Haarstyling
Manche Gewohnheiten konnte man einfach nicht ablegen. Es war schwer, sich in kürzester Zeit zu ändern und manchmal verlief der Prozess des Lernens nur sehr langsam und zog sich ewig hin. Vor allem dann, wenn es um Angewohnheiten ging, die man seit Jahren verfolgte und perfektioniert hatte. Daher war es wohl auch kaum verwunderlich, dass Shota Aizawa noch immer überall seinen gelben Schlafsack mithinnahm, obwohl auch die Lehrer am Schulgelände ein gesamtes Wohnheim für sich hatten. Er war stets nur einen Steinwurf von seinem Bett entfernt und dennoch traf man ihn manchmal im Klassenraum oder dem Lehrerzimmer in seinen Schlafsack gehüllt an, während er am Tag ein Nickerchen machte. Wenigstens schaffte er es mittlerweile, die Nächte im Wohnheim zu verbringen, damit Eri nicht alleine war, immerhin war er immer noch ihre Bezugsperson. Allerdings hieß das nicht, dass er deswegen wie ein normaler Mensch in seinem Bett schlief.
Hin und wieder kam es daher sogar vor, dass ein gelber Kokon in Eris Zimmer auf dem Boden lag, um ihr Beistand zu leisten, oder bei ihr zu sein. Auch diese Nacht hatte es ihn in das Zimmer des Kindes gezogen, um das er sich – auch wenn er es nie zugeben mochte – große Sorgen machte. Die letzten Nächte hatten sie oft Alpträume gequält, und sie war oft zu ihm gekommen, daher hatte er einfach beschlossen, gleich bei ihr zu schlafen, um schnell bei ihr sein zu können, wenn es ihr nicht gut ging. Einmal musste er sie tatsächlich wecken und sie in den Arm nehmen, um sie zu trösten, als er mitten in der Nacht ein Wimmern hörte. Das kleine Mädchen hatte Schlimmes durchgemacht, da war es vollkommen normal, dass sie nachts davon heimgesucht wurde, auch wenn er sie gerne davon erlösen würde. Aber wie? Ob es irgendwo jemanden mit einer Macke gab, der böse Träume aus den Köpfen der Menschen saugen konnte? Das wäre zumindest die einzige Lösung, die ihm einfiel, und dem Kind helfen könnte.
*
Die Sonne war längst aufgegangen, und ein paar Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, hatten Eri an der Nase gekitzelt und geweckt. Neben ihr lag Aizawa, eingekuschelt in seinem Schlafsack, den er sich als Deckenersatz nur übergeworfen hatte, nachdem Eri wieder eingeschlafen war. Leicht verschlafen musterte das Mädchen sein Gesicht, das richtig friedlich und auch viel freundlicher wirkte, wenn er schlief. Wobei er mit ihr ja ohnehin viel netter umging, als mit allen anderen in der Umgebung, wie sie längst bemerkt hatte. Vorsichtig wischte sie ihm eine seiner dunklen Strähnen aus dem Gesicht. Seine Haare waren lang und immer so wirr, vermutlich machte er sich nichts daraus, sich darum zu kümmern. Seltsam, dass er ihr immer beim Haarekämmen half, selbst aber keinen Wert darauflegte. Aber vielleicht brauchte er auch Hilfe dabei.
*
„Verdammt, Eraser? Are you here? Dein Unterricht fängt bald an!", ertönte im nächsten Augenblick die laute Stimme von Present Mic. Eri zuckte zusammen, als auch die Tür plötzlich aufgerissen wurde. „Ah, da ist er ja. Good Morning, little Listener", grüßte er das Mädchen und lächelte entschuldigend für seine morgendliche Störung. Er wollte nicht unhöflich sein und sie schon gar nicht erschrecken, aber es gab leider nur wenige Orte, an denen Aizawa zu finden sein könnte, und da er nicht in seinem Zimmer oder dem Gemeinschaftsraum war, gab es nur diese eine andere Möglichkeit. In der Schule übernachtete der Profiheld ja nur mehr selten.
„Good Morning, Sunshine!", trällerte Hizashi fast schon zärtlich, aber leider auch viel zu laut in Shotas Ohr, nachdem er näher herangetreten war. Irgendwie musste man diese Schlafmütze ja auch wach bekommen, damit er nicht zu spät kam. Am Ende würde die 1-A noch denken, ihm wäre etwas zugestoßen.
„Zu laut", motzte Eraser, schlug jedoch die Augen auf, obwohl er eher den Drang hätte, den Schlafsack über seinen Kopf zu ziehen. „Wie spät ist es?"
„In fünf Minuten klingelt es, my dear. Die Uhr tickt!", kommentierte Yamada, als wäre es irgendeine Gameshow und deutete auf seine Armbanduhr.
Sofort saß Aizawa kerzengerade im Bett, warf den Schlafsack beiseite und sprang auf. „Scheiße ..." Ohne weitere Worte stürzte er zur Tür hinaus, holte noch rasch seine Stiefel aus seinem Zimmer und raste über das Schulgelände.
„Tja, Breakfast?", fragte Mic kurz darauf Eri, nachdem sie sich beide aus der Starre reißen konnte, die der plötzliche Abgang ausgelöst hatte. Das Mädchen nickte lächelnd.
*
Es war wirklich großes Glück, dass Aizawa sich angewöhnt hatte, in seinen Klamotten zu schlafen. Somit war er immer sofort nach dem Aufstehen einsatzbereit und konnte den Schlaf solange es ging auskosten und kam an Tagen wie diesen nur mit kleinen Verspätungen ans Ziel. Tatsächlich schaffte er es nicht punktgenau zum Klingeln ins Klassenzimmer, sondern erst eine Minute danach, doch diese hatte gereicht, um gerade Schüler wie Iida bereits nervös werden zu lassen. Als Eraserhead den Klassenraum betrat und kurz verschnaufte, beruhigte sich der Klassensprecher allerdings wieder und setzte sich schweigend auf seinen Platz.
„Guten Morgen, wir sollten gleich mit den Grundlagen loslegen. Wer von euch hat die Seiten 50 bis 60 gestern noch, wie aufgetragen, gelesen?", begann er sogleich damit im Unterricht loszulegen und trat an sein Pult, um sich dagegen zu lehnen. Mit müden Augen musterte er seine Schüler, von denen keiner es für nötig hielt seinen Arm in die Luft zu strecken. Stattdessen starten sie ihn an, als wäre er ein Geist. „Was?", fragte er daher barsch. Sie hatten ihn doch schon in weitaus schlimmeren Zuständen gesehen, da machte es doch eigentlich nichts aus, wenn er – wie üblich – komplett verschlafen vor ihnen stand. Eigentlich war das ja der normale Zustand. Wieso starrten sie also so bescheuert? Vermutlich wollten sie nur davon ablenken, dass keiner ihre Hausaufgaben gemacht hatte.
„Ähm", begann Kaminari zu stottern. „Naja wissen Sie ...", versuchte Kirishima auszuhelfen. „Sie sehen richtig niedlich aus mit der neuen Frisur und so", brachte es schließlich Asui über sich, die Sachlage anzusprechen.
„Was?", wiederholte Shota sich vollkommen verwirrt und kratzte sich an der Narbe unter seinem Auge.
Yaoyorozu näherte sich ihm schließlich schüchtern mit einem Spiegel in der Hand, den sie ihm vors Gesicht hielt. Aizawas Augen weiteten sich kurz, als er sah, worüber die Schüler gerade gesprochen hatten. Eine pinkte Haarklammer hielt die Strähnen, die ihm sonst immer ins Gesicht hingen, auf der Seite fest, während er auf der anderen Seite einen geflochtenen Zopf hatte. Wie hatte ihm das nur entgehen können? Er hatte es viel zu eilig gehabt, hierher zu kommen, als auf sein Äußeres zu achten, aber wer nahm auch an, dass Eri ein Umstyling betrieben hatte so früh am Morgen.
„Oh", kommentierte er nur trocken, und kratzte sich den Sternchenaufkleber, den er auf der Wange kleben hatte, weg, „Eri scheint sich wohl gelangweilt zu haben. Nichts desto trotz, wer will zusammenfassen, was ihr als Hausaufgaben lesen solltet?" Ohne die Haarklammer oder den Zopf auch nur anzurühren, fuhr er einfach mit dem Unterricht fort, was die Schüler kurz ein wenig irritierte, schließlich kannten sie ihren Klassenlehrer als strengen Lehrer. Allerdings schien er Eri so sehr ins Herz geschlossen zu haben, dass es ihn nicht weiter störte, dass sie sich an seinen Haaren zu schaffen gemacht hatte, was die Mädchen wirklich sehr süß fanden.
*
Am Frühstückstisch im Lehrerwohnheim wuschelte Hizashi gerade Eri durchs Haar und zwinkerte ihr zu. „Da hast du ihm ein nettes Umstyling beschert. Er sah richtig hübsch aus!" Das Mädchen war somit richtig Stolz auf ihr Werk und nahm sich vor, auch mal die Haare von Present Mic aufzuhübschen, damit er nicht immer herumlaufen musste wie ein Kanarienvogel.
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