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Der schwarze Nebel hatte dich eingeholt, bevor du das Buch in deinen Händen beiseitelegen konntest. „Dead Butterflies" von Lacee Hightower ruhte deshalb unberührt zwischen deinen Fingern, als du deine Augen aufschlugst, beschäftigt die Merkmale deiner neuen Umgebung in dich aufzunehmen. Die fesselnde Geschichte von Derek und Kinley musste warten, bis du diesem Albtraum entkommen warst.

Stattdessen sollte deine Aufmerksamkeit den unscharfen Silhouetten der Bäume im Mondschein gelten, die den roten Wald auszeichneten und sich gemächlich im Wind wiegten.

     „Verdammt", entwich es dir leise. Während dein Finger noch immer zwischen den Seiten des nun zugeschlagenen Buches lag, um die für später relevante Stelle zu markieren.
Du hattest nicht vor in kürzester Zeit zu sterben, nicht hier in den Trials und besonders nicht ohne das Ende von Kinleys Story erfahren zu haben. So viel Motivation sollte man dir trotz deiner Lage zugutehalten – fandest du.

      „Das gefällt mir nicht."
Verwundert über die plötzliche Gesellschaft des dir bekannten Überlebenden, der sich wohl schon länger in deiner Nähe aufgehalten haben musste, begab sich dein Kopf in Schräglage. Du hattest nicht so früh mit einem bekannten Gesicht gerechnet und doch löste der Anblick des Ex-Polizisten eine gewisse Ruhe in dir aus, die du für den nächsten Moment genießen wolltest.

     „Leon?"
Den Blick auf seine Gestalt gerichtet, sollte dir der Teil seiner halbernsten Grimasse, den du in der Dunkelheit ausmachen konntest, verraten, wie idiotisch die Frage gewesen war. Aber er ersparte dir jegliches akustische Kommentar und deutete wohl in die Richtung aus der er gekommen war.
     „Ich glaube, ich kenne den Killer."

Normalerweise traf man gerne auf Bekannte, würdest du behaupten. Allerdings sollte man sich in jedem Fall erneut die Frage stellen, wenn die Aussage von jemandem kam, den man in einem Spiel um Leben und Tod kennengelernt hatte.

     „Du kennst den Killer?"
Dass Leon den Killer kannte, bedeutete nichts Gutes. Die Zeit, die du mit ihm im Gespräch verbracht hattest, war bei eurem letzten Aufeinandertreffen recht kurz gewesen, zugegeben, aber du meintest dich daran zu erinnern, dass er aus einer Welt komme, die das Chaos regierte. Menschen, oder Wesen, die aus seiner Realität auserkoren wurden in diesem wahnwitzigen Spiel den Killer zu mimen, mussten schlimme Dinge getan haben. Dinge, von denen du keine Ahnung hattest und gegen die du nichts tun können würdest, wenn es hart auf hart kam.

     „Sollte mich das freuen?"
Wenn du ehrlich warst, dann wolltest du die Antwort auf die Frage nicht hören.

Natürlich waren Informationen besser als keine Informationen, dennoch hinterließ Leons vorherige Anmerkung immer noch ein mulmiges Gefühl in deiner Magengegend. Und du musstest innehalten, um nicht unachtsam zu werden.

Dein Einsatz in den Geschicklichkeitsprüfungen der Entity war gering gewesen. Zu Anfang hatte dich der bloße Gedanke an ein weiteres Spiel mit deinem Schicksal in Panik versetzt, jetzt aber wich dem Adrenalin eine Melancholie, die du nicht kontrollieren konntest. Dir stellte sich die Frage, wie lange du noch an deinem Verstand festhalten würdest, mit erotischen Liebesgeschichten und halbtrockenem Wein. Wann denn tatsächlich Schluss war.

     „Wir sollten weitergehen."

Allenfalls warst du dem Braunhaarigen dankbar, dass er das Gespräch nicht weiterführte und dich aus deiner Gedankenwelt riss. Allerdings entkam dir ein mildes Seufzen, dem du mit vorgehaltener Hand ein Räuspern hinterherwarfst.

Die Trials schlugen jedem Überlebenden, den du bis jetzt begegnet warst, aufs Gemüt. Sogar Meg, die dir bis aufs Weitere recht locker vorgekommen war, schien nicht mehr sie selbst zu sein, seit sie die letzten Prüfungen nur knapp überstanden hatte. Du hattest noch keine Möglichkeit gehabt sie nach den Vorkommnissen zu fragen, aber das Gerücht stand, dass die Entity die Killer, die sich in den letzten Runden gewillt gegen sie gewandt hatten, nur stärker dazu zwang ihren Willen durchzuführen.

Die Schlussfolgerung, die jeder mit dem du sprachst, zog, war, dass in den kommenden Runden nur die Schachfiguren auf dem Spielbrett zugange sein würden, die in jedem Fall auf der Seite der dunklen Macht standen. Was den anderen drei Mitspielern und dir blühte, war also, mit Pech, ein schauriges Ende. Nichts, was dir wünschenswert vorkam.

     „Hast du die anderen schon gesehen?"
Leon schüttelte den Kopf, während du ihm dicht an dicht auf einem Pfad zwischen den Bäumen entlang folgst. So dass dir der Blick auf sein hübsches Seitenprofil nicht entgeht.
     „Nein, aber momentan sind wir sowieso auf uns gestellt. Wir sollten zuerst bestätigen, wer der Killer ist."

     „Und ob du ihn tatsächlich kennst..."
     Er nickte.

     „Das nächste Mal hoffe ich übrigens, dass du mehr mitnimmst als dieses Buch", bemerkte er irgendwann und du konntest nicht verhindern, dass deine Wangen leicht unter seiner Bemerkung erröteten.
Zu blöd, es war ihm also nicht entgangen. Die Hoffnung, dass er den Titel unkommentiert lies, verlorst du dennoch nicht. Schnell schlugst du daher die mit dem Finger vorgemerkte Stelle auf, um dir die Seitenzahl zu merken, auf der du zuletzt die zwei Charaktere zurückgelassen hattest, bevor du das Buch in die ausgebeulte Innentasche deiner Lederjacke stopfst und Leon überschwänglich fokussiert auf eurem Ritt ins Verderben folgst.

    „Keine Sorge, Claire liest auch andauernd solche Bücher."

     „Solche Bücher?" Du ziehst deine Augenbrauen zusammen, am Anschlag deinen Geschmack an Literatur aus Peinlichkeit zu verleugnen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass euch beiden bewusst ist, dass sich an deiner Vorliebe nichts ändern wird. Bevor du allerdings zu deinem Plädoyer ansetzen und dich tiefer in den Schlamassel graben kannst, stoppt Leon mit einem Schmunzeln auf den Lippen, wendet sich an dich und heftet seine Augean an deine Gestalt, wie sie ungeniert mit seiner muskulösen Brust kollidiert.

     „Was ich meine ist, wenn du so ein Zeug gut findest, dann solltest du dazu stehen."

Etwas perplex von seiner Reaktion, blinzelst du ihn an und lächelst vage, ehe du langsam einen Schritt zurück machst. Soweit du zurückdenken kannst, ist Verurteilung eines der beständigsten Dinge deines Lebens gewesen. Dass jemand nicht offen etwas gegen deinen Heißhunger nach anstößiger Literatur sagt, kommt dir beinahe vor wie ein Wunder.

     „Trotzdem wäre ich dir dankbar, wenn wir uns nicht über den Inhalt unterhalten und uns auf den Weg konzentrieren würden."

     Ein simples Nicken deinerseits. Zu wissen, dass Leon kein Problem mit deinen Neigungen hat, löst in dir Euphorie aus, die dir im Bezug auf eure Lage völlig fehl erscheint, wenn du im Nachhinein daran zurückdenkst. Ertappt schüttelst du verwegen deinen Kopf und nickst erneut.

     „Lass uns einfach weitergehen!", rufst du plötzlich aus und stapfst dieses Mal mit schnellen Schritten und heißen Wangen an ihm vorbei auf dem Pfad in den Abgrund.
Trotzdem hoffnungsvoll, dass seine Worte nicht einfach nur heiße Luft sind, die er dir wie Honig um die Lippen schmiert, weil er dich insgeheim als Werkzeug für seinen Plan benötigt.

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