K. 5 ~ Drachenschädel ♣
Die Elemente machten um sie einen Kreis
Der den Zusammenhalt schweißt
Über ihr, in den Händen, eine Kugel
Geformt aus aller Lebenskraft
Denn ohne den anderen hätten sie es nicht geschafft.
Genus tempore
❄Neves❄
Die indianische Frau hatte mir die ganze Zeit über aufmerksam zugehört, selbst wenn sich nach jedem Satz ihre Stirn noch tiefer in Falten gelegt hatte, sodass sie beinahe wie ihr Vater aussah. „Darf ich das alles nochmal zusammenfassen?" , fragte sie, nachdem ich mit meiner Erzählung fertig war. Ich nickte zustimmen und fuhr nervös mit dem Handrücken über mein Kinn. „Du warst mit deiner Klasse auf einem Ausflug hier in den Bergen und wart in der Herberge The Icebearg – die zufälligerweise seit mehreren Jahren geschlossen ist – untergebracht. Es kam zu einer Schneelawine, von der du begraben wurdest, jedoch kamst du aus dem Eis wieder heraus, als dich ein Fuchs ausgrub. Bei der kleinen Gedenkstätte an der alten Herberge hast du ein Bild entdeckt und auch Abschiedsbriefe, die an dich adressiert waren. Und jetzt willst du wieder zurück nach Hause?"
Aus ihrem Mund klang es noch Schlimmer als erwartet. Und jetzt wurde mir nur noch mehr bewusst, in was für einer Scheiße ich steckte. Vielleicht war ich ja wirklich verrückt und hatte mir das alles nur eingebildet, während ich in Wahrheit auf der Flucht vor der Psychiatrie war. Oder es war ganz einfach ein Traum. Genau, wieso war ich nicht gleich auf die Idee gekommen? Das hier war bloß einer von diesen gemeinen Klarträumen, in dem man weiß, dass es einer ist, doch trotz dessen nicht aufwachen kann. Und wow, es hatte sich alles so echt angefühlt. Es sollte also nicht mehr lange dauern, bis ich aufwachte, und dieser Albtraum ein Ende nahm. „Wieso lächelst du?", fragte Aiyana, die Furche auf ihrer Stirn hatte sich nicht gelöst.
„Mir ist gerade klar geworden, dass das hier nur ein Traum ist"
„Mein Traum, oder deiner?", diese Frage ließ meine Selbstsicherheit um meine Theorie etwas schwanken. Ich wollte gerade meine Hände in die Jackentaschen versinken lassen, als ich ein vertrautes Knistern hörte.
„Coventry Blaze oder Nottingham Panthers?", fragte ich, komplett in Gedanken versunken und holte den Brief von Brand wieder heraus.
„Bitte, was?", fragte sie, nun vollständig irritiert.
„2013 hat Coventry Blaze, eine britische Eishockeymannschaft, gegen die Nottingham Panthers gespielt. Mein Bruder schrieb in seinem Abschiedsbrief, dass Coventry Blaze gewonnen hat. Also, Coventry Blaze oder Nottingham Panthers?" Aiyana zückte ihr Handy und hielt es mir, nach einigen Augenblicken, unter die Nase. Ich blickte nur widerwillig von meinem Blatt.
„Coventry Blaze", sagte sie dass, was ich gerade mit eigenen Augen auf ihrem Display sah. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich diese Erkenntnis noch ein mal verinnerlichte. Es war doch unmöglich, dass ich in meinem ausgedachten träumerischen Abschiedsbrief wusste, dass ich meine Wette verloren hatte. Eigentlich war ich schon immer ziemlich optimistisch gewesen, wenn es um meinen Einsatz bei Wetten ging. Die Frau vor mir zog die Briefe behutsam aus meinen Fingern, wobei ihr auch das Bild, auf dem Ella und ich zu sehen waren, in die Hände fiel. Mir war plötzlich so heiß geworden, weshalb ich mich endlich dazu bewegte, meine fette Skijacke auszuziehen und auf dem Boden abzulegen. Ein Verdacht, welchen ich unmöglich ignorieren konnte, schlich sich in meine Gedanken.
„Welches Jahr haben wir?"
Sie blickte noch nicht ein Mal auf, als sie mir die Antwort gab. „2017" , murmelte sie mit einem Blick, den ich einfach nicht deuten konnte, während sie sich beide Briefe durchlas und anschließend das Bild betrachtete.
„Das ist ein Scherz, oder?", flüsterte ich fast. Ungläubig raufte ich mir die Haare, zerrte so richtig daran, in der Hoffnung, dass meine unausgesprochenen Fragen somit erloschen. Wenn es tatsächlich vier Jahre nach der Lawine, und somit meinem Unfall, her war, wieso zur Hölle war ich dann hier? Die Frau vor mir würde mich niemals im Leben mitnehmen. Ich hatte es verbockt. Sicherlich dachte sie, ich wäre vollkommen durchgeknallt. So langsam fragte ich mich auch, wieso ich ihr dass überhaupt erzählt hatte. War ich etwa schon so verzweifelt, dass ich mich jedem, den ich kaum eine Minute kannte, anvertraute? Wann war ich so lächerlich geworden. Ich musste hier unbedingt raus. Raus aus diesem Laden, raus aus diesem Albtraum, doch ich konnte nicht, Etwas tief im Innern hielt mich fest.
Ich war verdammt nochmal nicht tot, was meine Anwesenheit mehr als nur Bewies. Ich konnte fühlen, denken, atmen, Dinge erfassen und mein Herz schlug. Sah so das Leben nach dem Tod aus? Mein Herz pumpte wie verrückt, als sich plötzlich meine Kehle austrocknete. Kälte umfasste meinen ganzen Körper, als würde ich noch immer in diesem Eis feststecken. Dieses Gefühl zog mich herunter, es war, als würde es meine Seele zusammenquetschen, einfrieren. Aus meiner Nähe vernahm ich ein Knistern, doch ich krallte meine Hände noch fester in meine Haare, welche sich gerade wie Stroh anfühlten. Erst, als Aiyana ihre warme Hand auf meinen Rücken legte, ließ dieses Gefühl ab. Eine Weile herrschte eine unerträgliche Stille, in der ich auf den Boden starrte und alte Erinnerungen hervor ruf, während mich Aiyana unentwegt anstarrte. „Okay", sagte sie schließlich und ich zuckte bei ihrer Stimme zusammen. Sie überschlug ihre Beine. „Ich werde dich mitnehmen. Vorausgesetzt du tust etwas für mich" Verwirrt sah ich ihr in die Augen, welche vollkommene Entschlossenheit ausstrahlten, wie ich sie bei noch keinem so Intensiv gespürt hatte. Sie vertraute mir. Also tat ich es auch.
„Nach Tagesanbruch fahre ich los. Ich mach dir hinten im Lager etwas fertig, wo du schlafen kannst. Ich werde den Laden nachher abschließen und komme dich morgen früh abholen. Sei also bereit, die Fahrt wird sehr lange dauern" Sie hüpfte vom Hocker herunter und stellte ihn an die Seite. Als sie an mir vorbei ging, hielt ich sie am Arm fest.
„Vielen Dank. Das bedeutet mir viel", sagte ich mit einem leichten Lächeln auf dem Lippen. Es waren bloß ein paar Worte, doch ich hoffte, dass ihr klar war, welch großen Dienst sie mir damit erwies. Sie erwiderte das Lächeln und nickte mir zu.
***
Keiner steht an einem Samstag um drei Uhr morgens auf. Keiner, außer ich, mal wieder. Es war zwar hell, doch mein Körper sagte mir, dass es noch mitten in der Nacht war. Zeit, dass ich endlich nach Hause kam. Das Motorengeräusch ihres Trucks, welches sogar ihre Radiomusik übertönte, hielt mich wach, vielleicht war es aber auch dieses ständige und vor allem nervige Geschüttel, verursacht durch eine Kombination eines sehr alten Autos (es war wirklich eine Schrottkiste vom Feinstem) und einer relativ schlampig asphaltierte Straße. „Wie hast du geschlafen?", fragte die Frau neben mir, welche anscheinend die Motivation an einem Morgen gut gelaunt zu sein, unter ihrem Bett gefunden hatte.
„Wie auf einem Wolkenparadies", sagte ich sarkastisch und versuchte meinen Kopf in meiner Jacke zu verstecken, um wenigstens noch ein bisschen Schlafen zu können. Ein Wolkenparadies aus verstaubten Decken, die bestimmt schon zehn Jahre dort gelagert wurden. Hätte ich eine Milbenallergie gehabt, wäre ich wahrscheinlich nach den ersten paar Sekunden auf der Matratze erstickt.
Sie grunzte. „Wohl ein Langschläfer, was?"
„Langschläfer leben länger", murmelte ich, wobei ich beinahe schon meine Jacke voll sabberte.
„Ehrlich gesagt besagt eine Studie, das Langschläfer anfälliger für Stress sind und daher schneller sterben", erklärte sie im Lehrerton, wodurch ich sie für einen Moment mit meiner alten Englischlehrerin (dieser miesen Hexe) gleichstellte. Doch diesen Gedanken verwarf ich gleich wieder, denn es wäre wirklich eine Beleidigung für meine nette Fahrerin. Wäre meine Lehrerin in ihrer Situation gewesen, hätte sie mich wahrscheinlich entführt, in einem Keller gefangen gehalten und mich mit Fragen über Shakespeares Werke durchlöchert, während ich hundert Liegestütze machen müsste.
„Da sind Kurzschläfer aber mit inbegriffen. Zum Glück bin ich ja schon tot, was?"
Sie lachte. „Du hast echt eine schräge Art von Humor"
„Das fasse ich mal als mein erstes Kompliment auf, seit ich auf der anderen Seite bin. Das sollten wir feiern" Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
Fertig damit, den ironischen Clown zu spielen, der nur zum Vorschein kam, wenn ich entweder müde, sehr gut gelaunt, oder mit den Nerven am Ende war, schloss ich meine Augen und versuchte mir pummelige Schäfchen vorzustellen, die über ein altes Gartentor sprangen. Leider kam das eine Schaf mit kürzeren Beinen nicht über das Tor, weshalb sich ein Stau von Schafen ansammelte, die so laut blökten, dass sich mich aus meiner Einschlafkonzentration rissen. Deshalb gab ich es einfach auf und setzte mich aufrecht in den Sitz. Paralysiert von den Klängen des Radios begann ich mit dem Kopf nach links und rechts zu wippen. Irgendwann summte ich sogar zur Melodie, bis mir eine Frage einfiel. „Wieso hast du dich eigentlich so für meine Geschichte interessiert?", fragte ich neugierig, fast schon erwartungsvoll.
„Du ähnelst Jemanden, den ich mal gut kannte und er hatte mir eine unglaubliche Geschichte erzählt, die ich zum Anfang nicht gleich glauben wollte, aber bis jetzt... Jedenfalls, seit er mich vor einem Bären rettete, verdanke ich ihm mein Leben. Und ich stehe nicht gern in der Schuld eines Anderen, weshalb ich etwas für ihn aufbewahrt habe. Doch es kam nie mehr zu der Gelegenheit, in dem ich es ihm hätte geben können, weshalb ich es dir geben will. Schau mal in dein Handschuhfach, da liegt ein grüner Karton" Ich tat wie befohlen, machte die Klappe auf und holte ihn heraus. „Mach ihn ruhig auf" Er war quadratisch, so groß wie meine Hand und federleicht, als wäre da nicht weiter drin, als...
„Zeitungspapier?", fragte ich ungläubig und unglaublich enttäuscht, als ich den Deckel angehoben hatte.
„Es ist darin eingewickelt"
Oh. Gespannt packte ich das Geschenk aus, welches vom Sportteil umhüllt wurde. Darin erwartete mich ein silbrig glänzender Stein, so groß, dass ich ihn gerade noch mit der Hand umfassen konnte und so platt wie eine Flunder. Die Zähne eines menschlichen Totenschädels und die Hörner eines Drachenschädels umfassten den blauen, in dem Gestein eingelassenen Kristall im Diamantschliff, welcher in seinem Inneren mit den Blautönen spielte, als sei er lebendig. Die beiden Köpfe schienen wohl dazu zu dienen, dass der Kristall nicht heraus fiel. Der raue Stein war von einer Art dunkelgrauer Metallhülle umgeben, welche ihn wie einen Rahmen umschloss. Hinter dem Totenschädel befand sich eine Schneeflocke mit dicken, spitzen Stacheln. Zeichen, Buchstaben und Ornamente verzierten das ganze Stück und verliehen ihm einen mysteriösen Schimmer. „Wow, das ist..."
„Hinreißend?", fragte Aiyana und lächelte.
„...echt viel zu protzig für eine Gürtelbrosche", meinte ich stattdessen und fuhr behutsam mit den Fingern über das Kunstwerk. „Es ist echt unglaublich. Woher hast du das?"
„Glaub mir, dass willst du lieber nicht wissen" Sie letzte den Blinker und wechselte die Spur, damit ein schnelleres Fahrzeug an ihr vorbei fahren konnte. Als Dankeschön flackerten die Warnblinker des vorbeifahrenden Autos kurz auf.
„Und wenn doch?"
„Es steckte in dem Herzen eines Wolfes, welcher die Gegend unsicher gemacht hatte. Ich wollte das Tier eigentlich ausnehmen und verkaufen, doch da ist mir dieses silbrige Glitzern zwischen seinen Rippen ins Auge gefallen, weshalb ich die Rippenbögen auseinander brach und..."
„Stopp. Stopp. Stopp", unterbrach ich sie hastig und voller ekel. „Genug Details, danke" Man konnte natürlich auch übertreiben. An ihren Gesichtszügen verstand ich allmählich, dass sie mich nur abzuschrecken versuchte. So neugierig war ich nun doch nicht, oder? Schmunzelnd zog ein Siegerlächeln ihre Lippen, während sie die Klimaanlage etwas weiter hoch stellte (Obwohl es meinem Gefühl nach schon warm genug war) . Das dieses Auto überhaupt eine Klimaanlage hatte, war bewundernswert.
„Wieso willst du es mir geben?", hakte ich nach und legte das schöne Stück zurück in seinen Karton. Natürlich gab ich nicht so einfach auf, wenn ich ein Gesprächsthema gefunden hatte, mit dem man die Stille durchbrechen konnte. Außerdem brannte ich regelrecht darauf, mehr von ihr zu erfahren.
„Wenn... oder besser: Falls du ihn triffst, möchte ich, dass du es ihm gibst. Das ist meine einzige Bedingung dafür, dass ich dich jetzt mitnehme"
Das war also ihr Gefallen? Ein wenig schräg, dieser einzigartige Wunsch, allerdings, wenn ich es so recht bedenke, war er nicht außergewöhnlicher als Meiner an sie gewesen. „Das ist zwar schön und gut, aber ich kenne ihn nicht."
„Mein Gespür sagt mir, dass du ihn eines Tages treffen wirst. Sein Name ist Fenrir. Du wirst ihn erkennen, sobald du ihn siehst", sagte die Weissagerin höchstpersönlich, ohne auch nur ein Blick in ihre Zauberkugel werfen zu müssen. Und dabei dachte ich schon, dass ich verrückt klang.
„Okay", sagte ich leise und nickte. Wenn es so sein sollte, forschte ich lieber nicht weiter herum. Schließlich sollte man Hexen nicht infrage stellen, wenn man jede Sekunde von ihrem Besen herunter geworfen werden konnte. „Eine Frage liegt mir noch auf dem Herzen"
„Welche?"
Gedankenversunken spielte ich mit meiner Lippe herum. „Du hast mich nicht kritisiert, oder seltsam geguckt, als ich dir meine Geschichte erzählte, obwohl sie ziemlich paradox klang. Wieso?"
Als Antwort hatte ich schon wieder eine Filmreife Geschichte erwartet, allerdings glaubte ich für einen Augenblick, dass sie Yoda zitiert hatte, als sie sagte: „Dokumente kann man fälschen. Eine Geschichte kann man zwar erfinden, doch sie so herüber zu bringen, dass der Gegenüber glaubt, dass man selbst mit Feuer und Flamme dabei sei, dass können nur wenig Lügner. Nur Menschen, die es ehrlich meinen, oder komplett Verrückte können so überzeugend sein. Also hatte ich eine fünfzig fünfzig Chance"
„Du lässt also tatsächlich einen Verrückten in dein Auto?", fragte ich ironisch und lehne mich in den Sitz zurück.
„Ich habe eine geladene doppelläufige Flinte in meinem Wagen. Ich denke, ich kann auf mich aufpassen" Mit einem Zwinkern wendete sie sich wieder dem Fahren zu. So langsam zweifelte ich wirklich daran, dass ich der Irre mit der hirnrissigen Geschichte war.
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