lungen zerplatzen, die Piste hinunter fährt.
Seiner größten Zuneigung jedoch galt der Schnee. Für ihn waren Schneeflocken zart schmelzende Diamanten, die elegant und engelsgleich durch die Lüfte getragen wurden, um sich anschließend auf der gefühlskalten Erde niederzulassen und ihm die Farbe zu nehmen.

Seine Hände zitterten, als er auf seine Strecke hinunter sah. Nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Dies war die längste und steilste Piste, die nur für echte Profis gemacht war. Wenn er sich nicht beeilte, erwischte ihn einer der Skilehrer oder noch schlimmer: seine Englischlehrerin. Am ersten Tag wurde nämlich besprochen, dass diese Piste für alle aus der Klasse tabu war. Ausnahmslos. Er hatte sogar unterschrieben, dass ein mutwilliges Betreten dieser Bahn und ein darauf folgender Unfall nicht der Herberge angelastet werden konnte und er somit sein eigenes Risiko eingeht, sollte er die Bahn betreten. Doch darum ging es ihm ja. Risiko. Nur so konnte er alles um sich herum abschalten und alle Sorgen vergessen. Wenn das Adrenalin durch seine Venen strömte und ihm alle Ängste nahm.

"Ich bin ein Profi. Ich schaffe das schon", motivierte er sich und zog tief die eisige Gebirgsluft ein. Nervös pustete er weiße Wolken verbrauchter Atemluft aus seinem Mund, als wäre er eine Dampflok. Er legte sein Board auf den Boden, schnallte seine Füße fest und schubste sich langsam nach vorn. Sein Hals war ganz trocken geworden. Zögernde Gedanken schlichen sich in seinem Kopf.

"Neves?" Ein Mädchen, welches er nur zu gut kannte, rief seinen Namen. Mit einem verunsichertem Lächeln drehte er sich zu ihr um. Sie stellte sich ihm Mitten in den Weg und verschränkte die Arme. "Du bist doch vollkommen durchgeknallt! Wir dürfen hier nicht fahren! Du hast versprochen..."
"...dass ich mich auf der Klassenfahrt benehme, ich weiß, Ella", unterbrach er sie. "Und ich benehme mich doch. Ich hab heute morgen ganz brav mein Frühstück aufgegessen"

"Neves, das ist nicht witzig!", beharrte sie. Ihr Blick war ernst im Gegensatz zu dem von Neves.

"Wie wäre es, wenn ich Ihnen einen Deal vorschlage, Frau Klassensprecherin?" Er packte das zarte Mädchen an der Hüfte und zog sie zu sich. "Sie vergessen, dass ich hier war und ich habe anschließend etwas gut bei Ihnen"

Spielerisch nahm sie sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. "Es ist mir nicht fremd, dass Sie mir einen Gefallen erwidern müssten" Sie drückte den Jungen fest an sich gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
"Bitte, sei vorsichtig", flüsterte sie und hielt den Augenkontakt fest.

"Keine Sorge. Ich komme wieder zu dir zurück. Egal, ob tot, oder lebendig", sagte er zuversichtlich und grinste.

"Wenn du stirbst, dann töte ich dich persönlich nochmal. Nur damit du Bescheid weißt", gespielt böse stieß sie ihm in die Seite.

"Aye, Milady", sagte er und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Das war für sie das Stichwort, einen Abgang zu machen. Sie sah noch zu, wie er sich seinen Helm und seine Schutzbrille aufsetzte, bis auch sie zusah, die Aufsichtslehrer abzulenken. Mittlerweile war sie wirklich gut darin geworden, ihren Freund vor Disziplinarverfahren zu bewahren. Grinsend überbrückte er das letzte Stück zwischen ihm und den Abgrund. Erst schlitterte er gemäßigt über die Strecke, doch mit jedem Meter, der dazu kam, nahm er an Geschwindigkeit zu. Er zog leicht seine Beine an, um noch schneller zu werden und um sich auf die Kurven bereit zu machen. Der erste Hügel kam. Neves spannte seine Muskeln an und sprang elegant in die Lüfte. Mit einer grandiosen Landung verfeinerte er seinen Sprung. Kälteschweiß überfiel seine Hände, als die ersten scharfen Kurven kamen. Erst links, dann rechts, dann wieder links und rechts. Der nächste Hügel. Leicht verwackelt kam er auf den Boden auf. Sein Herz pumpte wie verrückt. Es war, als würde es ihm gleich in den Magen rutschen.

Mit zitternden Knien wollte er sich gerade für den nächsten Sprung bereit machen, als ihn eine Explosion ablenkte. Verwirrt schaute er nach oben und achtete nicht auf die Strecke. Als er in einem Mordstempo über den Hügel schlitterte geriet er ins Ungleichgewicht und kam zu schräg mit seinem Board auf dem Boden auf. Er rutschte weg und landete mit einem Mark erschütternden Knacken auf seine rechte Schulter. Ein grauenhafter Schmerz zog sich von seinem Fußknöchel, bis zu seinem Arm. Durch den steilen Abgang rutschte er kopfüber die Piste entlang. Neves bekam Todesangst. Mit seiner linken Hand versuchte er sich im Schnee festzukrallen, doch die Strecke war zu glatt und die Handschuhe machten ihm das noch schwerer.

Ein Grollen, einem Donnern gleich, erweckte seine Aufmerksamkeit. Er versuchte nach oben zu blicken, doch das einzige, was er sah, war eine riesige Masse Schnee. Bei jedem kleinen Hügel erschütterte seine Schulter und er schrie leicht vor Schmerz auf. Seine Knochen fühlten sich an, als bestünden sie aus Glas.
Irgendwann an einer Kurve kam er zum Stehen und konnte sich festkrallen, um nicht weiter abzurutschen.
Mit zitternder Hand machte er sein Board von seinen Stiefeln ab und stemmte sich mit dem linken Arm aus der Bahn raus, in den pulvrigen Schnee.
Unwillkürlich umfasste seine linke Hand seine schmerzende Schulter.
Panisch blickte er zum Berg hinauf. Eine riesige Welle aus Eis bahnte sich seinen Weg zu ihm und verschlang unerbittlich alles, was ihr im Wege stand. Menschen, Bäume, Fahnen. Alles, was sich nicht retten konnte, wurde unter der Lawine vergraben.
Der Junge bekam Panik. Wissend, dass er es niemals rechtzeitig nach unten schaffen würde, schrie er "Ich liebe dich, Ella!", so laut er konnte und hoffte, das Echo würde diese Nachricht zu ihr tragen. Er hörte noch diese Worte ein paar Mal, bis sie vom lauten Grollen der Schneelawine begraben wurden und er mit seinem eigenen Echo im Ohr starb.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top