Sommerphilharmonie
Meine erste Assoziation mit dem Sommer war stets Polly in ihren wechselnden Früchtebikinis, mit goldenem Sand bestäubt, der ihre braungebackene Haut mehlierte und die eiskalten, nach Pflaumensaft schmeckenden Lippen. Ihr Name war eigentlich Philomena - eine ganze Sinfonie an Lauten mit dem vorpreschenden Auftakt - so wie unsere erste Begegnung -, dem staunenden Kern - der so wie sie, sich über jede Alltäglichkeit verblüffen konnte -, dem das Alberne ihres Wesens folgte und mit der Überraschung am Schluss gekrönt wurde. Phil-o-me-na. Die Philharmonie meiner Sommer.
Die bonbonbunten Bikinis waren mittlerweile verschwunden. Die schlaksigen Kinderglieder und klebrigen Finger auch. Geblieben waren nur die wildroten Haare, die hellen Augen, die jede Farbe annehmen konnten - je nach dem, mit was sie sich gerade beschäftigte, und das blubbernde Lachen, das ohne Vorwarnung sich aus ihrer Brust losbrechen und sich dann ihres ganzen Körpers bemächtigen konnte, bis sie sich wie ein Zitteraal, glucksend über den Sand wälzte.
Gedankenverloren knüpfte sie wilde Farne zu einem Kranz zusammen und steckte einzelne Gänseblümchen als Zierde hinein, während ihre Augen sich dunkel in den modernden Algen verloren, welche von den brandenden Wellen angespült wurden und einen Grenzstreifen zwischen der Welt der Menschen und der Naturgewalten bildeten. Wild reigende rostrote Sprenkel verteilten sich pointillistisch auf ihren Schulterblättern, wie die Flügelzeichnung eines Perlmutterfalters. Und ich hatte wieder dieses warme Gefühl im Bauch, das ohne Grund an meinen Mundwinkeln zog.
Als ob sie mich gespürt hätte, wand sie sich nach mir um und der feuchte Südwind schnitt sich an den lustig klimpernden Schalen der Meerschnecken in ihrem Haar und stimmte einer Panflöte gleich melancholische Melodien an. Sie kicherte wie eine Seemöwe und rutschte scharrend zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich fühlte den porösen Felsen unter meinen Fingern, der vertraut nach Jod und Hitze duftete. Dort, im Schatten der Pension, in deren Hinterhof zum Trocknen aufgehängte Lacken im Wind flatterten und die harzenden Kiefern sich säumten, konnte ich dieses Wunder erleben, in den Nächten zum Mittsommer.
Ihr Lächeln erinnerte an die Unterseite eines Mantarochens, nur dass hinter dem Halbmond ihrer Lippen kleine, spitze Zähne aufblitzten. Ihr seliger Blick aber, mit dem sie in die Lichtreflexe der See zwinkerte, stand im kompletten Gegensatz zu ihrer Natur.
"Wäre es nicht schön, wenn es jeden Tag so sein könnte?", flüsterte sie dem Meer entgegen, welches die Worte in seinen rauschenden Wogen in Stücke riss und nur Silben zurück warf. Es fröstelte mich als ich bei dem Gedanken daran die Zehen in das Wellenkosen des Meeres tunkte.
"Wenn es jeden Tag so wäre wie jetzt, wäre es jetzt nichts Besonderes," gab ich zu bedenken ohne sie anzusehen. In die weiße Nacht über uns streckte sich die honigfarbene Zunge des Morgens, die nach dem orangen Sonnenbonbon leckte.
Polly platschte ihre Flosse heiter in die Gischt, die wie Sprühsahne den Fuß, des in das Wasser ragenden Steins, garnierte und strich sich einige quergeratene Schuppen glatt. Nun glänzten sie in allen Regenbogenfarben, während sie sich das Salz von den Handgelenken leckte.
"Wie lange kannst du noch bleiben, Polly?"
"Solange die Nacht weiß ist und du mich brauchst," erklärte sie und grinste unter ihrem zarten Knöcheln hervor. Eine rostrote Strähne schlängelte sich aus dem Tang ihrer Haare in ihr Gesicht und zwirbelte sich um ihre Nasenspitze.
"Werde ich dich denn jemals nicht mehr brauchen?", lachte ich in das Pfeifen des Windes und warf mich auf meine Arme zurück.
Sie zuckte die sommersprossenbestäubten Schultern und ihr, im Wasser tollendes, Fischende spritzte kühle Meereskleckse in mein Gesicht.
"Wurdest du denn schon von jemand anderen geküsst?"
Ich kämmte mir mit den Fingern durchs Haar, bevor ich den Kopf schüttelte. Der warme Luftzug strich mir tröstend über die stoppeligen Wangen.
"Aber das möchte ich auch gar nicht."
Sie warf den Kranz ins Wasser und ließ ihren Oberkörper zu mir auf den rauen Felsen herab, sodass die Schüppchen ihrer Haut über das Gestein zirpten und die Schneckenschalen aufgeregt gegeneinander schlugen. Ihr vertrauter Geruch nach warmen, gärendem Schlick strömte in Wogen in mich hinein.
"Du weißt, dass du auch mit mir kommen kannst?", vergewisserte sie sich und versuchte mir dabei, hinter dem losen Hügel ihres Haares, ins Gesicht zu sehen.
"Wie ist es dort, unter dem Meer, meine ich?", wollte ich wissen, den Blick in den Himmel gerichtet. In all den Jahren hatte ich sie das nie gefragt.
"Es ist friedlich," erwiderte sie schlicht.
In meiner einbrechenden Erinnerung sehe ich Philomenas kupferrotes Haar im feuchten Sand gewickelt und die weit aufgerissenen Augen, in denen schmutzig graue Wattewolken, wie in angelaufenen Spiegeln, vorüber ziehen. Von der Promenade neckt uns die Jahrmarktmusik mit heiteren Rhythmen. Doch von hier erkennt man nur das Riesenrad, das wie der Streifen des Neumondes gegen den Farbverlauf des Horizonts glänzt. Die blauen Fensterläden der Pension stehen weit aufgerissen und die dunklen Tiefen des Hauses bergen alle unheilvollen Geheimnisse meiner Kindheit.
Ich beuge mich über sie und fühle mein Herz, wie einen Kolibri gegen das Gitter meiner Rippen flattern. Meine Finger graben sich in den wie Kuchenteig warmen Sand und ich fühle die blauen Lippen Philomenas unter meinen.
„Zuerst verlieren sich die Geräusche der Welt," hörte ich Polly aus der Gegenwart, während sie sich die Ohren zuhielt, sodass nur die muschelartigen Spitzen heraus ragten. Ihre Haare bauschten sich zwischen den Saugnäpfen ihrer Finger zu flirrenden Anemonen zusammen.
„Dann verblassen nach und nach die Farben," sie hob ihre Hände vor die Augen und ließ nur einzelne, goldene Striemen zwischen die Finger auf ihrer Haut tanzen.
„...bis alles in ein warmes Patinagrün eingehüllt ist..," hörte ich sie nur noch leise flüstern.
Am Morgen jenes schicksalhaften Tages vor vielen Jahren, finde ich Philomena, wie ein Seestern ausgestreckt auf dem Boden des Kaminzimmers liegen und in die reigenden Schatten an der Decke starren. Ihr glänzendes Haar liegt in langen Wellen, wie ein Sonnenkranz um ihr hübsches Gesicht verteilt, als wäre sie das Himmelsgestirn selbst, das sich vor dem anbahnenden Unwetter in die Pension zurückgezogen hat. Müde rollt sie die Augen zu mir auf, der ich mich über sie aufbaue. Philomena hasst trübe Regentage, doch heute hängt noch etwas anderes tief über ihrem Gemüt.
Ich aber kann nicht anders, als ihr dämlich zuzugrinsen. Sie leckt sich ungeduldig über die herzförmigen Lippen. Eine einzelne Furche bildet sich auf ihrer Stirn und zwingt mich nun doch etwas zu sagen:
„Hallo, Polly," krächze ich und werfe mit einer, wie mir scheint, lässigen Kopfbewegung, die tief in mein Gesicht hängenden Wirbel zurück. Polly's Herzmund presst sich zu einem Strich zusammen und sie setzt sich auf, sodass sich meine Augen in den Spalt zwischen ihrer braunen Haut und dem Spaghettitop verirren.
„Es ist der letzte Tag und das Wetter ist so...soo," sie scheint mit der Zunge nach Worten im Äther der Welt zu kosten, ob einer zu dem passt, was sie auszudrücken gedenkt. Dabei hält sie die Handflächen emporgerichtet, als würden die richtigen Begriffe wie himmlisches Manna auf sie herabregnen, damit man sie nur aufzufangen und sich in den Mund zu stecken braucht.
Unter dem Keuchen des Holzbodens lasse ich mich zu ihren Füßen nieder, in der Hoffnung sie wie zufällig zu berühren. Sie hat sich die Fußnägel kirschrot lackiert, so dass sie wie eine Handvoll reifer Früchte über den Boden kullern. Doch statt eines erleuchtenden Niederschlags, trommelt echter Regen gegen das Dach über uns und über dem Meer zucken zackige Energieschlangen, wie gebrochene Regenbögen.
„Ihr fahrt also wieder zurück?", frage ich und komme mir sogleich ziemlich bescheuert vor, zwar tat ich das damals wegen so ziemlich allem, doch an diesem Tag gab es tatsächlich etwas, dessen ich mich schämte.
Philomena rollt die himbeerfarbene Zunge wieder in den Mund und verengt die Augen, als sie mich eingehend mustert.
„Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich du wärst ein Märchenprinz," sagt sie einfach so, als wäre es eine elementare Wahrheit. Ihre Pupillen laufen wie Tintenkleckse auf dem hellen Pergament ihrer Iriden aus und Schweiß sammelt sich in schimmernden Perlen im Bogen ihres Herzmundes, die ich ihr am liebsten fort geküsst hätte. So wie ich auch ihre Tränen von ihrem Gesicht leckte, um sie wieder zum Lachen zu bringen.
„Es schien als wärst du aus Gold gemeißelt, mit den sonnenfarbenen Locken und den leuchtenden Augen in einer perfekt gegossenen Gestalt..," erklärt sie ihre Eindrücke und zieht mit einem Finger meine Gesichtszüge in der Luft nach, die Augen in eine Vergangenheit gerichtet, zu der nur sie allein Zugang hat. Sperrt mich aus, aus dem Paradies.
Ich kann nicht anders und umfasse sie mit beiden Armen, um sie näher an mich zu ziehen. Doch sie stemmt mir ihre kleinen Füße widerwillig gegen die Brust, wo sich ihre kirschroten Zehen gegen meine Annäherung pressen. Ihre Pupillen fokussieren sich auf mich.
„...aber du hast nie um meine Hand angehalten," sagt sie verdrießlich und ihre farblosen Augenbrauen senken sich gefährlich tief über das Aufblitzen unter ihnen.
„Das kann ich doch immer noch tun," murmele ich nervös und beuge mich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben. Aber Philomena schüttelt raschelnd den Kopf. Ihr Haar fällt ihr in Bächen um die Schultern und ihr Gesicht scheint für einen Moment darin unterzugehen. Sie schiebt mich von sich und ich öffne verwirrt die Augen.
„Dafür musst du zuerst eine Heldentat vollbringen," erwidert sie ohne Umschweife und sieht mir direkt in die Seele, die sich beschämt hinter der Fassade meiner Selbstbeherrschung zu verbergen sucht.
„Soll ich einen Drachen für dich erlegen?", schlage ich halb im Scherz vor und lasse mich von ihren Füßen zu Boden werfen. Philomena krabbelt auf meine Brust und ich fühle die Wärme ihres Unterleibs direkt über meinem zitternden Atem. Sie beugt sich über mich. Ihr Haar fällt einem Vorhang gleich um den letzten Akt unserer Tragödie. Sie scheint auf etwas zu warten, das über sie kommen soll, wie eine Epiphanie. Wartet und starrt mich an, bis ich den Blick abwenden muss und wieder in ihren Ausschnitt starre.
Enttäuscht springt sie von mir, als wäre sie von einem der zuckenden Pfähle des Himmels getroffen und stürmt über die knarzenden Dielen davon, die unter ihren raschen Schritten wie ein verstimmtes Klavier klingen. Lässt mich allein auf dem Boden zurück. Im Schattenspiel des Gewitters, im mürrisch donnernden Flüchen des Göttervaters, die er zu Erde schmettert, lege ich mir beschämt die Arme über das Gesicht, um nicht vor Emotionen aufzuschreien, die langsam zurück kehren, wie die Flut. Es steigt in mir auf, bis ich keine Luft mehr zu kriegen scheine und mich von einer Seite zur anderen wälze, um die Erinnerungen daran loszuwerden.
Ich hasse Philomena, weil sie mich so fühlen lässt. Ich hasse sie, obwohl ich mich hassen sollte, dafür dass ich sie nicht verdiene und dennoch nicht von ihr lassen kann.
Meine Mutter geht durchs Zimmer. Ich erkenne es daran, da das Holz müde und träge seufzt und der schwere Duft von Lilien hinter ihr her schleicht. Als kleiner Junge, lange bevor ich Philomena traf, war ich davon überzeugt, dass ich meine Mutter heiraten würde und ich glaube, meinen Sinneswandel hat sie mir nie verziehen. Zaghaft schiele ich durch einen Spalt zwischen meinen Armen hinter ihr her und sehe wie sie im Speisezimmer verschwindet, aus dem bald der Geruch nach heißer Schokolade und gerösteten Marshmallows herausströmt - eine stille Einladung ihr Gesellschaft zu leisten.
Müde sammle ich mich vom Boden auf und trotte ihr nach. Setze mich zu ihr an den alten Holztisch am Fenster, als sie mir scharrend eine Tasse herüber schiebt, ohne mich anzusehen.
Meine Mutter versteht mich, ohne dass ich es aussprechen muss. Sie sieht mich nicht mal an. Stattdessen bevorzugt sie das Fenster, aus dem man hinaus aufs weite Nordmeer blicken kann, über dem nun aber ein dampfender Nebel hängt und knisternde Pfade in den Himmel malt.
Ich stecke meine Lippen und den Blick in die heisse Schokolade, um das, was in mir vorgeht hinunter zu schlucken. Die sämige Süße knüpft alle spitzen Empfindungen zu einem warmen Knoten im meinem Magen. Und nur das widerspenstige Herz wütet in meinem Inneren wie gärender Wein.
„Verrücktes Kind," murmelt meine Mutter in das Gitter ihrer Finger, auf die sie ihr Gesicht gestützt hat und schüttelt den Kopf. Aus ihrem Knoten lösen sich einige helle Strähnen, die auf ihr blassblaues Leinenkleid rieseln, unter dem die knochigen Schultern sich aus dem Stoff beulen.
Langsam folge ich ihrem Blick und sehe Philomena zu den Dünen des Strandes herunter laufen, die wie Mehlberge vom Regen teigig werden, um irgendwann wieder von der Sonne zu goldenen Mürbeburgen gebacken zu werden. Unter dem Arm hat sie etwas eingeklemmt, dass in bunten Fäden hinter ihr her wirbelt.
Ich springe von meinem Platz auf, doch meine Mutter sieht mich das erste Mal unter ihren müde herabhängenden Lidern an. Und das bittende Tosen meines Herzens geht in dem beharrlichen Trommeln des Regens unter. Ich stecke den Blick verloren in die Tasse, an deren Boden verstümmelte, weiße Wölkchen im Braun der Schokolade kleben. Meine Mutter wippt mit den Füßen ungeduldig gegen die ächzenden Dielen, als sie nach meiner Hand greift und sie mit ihren umschließt. Ihre Haut ist eiskalt. Die Kälte scheint in mich einzudringen, mich zu erstarren.
„Bleib doch noch, es ist so stürmisch da Draußen," sagt sie sanft, doch ihr Blick ist eisern. Bevor ich auch nur reagieren kann, zieht mich ihre Umklammerung wieder herab auf meinen Platz. Nur noch ein versöhnendes Lächeln kann ich herauspressen, während meine Augen unruhig wieder aus dem Fenster wandern.
Eine Windböe schmettert gegen das Glas, als über den Dünen ein Luftdrache, wie der Morgenstern, aufgeht, bevor er sich von seiner Schnurr losreißt und wie leise Hoffnung hinter den Nebelgrenzen verschwindet.
Ich fühlte Pollys spitze Zahnreihen um meinem Hals. Am Horizont stürzte ein brennender Drache vom Himmel und setzte das Meer in Flammen. Vielleicht war es aber auch nur die Morgenröte, die sich leise in die weiße Nacht geschlichen und das Weltenfeuer entzündet hat.
Dort an der Schwelle zwischen Licht und Schatten, brandete ich, wie das ruhelose Meer, alljährlich an Philomenas nasses Grab. Denn die Sommerphilharmonie hallt unaufhörlich in meinen Erinnerungen nach. Bis alle Farben um mich verblassen werden und der Farnenkranz in den Wellen über mir schaukelt.
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