6| Gefühle
Während Gusion erleichtert zum Palast zurückkehrte, ging Sharon auf Thelia zu, die angespannt auf der Mitte des Platzes stand. In seiner Hand hielt er eine Schriftrolle, die er ihr nun übergab. »Das soll ich dir von meinem Vater geben. Es ist eine Aufgabenliste von Dingen, die du in den nächsten Wochen zu erledigen hast.«
Thelia entrollte das Schriftstück. Ganz oben stand 'Strafaufgaben'. Die Bestrafung für meinen Diebstahl, dachte sie seufzend. Sie hatte das schon vollkommen vergessen. Sie las sich die Liste genau durch. Doch schon die erste Aufgabe entmutigte sie. Die Lamia sollte die Folterkammern samt der sich dort befindenden Waffen reinigen. Außerdem die Bücher der Bibliothek neu sortieren und weitere Räumlichkeiten säubern. Dazu wurde sie auch noch zum Küchendienst verdonnert. Da würde sie wohl tatsächlich mehr als genug zu tun haben. Denn auch das Training musste sie fortsetzen. Sie seufzte frustriert.
Sharon beobachtete jede Mimik von ihr und musste lächeln. »Keine Sorge, die Aufgaben sind nicht so schwer wie sie Aussehen. Glaub mir, ich musste da auch schon oft durch. Und das auch ganz ohne Magie.«
»Wieso musstet Ihr sowas machen?«, fragte Thelia neugierig, während sie gemeinsam zum Palast zurückgingen.
»Nun ja, mein Vater ist ziemlich streng. Immer wenn ich seiner Meinung nach Ungehorsam oder gar respektlos war, wurde ich damit bestraft und das kam nicht selten vor. Er legt nun mal sehr viel Wert auf Disziplin.«
Thelia konnte nicht glauben, dass sich der Prinz überhaupt je so benommen haben soll. »Auf mich wirkt Ihr aber überaus höflich und freundlich«, erklärte sie ihm nach kurzem zögern. Auch seine offene Art gefiel ihr, was sie jedoch verschwieg.
»Das liegt nur an der Erziehung meines Vaters«, lachte er. »Als Kind habe ich ziemlich viel Blödsinn gemacht und den Dienern Streiche gespielt.« Thelia konnte es immer noch nicht glauben. Aber die Vorstellung, dass der Prinz wirklich so gewesen war, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen.
»Hast du vielleicht Lust mich zu begleiten? Du musst ja erst morgen damit anfangen«, riss der Prinz sie aus ihren Gedanken und zeigte dabei auf die Aufgaben Liste.
Die Lamia nickte und fragte ihn wohin er gehen wollte. Als er die hängenden Gärten erwähnte, die sich in Se'cian befanden, war sie sofort freudig dabei. Der Ort gehörte mit zu den schönsten der gesamten Welt. Sie holten in der Küche ein wenig essen und packten es in eine schwarze Kiste. Anschließend machten sie sich auf den Weg, wobei die Reise nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte. Denn Sharon besaß wie sein Vater die Fähigkeit sich zu teleportieren.
Vor ihnen stand nun ein riesiges silbernes Schloss. Drumherum waren Pflanzen, Blumen und Bäume in den unterschiedlichsten Farben. Wundervolle Düfte erfüllten die Luft und melodischer Vogelgesang erklang von überall her. Dieser Ort war wahrlich Paradiesisch. Sharon erklärte ihr, dass der silberne Palast sein zukünftiges zuhause sein würde. Thelia war sprachlos. Denn es bedeutete, dass sie dann auch hier Leben würde. Vorausgesetzt sie schaffte es seine Leibwächterin zu werden.
Sie spazierten gemeinsam durch den Garten. Die Lamia kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Überall gab es etwas neues zu sehen. Seien es Blumen, Früchte oder Tiere. Eines hatte sie besonders ins Herz geschlossen. Es war ein etwa zwei Meter hohes Tier mit niedlich Kulleraugen. Dazu hatte es spitze Öhrchen und eine kleine rosa Stupsnase. Das kuschelige hellrosa farbene Fell war samtweich. Es lief auf den Hinterbeinen und hielt mit Hilfe des buschigen Schwanzes die Balance. Kleine scharfe Krallen an ihren Pfoten machte sie zu hervorragenden Kletterern.
Der Prinz führte sie zu einem See mit kristallklarem Wasser. Man konnte sehr gut die Fische darin erkennen. Sharon setzte sich in das saftig grüne Gras und Thelia tat es ihm gleich. »Mein Vater hat mir von den Vorkommnissen im Thronsaal erzählt«, begann der Prinz aus dem Nichts heraus, »Wie fühlst du dich?«
»Bis gerade konnte ich das gut verdrängen«, erwiderte sie leicht säuerlich. Entschuldigte sich aber sofort dafür.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, lächelte er sie an. »Ich hätte das Thema vielleicht etwas vorsichtiger beginnen sollen. Dennoch würde ich gerne wissen, wie es dir damit geht.«
Thelia dachte darüber nach. Sie überlegte, ob sie lügen und behaupten sollte das alles in Ordnung wäre. Oder sollte sie ihm die Wahrheit sagen. Noch immer spürte sie die Angst in sich. Sie wusste, dass ihr Vater sie töten würde, sollte er jemals die Gelegenheit dazu bekommen. Immerhin hatte er auch schon ihre Mutter getötet. Sie hatte den Verlust gespürt, wenn auch nur schwach. Aber vorher würde er sie wochenlang quälen, auch das war ihr klar. Thelia entschied sich dem Prinzen die Wahrheit zu sagen. Nachdem sie geendet hatte, saßen sie schweigend nebeneinander.
Sharon brach die Stille. »Du musst keine Angst haben. Weder mein Vater noch ich würden es zulassen, dass dir etwas geschieht.«
»Ihr könnt aber auch nicht Tag und Nacht bei mir sein«, erwiderte sie bedrückt.
Der Prinz dachte darüber nach. Er wusste das Thelia recht hatte. Doch dann kam ihm eine Idee, wie er sie beschützen konnte ohne bei ihr zu sein. »Sieh mich an«, befahl er ihr sanft. Sharon berührte eine Stelle unter ihrem Schlüsselbein, wobei er darauf achtete, dass ihr die Berührung nicht unangenehm war. Er wirkte einen Zauber, den er oft bei seinem Vater beobachtet, aber selbst bisher nie angewendet hatte. Der Prinz hoffte, dass dieser wirkte. Die junge Lamia spürte ein leichtes Kribbeln an der Stelle. Es hielt jedoch nur kurz an. Sharon öffnete die Augen. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie geschlossen hatte. Er wusste instinktiv, dass der Zauber funktioniert hatte.
»Was war das?«, wollte Thelia wissen.
»Das war für deinen Schutz. Sobald du nun in Gefahr gerätst, werde ich es sofort spüren und weiß dann auch, wo genau du dich aufhältst«, erklärte er ihr. Sharon sah, wie von ihr eine unsichtbare Last abzufallen schien.
Sie wirkte nun deutlich erleichtert und entspannter. »Danke«, lächelte sie glücklich.
»Sag mal, kann ich dich etwas fragen?«, begann er zögerlich. Als sie nickte, fuhr er fort. »Du bist noch vor deinem 16. Geburtstag von zu Hause weggelaufen oder?« Wieder nickte sie. »Dann bist du also noch unberührt?« Sofort schoss Thelia die Röte ins Gesicht und sie schaute verlegen weg. »Also hatte ich recht«, schlussfolgerte der Prinz amüsiert.
Er fand ihre plötzliche Schüchternheit irgendwie Süß. Gleichzeitig spürte er aber auch, wie sein Verlangen nach ihr stieg. Sharon fühlte sich schon länger auf mehr als einer Weise zu ihr hingezogen, doch nun viel es ihm deutlich schwerer seine Begierde zu unterdrücken. Aber er durfte der Versuchung nicht nachgeben. Er wollte ihr ihre Unberührtheit nicht nehmen. Als Prinz hatte er zwar das Recht dazu, ihr zu befehlen sich ihm hinzugeben, doch er würde davon niemals gebrauch machen. In diesem Punkt unterschied er sich deutlich von seinem Bruder, der sich alles nahm was er wollte. Aber Sharon würde sich Thelia niemals einfach so nehmen. Nicht wenn sie es nicht auch von sich aus wollte. Der Prinz fürchtete, dass sie ihn andernfalls hassen würde. Und dafür war sie ihm viel zu wichtig.
Seine Hand legte sich unter ihr Kinn. Sanft hob er ihren Kopf an, sodass sie ihn ansehen musste. »Versprichst du mir etwas, Thelia?« Die Art wie er ihren Namen aussprach, ließ sie dahinschmelzen. Sie brachte nur ein leises »Ja« zustande. Sharon beugte seinen Kopf zu ihr hinunter. Sein Atem auf ihrer Haut ließ sie erschaudern. »Versprich mir bitte, dass du dich nur jemandem hingibst, der deiner würdig ist und den du wirklich liebst«, flüsterte er ins Ohr.
Seine Worte berührten sie tief in ihrer Seele. Sie wirkten so warm und liebevoll. »Versprochen«, hauchte sie so leise, dass er es fast nicht gehört hätte.
Er stand auf und zog Thelia mit sich. Gemeinsam spazierten sie noch ein wenig, Sharon zeigte ihr auch noch das Innere des Schlosses. Es war ganz anders, als der Palast seines Vaters. Die Wände hier waren nicht schwarz sondern weiß. Ebenso wie die Teppiche, die fast überall gelegt worden waren. Durch die großen bodentiefe Fenstern strahlte helles goldenes Licht herein. Allgemein wirkte alles sehr hell und freundlich. Selbst der Thronsaal war in goldenes Licht getaucht, ohne das man die Lichtquelle dafür erkennen konnte. Der Thron selbst war silbern und schien das Licht zu reflektieren. Der jungen Lamia gefiel es hier deutlich besser als im Palast des Königs. Zwar war sie auch von diesem beeindruckt, doch all die hellen Farben und die vielen liebevollen Details hier sagten ihr mehr zu.
Am Abend kehrten sie schließlich zum Königspalast zurück. Die Lamia hatte den ganzen Tag Schmetterlinge im Bauch. Es bereitete ihr jedoch auch Sorgen. Sie hatte Angst davor sich in den Prinzen zu verlieben. Denn sie befürchtete, dass sie dies nur unglücklich machen würde. Das Sharon ihre Gefühle erwidern könnte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen.
»Ich bringe dich noch zu deinem Zimmer«, sprach Sharon. Auf der Treppe fiel ihm auf, dass Thelia sichtlich mühe hatte hinauf zu kommen. »Das scheint sehr anstrengend für dich zu sein.«
»Ja schon, aber es ist nicht so schlimm. Das ist zum Glück ja die einzige Treppe«, erwiderte sie.
»Wenn du möchtest, kann ich mal mit meinem Vater sprechen, dass du unten ein Zimmer bekommst«, schlug er vor.
Aber Thelia winkte verlegen ab. »Ich möchte keine Umstände machen.«
Daraufhin lachte Sharon. »Das macht sicher keine Umstände. Der Palast hat mehr als genug Zimmer, da werden wir sicher noch ein Anderes für dich finden.«
Die junge Lamia gab sich geschlagen. Sie ahnte dass der Prinz sich ohnehin nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Vor ihrem Zimmer verabschiedeten sie sich. Während Thelia glücklich aber auch müde ins Bett fiel, streifte Sharon ziellos durch den Palast. Viele Gedanken kreisten in seinem Kopf herum. Die Vorstellung, dass Thelia jemals einen anderen als ihn lieben würde, ließ sein Innerstes verkrampfen. Doch er würde es akzeptieren. Ihm war es nur wichtig, dass sie glücklich war. Auch wenn es ihm das Herz brechen würde.
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