1| Verbotenes Schloss
Eine leichte Brise wehte über die saftig grüne Wiese hinweg. Blumen in Weiß, Blau und Rot wiegten sich in einem leichten Tanz hin und her. Dabei verströmten sie einen angenehmen süßen Duft. Der Himmel zeigte sein schönstes blau. Trotz der ruhigen Idylle, war weit und breit kein Lebewesen zu sehen.
Nur ein Schatten schwebte über den Boden hinweg und landete auf dem weichen Gras der Wiese. Das lange weiße Kleid der zierlichen Gestalt wehte leicht im lauen Wind. Langes hellblondes Haar, welches in der Sonne golden schien, fiel ihr über die Schultern. Die Gestalt ließ ihre sechs schneeweißen Flügel verschwinden.
Anmutig schritt sie voran. Die goldenen Augen fest auf das weiße, silbrig schimmernde Schloss vor sich gerichtet. Ein Schloss, dessen betreten strengstens verboten war. Man durfte sich nicht mal in dessen Nähe aufhalten. Eigentlich. Es diente als Mahnmal. Bis in alle Ewigkeit sollte es jedem zeigen, was mit all jenen geschah, die sich gegen den Obersten wendeten.
Doch Amora war dieses Verbot egal. So oft es nur ging, kam sie hierher. Zu ihrem ehemaligen zu Hause. Sie liebte es durch die leeren Flure zu laufen und in Erinnerungen zu schwelgen. An die unbeschwerten Zeiten, in denen alles noch voller Harmonie war. In denen sie selbst keinen Schmerz, keine Wut kannte.
Grazil schritt sie die sieben Stufen empor und trat durch das große silberne Tor. Im Inneren war noch immer alles so, wie Luzifer es einst verlassen hatte. Amora war stets darauf bedacht, nichts anzurühren. Sie wollte nichts verändern. Der edle goldene Teppich dämpfte ihre Schritte, als sie auf die gläserne Doppeltür zuging. Sie ging hindurch und stand nun in einem riesigen Raum. Auf der einen Seite standen hohe Regale voller Bücher. Am anderen Ende befand sich ein großer Kamin, vor dem zwei bequeme Sessel standen. In der Mitte dieser beiden stand ein edel verzierter Beistelltisch.
Zärtlich strich Amora über einen der Sessel. Hier hatte Luzifer immer gesessen. Man konnte von dieser Position aus auf eine weitere Glastür blicken, die hinaus in den paradiesischen Garten führte. Es war sein Lieblingsplatz gewesen. Über dem Kamin hing ein Gemälde. Darauf war Luzifer zu sehen, der auf einem Stuhl saß. Hinter ihm stand Michael, der ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Sie musste bei dem Anblick lächeln. Damals war auch Michael noch ein anderer gewesen. Sie seufzte leise bei der Erinnerung daran und schüttelte die trüben Gedanken ab.
Sie ging auf die Tür zum Garten zu und wollte diese öffnen, als sie ein Geräusch vernahm. Ruckartig hielt sie in der Bewegung inne und lauschte. Aber es war nichts mehr zu hören. Dafür spürte sie die machtvolle Aura eines Erzengels. Sie erkannte ihn sofort. Amora ließ ihr silbernes Schwert erscheinen und machte sich für einen Angriff bereit.
Kurz darauf betrat der Erzengel auch schon den Raum. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm nur knapp bis auf die Schultern. Die goldenen kalten Augen standen im starken Kontrast zu seiner reinen und gütigen Aura. Ein Mensch mochte sich von dieser Ausstrahlung täuschen lassen, aber ein Engel wie Amora nicht. Es gab keinen Engel im Himmel, den sie mehr verachtete.
»Was hast du hier zu suchen Amora? Gerade du solltest wissen, welche Strafe es nach sich zieht hierher zu kommen«, sprach der Erzengel mit einer weichen Stimme. Sie antwortete nicht, sondern nahm ihr Schwert fester in die Hand. Bereit ihr Leben bis zum Tod zu verteidigen. Ihr Gegenüber nahm dies belustigt zur Kenntnis. »Du willst mich doch nicht wirklich angreifen, oder? Eine kleine Seraphim wie du hat nicht die geringste Chance gegen mich.«
Amora wusste das nur zu gut. Die Seraphims waren zwar mächtiger als alle anderen Engel, aber die Erzengel standen über ihnen. »Du weißt, dass es dir genauso verboten ist hier zu sein, nicht wahr Raphael«, sie spuckte den Namen regelrecht aus, so als wäre er etwas Giftiges. Trotz ihrer melodischen Stimme, hörte man ihre Verachtung heraus.
»Oh, ich bin nur hier, weil ich dir gefolgt bin, liebe Amora«, während er das sagte, schritt er näher auf sie zu. »Dass ich dich nun zu meinem Vater bringen muss, ist dir wohl klar.« Ganz dicht vor ihr blieb er stehen. Seine unmittelbare Nähe bereitete ihr Übelkeit.
»Es würde dir wohl gefallen, wenn man mich genauso verstoßen würde, wie einst meinen Herr.« Herausfordernd sah sie ihn an. Raphael lächelte sie überheblich an.
»Eigentlich hätten du und dein Bruder damals schon mit ihm verbannt werden sollen. Ihr seid nur noch hier, weil Michael und Gabriel sich für euch eingesetzt haben. Aber deine Gnadenfrist ist nun vorbei«, erklärte er ihr drohend.
Anstatt zu antworten, hob sie blitzschnell ihr Schwert und ließ es auf Raphael niedergehen. Bevor die Klinge ihn jedoch traf, schleuderte er Amora gegen die überliegende Wand. Bevor sie sich aufrappeln konnte, war der Erzengel schon bei ihr, packte sie unsanft am Arm und zog sie auf die Beine. »Du wirst jetzt brav mitkommen«, zischte er sie an.
Er verdrehte ihr die Arme auf den Rücken und zog sie zum Ausgang. Amora versuchte sich zu befreien, aber der Erzengel war zu stark. Dennoch gab sie nicht auf. Gemeinsam traten sie ins Freie. Raphael breitete seine weißen goldschimmernden Flügel aus und wollte gerade mit seiner Gefangenen davon fliegen, als hinter ihm plötzlich eine Stimme erklang.
»Lass sie los Raphael.« Beim Klang der Stimme atmete Amora erleichtert auf. Der angesprochene funkelte seinen Gegenüber nur böse an.
»Das kann ich nicht Gabriel. Sie hat gegen das Gesetz verstoßen«, meinte Raphael gefährlich ruhig.
»Ich werde dich nicht mit ihr fortgehen lassen, Bruder. Amora ist allein Michael unterstellt und er trägt die Verantwortung für sie. Es ist seine Entscheidung, wie mit ihr verfahren wird. Wenn es dir aber lieber ist, kann ich ihm gerne mitteilen, dass du dich über ihn hebst.« Herausfordernd sah Gabriel seinen älteren Bruder an.
Dieser knirschte indes mit den Zähnen. Michael war tatsächlich der stärkere und stand damit über ihm. Vor Luzifers Fall, hätte dieser nie freiwillig gekämpft. Im Gegenteil. Der oberste Erzengel hatte einst Gewalt verabscheut. Doch heute sollte man sich lieber nicht mit ihm anlegen. Raphael wusste das nur zu gut. Er hatte schon mal gegen ihn gekämpft und eine schwere Niederlage hinnehmen müssen. Beinahe einen Monat hatte es gedauert, bis seine Verletzungen verheilt gewesen waren. Auf noch so eine Erfahrung konnte er beim besten Willen verzichten. Widerwillig ließ er Amora los, die sofort zu Gabriel lief und sich halb hinter ihm versteckte.
»Du kannst jetzt gehen Raphael, den Rest erledige ich schon«, sprach Gabriel überflüssiger Weise, da sein Bruder sich schon in die Lüfte erhoben hatte.
Gabriel drehte sich zu Amora um und musterte sie besorgt. Als er wissen wollte, ob bei ihr alles in Ordnung sei, nickte sie zögernd. »Es tut mir leid«, flüsterte sie leise. Fragend sah er sie an. »Ich weiß, dass es falsch war herzukommen, aber..«, weiter kam sie nicht, da Gabriel sie unterbrach.
»Du musst dich dafür nicht rechtfertigen. Immerhin war es lange dein zu Hause und er fehlt mir genauso wie dir«, sprach der Erzengel sanft. »Außerdem solltest du dich lieber bei Michael entschuldigen. Immerhin bereitest du ihm damit Probleme und nicht mir.«
Amora senkte betrübt ihren Kopf. Gemeinsam mit Gabriel erhob sie sich in die Lüfte und flog zurück zu Michaels Schloss. Dort angekommen, klärte Gabriel seinen Bruder über die jüngsten Vorkommnisse auf. Michael ließ Amora dabei keine Sekunde aus den Augen. Nachdem sein jüngerer Bruder seinen Bericht beendet hatte, schickte er ihn fort. Und auch Amora sollte ihn allein lassen. Sie kam der Aufforderung nur widerwillig nach.
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