5| Ein Zerstörtes Dorf
Gegen Abend hielt der Drache. In der Ferne war ein Ufer zu erkennen. Ninurta sagte den beiden, dass sie dort rüberschwimmen müssten, da das Wasser ab hier nicht mehr tief genug für den Drachen wäre. Während Belphegor es vorzog zu fliegen, sprang Luzifer ins kühle Nass. Nach dem langen sitzen, kam ihm diese Bewegung gerade recht. Zusammen näherten sie sich dem weißen Sandstrand. Er war wunderschön. Die Bäume, die hier wuchsen, sahen aus wie Palmen, nur das zwischen den sattgrünen Blättern gelbe Blüten zu sehen waren.
»Wenn wir von hier aus Richtung Nordosten gehen, gelangen wir in einigen Tagen zum Todesgipfel.«
Luzifer blickte in die gewiesene Richtung und ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. »Wir werden die Nacht hier bleiben und morgen in aller frühe aufbrechen«, beschloss er.
Seine Begleiter hatten nichts dagegen. Sie suchten Holz und bauten daraus einen provisorischen Unterschlupf. Nachdem das erledigt war, entzündeten sie ein Lagerfeuer. Belphegor räucherte darüber seine Fische, die er noch übrig hatte. Sie saßen noch eine Weile zusammen und redeten über Belangloses. Irgendwann gingen die beiden Dämonen schlafen. Luzifer blieb wach und hielt vor dem Unterschlupf wache.
Er legte sich in den Sand und starrte zum Himmel hinauf. Unzählige kleine Lichter tanzten dort oben. Der Engel hatte einen solchen Nachthimmel schon mal auf der Erde gesehen und fand den Anblick noch immer schön. Er fragte sich, ob es auch Nachts in Tseořien so aussah und man es nur aufgrund der Wolkendecke nicht sehen konnte.
Mitten in der Nacht gesellte sich Belphegor zu ihm. »Kannst du nicht schlafen?«, fragte Luzifer ihn.
Der dürre Dämon setzte sich neben die inzwischen kalte Feuerstelle und versuchte ein neues Feuer zu entfachen. »Mir geht zu viel im Kopf herum.«
Luzifer konnte sich denken was es war. Er spürte Belphegors Zweifel an seinem Plan. Die hatte der Dämon von Anfang an gehabt. Aber auch Hoffnung war in ihm zu spüren, wenn auch nur schwach. Doch das Fünkchen musste wohl genügen. Allerdings stand auch einiges auf dem Spiel. Denn sollte Luzifer versagen, wäre die Unterwelt verloren. Soweit wollte es der Engel aber auf keinen Fall kommen lassen. Er würde den König töten, egal was dafür notwendig war. Das schwor er sich.
»Was hast du vorhin eigentlich gemeint, als du sagtest Ninurtas Volk wäre ausgelöscht worden?«
Belphegor schaute nachdenklich drein. »Vor einigen Jahren wurden alle Meeresdämonen zusammengetrieben. Sie sind in diesem Land die mächtigsten Dämonen und der König wollte, dass sie sich ihm unterwarfen, da sie sich bis dahin immer wieder gegen ihn aufgelehnt hatten. Aber sie weigerten sich. Dafür wurden sie alle des Verrats bezichtigt. Man ließ sie verfolgen und gnadenlos abschlachten. Es hieß, dass niemand von ihnen Überlebt hatte.«
»Verstehe«, meinte der Engel nachdenklich. Wenn Ninurta damals dabei gewesen war, musste sie schlimmes durchgemacht haben. Er würde sie bei Gelegenheit mal danach fragen. Belphegor hatte es mittlerweile endlich geschafft das Feuer zu entfachen. Er starrte Luzifer durch die Flammen an. »Wenn du mich was fragen willst, dann tu es, aber hör auf mich die ganze Zeit anzustarren.«
Peinlich berührt schaute der Dämon weg. »Warum habt Ihr sie mitgenommen?«
Eine gute Frage, wie der Engel fand. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Stört es dich?«, fragte er stattdessen und richtete sich auf.
»Ich fürchte, dass sie eine Ablenkung darstellt. Es sei denn vielleicht, wir ziehen ihr einen hässlichen Sack über Kopf.«
Diese Antwort brachte Luzifer tatsächlich zum Lachen. Er stellte sich bildlich vor, wie das wohl aussehen würde. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, schaute er Belphegor streng an. »Du wirst sie unter keinen Umständen anrühren, verstanden?«
»Keine Sorge, ich hab mir schon gedacht, dass Ihr sie für Euch beanspruchen würdet. Außerdem hat sie eh nur Augen für Euch.« Der Dämon legte sich hin und schloss die Augen.
»Das bildest du dir sicher nur ein«, meinte Luzifer. »Was hat es eigentlich mit dem Todesgipfel genau auf sich?« Belphegor antwortete nicht. »Belphegor?!«, fragte er etwas lauter. Als darauf noch immer keine Antwort folgte, wollte Luzifer aufstehen und sich den Dämon vorknöpfen. Doch dann hörte er ein leises Schnarchen von ihm ausgehen. Wirklich unhöflich einfach im Gespräch einzuschlafen, dachte der Engel schmunzelnd.
Bei Tagesanbruch weckte er seine beiden Gefährten und sie brachen auf. Sie entfernten sich vom Strand und liefen nun durch einen Dschungel. Es gab hier fleischfressende Pflanzen in allen möglichen Farben und Formen. Manche wären groß genug, um ein ganzes Schwein zu verschlingen. Auch vor dicken blau-grünlichen Ranken musste man sich in Acht nehmen, da sie zu leben schienen. Der Grund war größtenteils sumpfig. Nur der schmale Pfad, auf dem sie gingen, was fest. Allerdings war er nur für eine Person breit genug, sodass sie hintereinanderlaufen mussten. Ninurta übernahm die Führung, während Luzifer das Schlusslicht bildete. Viele Teiche kreuzten ihren Weg. Winzige drachenähnliche Wesen flogen des Öfteren an ihnen vorbei oder saßen auf den verschiedensten Blumen, wo sie sich mit ihren langen Zungen an dem Nektar näherten.
Diese Wesen gab es in allen möglichen Farben und hatten sechs schmale durchsichtige Flügel. Ihre Körpergröße betrug im Durchschnitt vielleicht gerade mal vier bis fünf Zentimeter. Sie hatten vier kleine schwarze Punkte als Augen und zwei lange Fühler auf dem Kopf.
Gut zwei Tage irrten sie durch den Dschungel. Schließlich landeten sie auf einer Lichtung. Sie stockten. Vor ihnen befand sich der reinste Trümmerhaufen. Steine und zersplittertes Holz lagen überall verstreut. Auch Scherben, die von verschiedenen Gefäßen stammten, lagen herum.
Offenbar war dies Mal ein Dorf gewesen. Luzifer befahl seinen Begleitern sich nicht von der Stelle zu rühren und sah sich genauer um. Er begann die Trümmer zu untersuchen, fand aber nichts. Er hatte gehofft Spuren der ehemaligen Bewohner zu finden. Dass er weder Leichen noch Knochen fand, war seltsam. Es könnte allerdings auch sein, dass alle gefangen genommen worden sind. Zwar wäre dies sehr ungewöhnlich aber nicht undenkbar.
Der Engel lief weiter durch die Trümmer. An einer alten Feuerstelle verharrte er. Er beugte sich runter und hielt seine Hand darüber. Dachte ich es mir doch. Die Stelle war noch leicht warm. Das bedeutete, dass dieses Dorf erst vor kurzem angegriffen worden sein muss.
Er stand auf und gab Ninurta und Belphegor mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie leise zu ihm kommen sollten. Als sie vor ihm standen, zeigte er auf die Feuerstelle. Beide beugten sich nun ebenfalls runter und hielten ihre Hände darüber. Erstaunt sahen sie sich an.
Derweil ging Luzifer zum Berg hin, welcher sich hinter dem zerstörten Dorf befand. In seinem Augenwinkel meinte er einen Schatten gesehen zu haben, doch als er sich umdrehte, war dort nichts. Trotzdem blieb er vorsichtig. Er dehnte seine Sinne aus, doch bemerkte keine fremde Aura. Luzifer wollte gerade wieder zu seinen Begleitern zurück, als er wieder eine Bewegung wahrnahm. Und wieder war da nichts. Das Ganze kam ihm vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Ist wohl eine nervige Angewohnheit dieser Wesen, dachte er schlecht gelaunt.
Auch Ninurta schien etwas bemerkt zu haben, denn sie schaute sich angespannt um. Es war ein unbestimmtes Gefühl der Gefahr, das in der Luft lag. Luzifers Instinkt sagte ihm das die Gefahr vom Inneren des Berges zu kommen schien. Er betrachtete die Felswand genauer. Irgendwo musste es einen Eingang geben.
Ninurta blieb in der Nähe des Engels. Sie wollte ihm im Falle eines Angriffs sofort zur Seite stehen. Belphegor hingegen, der wohl auch langsam merkte, dass etwas nicht stimmte, schlich vorsichtig zurück zu den Bäumen. Da er weder magische noch kämpferische Fähigkeiten besaß, würde er die beiden nur behindern.
Nichts rührte sich. Auch kein Geräusch war zu hören. Die Anspannung wuchs mit jeder Sekunde. Dann bewegte sich etwas am Berg. Eine riesige Steinplatte rollte unter lautem Getöse zur Seite. Dahinter verbarg sich nichts als Dunkelheit. Luzifer machte einen Schritt nach vorn und in genau diesem Augenblick kamen dutzende Dämonen aus der Höhle hervorgeschossen. Sie alle waren mit scharfen Schwertern und Dolchen bewaffnet.
Sieben von ihnen warfen sich auf den Engel. Es waren Echsen ähnliche Wesen. Ihre Körper waren mit grünen oder gelben Schuppen versehen. Die Köpfe sahen wie die einer Eidechse aus. Sie hatten gelbe Augen mit schlitzförmiger Iris.
Sie schafften es Luzifer zu Boden zu ringen, doch er schaffte es sie mit einem magischen Kraftschlag von sich zu schleudern. Aber die Angreifer gaben nicht auf. Sie umzingelten ihn und griffen immer wieder an. Der Engel könnte sie mit Leichtigkeit vernichten, aber er wollte ihnen nicht schaden, solange er nicht wusste, auf welcher Seite sie standen.
Ninurta schien währenddessen von den Echsendämonen ignoriert zu werden. Sie wartete eine passende Gelegenheit ab, um Luzifer zu helfen. Doch gerade als sie sich ins getümmel werfen wollte, wurde sie am Handgelenk gepackt und in die entgegengesetzte Richtung gezerrt.
»He, was soll das?!«, rief sie empört und versuchte sich loszureißen. Was ihr jedoch nicht gelang. Der Dämon war für seine schmächtig wirkende Gestalt enorm stark. Belphegor wollte Ninurta helfen und sprang auf den Rücken des vermeintlichen Entführers.
Aber dieser Packte den dürren Dämon mit seiner freien Hand und warf ihn auf den Boden. »Keine Sorge, ich will ihr nichts tun«, sprach er mit rauer Stimme, »ich möchte euch nur helfen.«
Ninurta und Belphegor sahen ihn ungläubig an. »Uns helfen?!«, kam es wie aus einem Mund.
»Ja, lauft in den Dschungel und flieht. Keine Angst, wir halten ihn auf und sorgen dafür, dass er euch nicht verfolgt.«
Sprachlos sahen sie ihn an. Ninurta fasste sich als erste wieder. »Moment mal. Denkst du etwa, dass er uns zwingt bei ihm zu sein?«
»Natürlich. Ihr seid doch Sklaven, oder etwa nicht?«
Belphegor lachte, was den Echsendämon sichtlich verunsicherte.
»Ich gebe zu, dass ich Luzifer diene, aber das tue ich aus freien Stücken. Er hat mich zu nichts gezwungen.«
»Und mich ebenso wenig, ich wollte ihn begleiten«, ergänzte Ninurta bestimmt.
»Oh«, brachte der Dämon hervor und kratzte sich verlegen am Kopf. Er drehte sich um und lief auf die Kämpfenden zu. Die beiden Gefährten schauten ihm verblüfft hinterher. Sie sahen zu, wie der grüne unbekannte die anderen von Luzifer wegstieß und ihnen Befehle in einer ihnen unbekannten Sprache gab.
Der Echsendämon half dem Gefallenen auf. »Ich muss mich bei Euch entschuldigen, wir dachten, Ihr würdet diese beiden Dämonen als eure Sklaven halten.«
Luzifer klopfte sich den Staub von seiner Kleidung. »Ihr habt mich also angegriffen, um sie zu befreien?«, hackte er nach.
»Um ehrlich zu sein, ja.«
Der Engel wurde wütend. »Wenn ich meine ganze Macht eingesetzt hätte, wäre von euch allen jetzt nichts mehr als ein Häufchen Asche übrig! Das ist euch hoffentlich klar!«
Man merkte dem geschuppten Dämon an, dass ihm diese Situation peinlich war. Er traute sich nicht seinem Gegenüber in die Augen zu sehen. »Ich bitte Euch vielmals um Verzeihung.«
»Ja, ja, schon gut. Ihr wolltet ja nur helfen. Vergessen wir die Angelegenheit einfach. Wie heißt du eigentlich?«
»Adi«, antwortete dieser.
Nun stellte sich auch Luzifer vor. Bei dem Klang dieses Namens fiel Adi ein, das der dürre Dämon den Engel auch schon so genannt hatte, hatte dem da aber noch keine Beachtung geschenkt. Nun wurde ihm dafür umso mehr bewusst, wer da vor ihm stand.
Der Echsendämon wich einige Schritte zurück. »I - Ihr - Ihr seid ein Erzengel«, stotterte er. »Was macht Ihr hier?« Auch den anderen wurde langsam bewusst, wie viel Glück sie gehabt hatten.
»Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber ich wurde aus dem Himmel verbannt. Ich bin nicht mehr länger ein Engel.«
Gerne hätte Adi den Grund dafür gewusst, aber er ahnte, dass der Gefallene nicht darüber reden würde. Auch Ninurta, die bisher nichts davon gewusst hatte, hätte gerne die Hintergründe erfahren. Sie nahm sich vor mit Luzifer bei Gelegenheit darüber zu reden. Der Echsendämon lud die drei ein, zu ihnen in die Höhle zu kommen. Dankbar nahmen sie die Einladung an.
Das Innere der Höhle war anders, als sie gedacht hatten. Viele breite Gänge durchzogen sie, die von Fackeln erhellt wurden. An manchen Stellen hingen Tierfelle, die als Sichtschutz dienten, da sich dahinter die Wohnstätten der Dämonen befanden. Luzifer fragte Adi, wie sie den Angriff auf das Dorf überlebt hatten. Der Echsendämon erklärte, dass sie Außerhalb der kleinen Siedlung Späher aufgestellt hatten. Als sie die Soldaten des Königs entdeckten, warnten sie die Bewohner. Diese zogen sich sofort in die Höhle zurück, mit deren Bau sie schon zu Beginn des Umbruchs begonnen hatten. Die Soldaten fanden nur noch ein verlassenes Dorf vor. Sie hatten wohl noch vergebens die Umgebung nach ihnen abgesucht, bevor sie sich wieder zurückgezogen hatten.
Adi huschte hinter eines der Felle und bat seine Gäste Platz zu nehmen, was sie auch taten. Luzifer erklärte ihm, dass er von Belphegor schon über die Zustände hier unterrichtet wurde. Auch das er Verbündete suchte und den Herrscher stürzen wolle, teilte er ihm mit. Diese Idee gefiel dem Echsendämon. Er meinte, dass er sich gerne mit dem Engel verbünden wolle und er mit den anderen über dieses Vorhaben sprechen würde.
Sie sprachen noch eine Weile miteinander, bis Adi sie schließlich zu ihren Quartieren bringen ließ, die in der Zwischenzeit für sie hergerichtet worden waren. Jeder von ihnen hatte einen eigenen Unterschlupf, die direkt nebeneinander und abgelegen von den anderen Dämonen lagen. Luzifer begab sich allein in seinen Unterschlupf. Er wollte die nächsten Stunden nicht gestört werden.
Währenddessen dachte Ninurta darüber nach, was Luzifer gesagt hatte. Bis eben hatte sie keine Ahnung gehabt, dass er solche Pläne hatte. Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen solle, was der König ihr angetan hatte. Seit Jahren war sie vor ihm auf der Flucht. Doch sie wusste nicht, ob sie schon bereit war über ihre Vergangenheit zu reden. Zu tief saß noch der Schmerz. Ob diese Wunden jemals heilen werden, fragte sie sich, ehe sie in den Schlaf glitt.
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