Kosmogonía
Ein letztes Mal stieß sie sich vom Gitterboden empor und segelte lautlos an die Decke. Mit Armen und Beinen bremste sie sich ab und tastete nach dem Knistern der flackernden Leuchtröhre. Ihre Stirn war bis an die widerspenstigen braunen Strähnen verschmiert, die ihr trotzig vom Scheitel abstanden. Die Lippen spröde und rissig, murmelten unentwegt etwas vor sich hin, weil sie unendliche Diskussionen mit dem Überbewusstsein des Schiffs führte.
„Arbeitest du immer noch an dem Schrotthaufen?", rief er ihr amüsiert zu, obwohl er sie schon eine Weile dabei beobachtet hatte. Überrascht drehte sie sich nach ihm um und schnappte abgehetzt nach Luft. Sie hatte ihn seit dem Beginn des Terraformings nicht mehr gesehen, sodass sie fast vergessen hätte, wie atemberaubend seine ultraviolett leuchtenden Augen waren, die sie sich selbst immer gewünscht hatte.
Etwas überstürzt klatschte sie auf den Bioport an ihrer Kombijacke, um wieder zu Boden zu fallen. Hallend setzten ihre Sohlen auf dem Untergrund auf, als sie sich bereits wieder aufrichtete und ihm gemäß ihrem Rang salutierte. Er nickte nur anerkennend, sodass sein helles Haar in sein Gesicht rieselte und der atmosphärische Nimbus in seinem Nacken flackerte. Die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, betrachtete er sie sehnsüchtig mit schief gelegtem Kopf.
„Das musst du doch nicht tun, Aúoife," sagte er schließlich mit einem Schmunzeln.
Nachdem sie vom Überbewusstsein der O-Edem als Genmutter für die Neupopulation ausgesondert worden war, war auch ihr Rang herab gestuft worden. Starrsinnig verharrte sie in ihrer Position und drückte den Rücken durch. Er seufzte kopfschüttelnd und gab den obligatorischen Befehl: „Rühren, Major."
Erst jetzt wagte sie es den Schweiß vom Kinn zu wischen und sich die Jacke aufzuknöpfen und sich um die Hüften fallen zu lassen, bevor sie erwiderte: „Diese Schrottkiste wird uns noch alle überleben," und, wie zum Beweis auf den Boden aufstampfte.
Eigentlich wusste sie selbst nicht so recht, warum sie sich immer noch so viel Mühe gab, dieses alte Wrack in Stand zu halten, obwohl die Mission kurz vor ihrem Abschluss stand.
Vielleicht lag es einfach daran, dass Logos - das Überbewusstsein -, um dessen verfallenden Rumpf sie sich so aufopfernd kümmerte, seit langem ihr einziger Gesprächspartner war. Denn während ihre ehemaligen Partner mit der Rettung der Spezies beschäftigt waren, musste sie sich anderweitig nützlich machen, um sich die Daseinsberechtigung auf der O-Edem zu sichern. Das Gute an dieser selbstauferlegten Pflicht war, dass es ihr, nach Verlust ihrer Administratorenrechte, erlaubte sich tief ins Schiffsinnere zu verkriechen, um den Beiden aus dem Weg zu gehen.
Er drängte sich an ihr vorbei und berührte sie wie zufällig mit dem Handrücken, als ob er überprüfen wollte, ob die Funken immer noch zwischen ihnen sprühten.
Misstrauisch folgte sie ihm aus verengten Augen, als er sich vor das Panorama des Orbits platzierte und die Hände auf dem Rücken verschränkte. Er war kaum ein Sol älter als sie, schien in der Zeit ihrer Trennung aber um Jahre gealtert zu sein.
Nur weil der Anstand es gebietete, stellte sie sich leise hinter ihren Captain und schlug die Augen nieder, nur um festzustellen, dass sich eine Spur Essensreste über ihr Untershirt verteilte. Möglichst unauffällig versuchte sie sich diese von der Brust zu fegen, wodurch diese nur in die Luft gewirbelt wurden. Leise lachte er in sich hinein und drehte sich halb nach ihr um. Sein Profil glühte vor dem Hintergrund des gepunkteten Alls, als wäre es selbst ein Sternbild. Ebenso fern schien er ihr in Gedanken.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert, Aúoife," flüsterte er kaum hörbar, zog sie aus ihrem Bröselnebel, platzierte sie vor sich und deutete ins All.
Jenseits der Grenzen der Sonnenstrasse, schimmerte der helle Sternhaufen der Galaxis, aus dem die Seelen vergangener Gestirne verschlafen zwinkernde Blicke an diesen entlegenen Ort warfen.
„Ich wünschte, wir wären noch irgendwo dort, als noch alles möglich war," flüsterte er ihr ins Ohr und stützte seinen Kopf auf ihrer Schulter ab, während es ihr erneut den Atem verschlug und ihr Nimbus nervös rauschte.
„Die Zeit mit dir, war das Beste an diesem ganzen Unterfangen," erklärte er nach gedankenverlorenem Schweigen und steckte seine Nase tief in ihr verstrubbeltes Haar. Um in seiner Gegenwart nicht wieder unbedarft hektisch zu werden, fummelte sie angestrengt an ihren Handschuhen herum und versuchte diese Erinnerungen nicht in sich aufkommen zu lassen.
„Du hast ja immer noch Lætïth," erwiderte sie etwas bitter und schluckte trocken gegen den Kloß in ihrem Hals.
„Ohne dich war es nicht mehr das Selbe," sagte er und drehte sie zu sich um, sodass sie zu ihm aufsehen musste. Ein Handschuh klatschte gegen das Panoramafenster als er sie näher an sich zog und ihr den Schmutz sorgsam von der Stirn rieb. In seinem Gesicht lag dieses unbestimmte Lächeln, dass ihr früher den Schlaf geraubt hatte. Mit all ihrer Selbstbeherrschung riß sie den Blick von ihm:
„Ihr wurdet nun mal als Idealpaar ermittelt", erwiderte sie pflichtbewusst und zog sich endlich auch den anderen Handschuh von den Fingern.
Sie fühlte das beschleunigte Pulsieren seines Körpers, den er an sie drückte und das durchdringende Strahlen seiner Augen auf ihr. Rein objektiv betrachtet war er das Beste, das ihre Welt zu bieten hatte: Ein gelehrter Athlet, mit symmetrischer Knochenstruktur, silbernen Haaren und kurzwellig leuchtenden Augen - obwohl ihr seine immer ein Deut heller und fluoreszierender schienen als all der anderen.
Letzteres mochte vielleicht daran gelegen haben, dass er der einzige verbliebene Mann auf der E-Odem war. Zumindest versuchte sie sich das immer noch selbst weis zu machen.
Sie hingegen hatte statt dieser charakteristischen Farben, die allen ihrer Art gegeben waren, seltsam dunkel geratene Augen, die eher an den Nachthimmel erinnerten und Haut in der Farbe von trockener Erde. Wär hätte auch ahnen können, dass gerade Schwärzlinge, wie auch sie spöttisch genannt wurde, die letzte Hoffnung ihrer Spezies werden würden, weil nur ihre Gene mit den chemischen Verbindungen dieses Planeten kompatibel waren.
Er nahm ihren Kopf in seine beiden Hände, so wie er es früher getan hatte und lehnte seine Stirn an ihre.
„Weißt du, ich denke sie vermisst dich auch, Aúoife," murmelte er leise, „Wir drei, das war einfach perfekt."
Aúoife schloss die Augen, um ihm zu verbieten noch weiter in sie zu dringen und all die sorgsam verschlossenen Türen wieder aufzureißen, hinter denen sie ihre Gefühle zum Wohl aller Anderen eingemauert hatte. Aber seinem vertrauten Duft, den sie in der Einsamkeit so verzweifelt vermisst hatte, konnte sie nicht widerstehen. Er roch wie das Zentrum der Galaxis und prickelnd, wie Sonnenschein auf Haut. Ohne, dass sie es noch aufhalten konnte, presste sie sich an ihn, wollte wieder ein Teil von ihm werden. War hoffnungslos verloren in seiner Umarmung.
Lætïth war die Starke gewesen, nicht sie. Und genau deshalb war es richtig, dass Lætïth für das geplante Vorhaben ausgewählt wurde und nicht Aúoife. Nur ihre dominanten Hominæ waren im Stande andere Gænerï zu destruieren, die bei den Kompatibilitätstests entstanden waren, womit sie das Überleben als stärkste Art garantierten.
„Ich brauche deine Hilfe, Aúoife," hörte sie ihn flüstern und riß die Augen auf. Plötzlich war er ihr wieder ganz nah. Sein Nimbus rauschte vor Angst und dem Schmerz, die auch er hinter vielen Fassaden verborgen hatte und ihr jetzt zugänglich gemacht hatte, wie früher, als sie noch im Geflecht aus Armen und Beinen aufzuwachen pflegten.
„Ich glaube du bist die Einzige, die sie noch zur Vernunft bringen kann," erklärte er. „Dich hat sie immer mehr geliebt."
Eine angenehme Röte schoss ihr bei dem Gedanken daran in die Wangen. Er grinste vielsagend, fuhr allerdings mit seiner Bitte fort:
„Wir sind auf einige Unstimmigkeiten im Protokoll gestoßen," begann er zu erklären, als plötzlich Logos Stimme einen Einwand vorbrachte.
„Major Aúoife ist kein aktives Mitglied des Genælogen-Teams und darf nicht in strategische Ziele der Mission eingeweiht werden."
Aúoife biss sich auf die Zunge - das war absurd, dass sie Besorgnis aus Logos Stimme heraus zu hören glaubte.
„Wo befindet sich Generalleutnant Lætïth gerade?", erkundigte sie sich, während sie schwankend aber bestimmt einen Schritt von ihm fort machte, sodass wieder eine Kluft zwischen ihre emphatische Verbindung gerissen wurde.
„Der Generalleutnant befindet sich aktuell auf dem Astsegment der rechten Hemisphäre," erwiderte Logos ihr in seiner vertrauten Tonlage. Doch alles nur Einbildung.
„Sie will auf die Oberfläche," verkürzte der Mann vor ihr seinen Bericht aufs Wesentliche, um nicht wieder unterbrochen zu werden.
„Aber die Genælogie ist noch nicht abgeschlossen!", rief Aúoife erschrocken aus und fühlte wie ihr heiß wurde. Aus der O-Edem gab es nur einen Ausweg - den kontrollierten Absturz.
Außerplanmäßige Oberflächenbesuche waren vor Abschluss der Anpassungen nicht einkalkuliert.
„Warum sollte sie die Mission so in Gefahr bringen?", knurrte sie mehr an sich selbst und rieb die schweißnassen Hände an ihrer Kluft. All die Entbehrungen für eine von Lætïths Zweifeln zu verlieren, das kam nicht in Frage.
„Du weißt, dass sie uns nie wehtun würde. Sie will selbst..."
Doch den letzten Teil seines Satzes hatte Aúoife nicht mehr gehört, weil ihre Beine sich bereits in Bewegung befanden und die Raumkrümmung, die ihr Bioport erzeugte, die Silben ins Unendliche verzehrte.
Mit einem ungebremsten Schub wurde sie aus dem Raumtunnel gegen die Sphäre des Zugangssegments zu einem Aussenposten gestoßen.
Lætïth befand sich jedoch bereits außerhalb des Schiffes im offenen All. Aúoife stürzte sich zur Sphäre, die das Innere von allen äußeren Einflüssen schützte, und versuchte sich gleichzeitig wieder in ihre Jacke zu zwängen. Doch bevor sie den Aussenposten betreten konnte, hatte sich Lætïth vor dem Ausgang platziert und diesen mit etwas blockiert. Ein breites und aufrichtiges Lächeln schob sich in ihre schönen Züge, als sie Aúoife erkannte.
Ungestüm hämmerte Aúoife gegen die Sphären, deren Oberflächen sich unter der Wucht wie Wasser kräuselten. Lætïth glitt an die Stelle, an der Aúoife ihr Gesicht gegen die Absperrung presste. Ihr brennendrotes Haar, das die Farbe des verglühenden roten Zwergs trug, den sie Sonne genannt hatten, bauschte sich im Klima ihres Nimbus auf, als sie sich vorbeugte, um einen Kuss auf die Fläche zwischen ihnen zu hauchen.
„Læli, hörst du mich?", rief Aúoife ihr mit bebender Stimme zu. Lætïth brachte immer schon alle Emotionen in ihr durcheinander, wie eine Supernova, die alles tief verborgene einfach in den Raum spuckte. Ihr eigener Nimbus knarzte und die dunkle Stimme der Freundin brach in ihr Bewusstsein:
„Er hat uns die ganze Zeit belogen, Eve," erklärte Lætïth nüchtern und Aúoife bemerkte, dass die Freundin die Lichtklinge in der Hand hielt und nach dem Versorgungsschlauch tastete.
Verständnislos blinzelte sie dem Mädchen auf der anderen Seite entgegen.
Lætïth hob den Finger bedeutend nach oben und schnitt ihre letzte Verbindung mit dem Mutterschiff durch. Das löste den Alarm aus:
„Ranghoher Offizier über Board. Einleiten des Notfallprotokolls," plärrte die Stimme des Überbewusstseins, sodass Aúoife erschrocken zusammen fuhr, bevor sie hilflos zur Freundin blickte. Voller Entsetzen konnte sie nur noch beobachten, wie diese ihre Triebwerke zündete und gen Erde geschleudert wurde.
„Lætïth! Nein," brüllte sie ihr hinterher, obwohl sie wusste, dass der All all ihre Worte verschlucken würde. Unter ihren Fingern bildeten sich Eiskristalle. Panik erstickte sie von Innen. Sie rüttelte an der Sphäre. Die Versorgungsschnurr schwebte daran vorbei und verteilte blasen aus Flüssigkeiten und Sauerstoff, die jetzt ins Leere pumpten.
„Sie wird in de Atmosphäre verglühen, wenn sie vorher nicht erfriert, oder irgendetwas in sie hinein schlägt," zählte Aúoife alle möglichen Horrorszenarien auf, damit Logos ihr Lösungen anbieten konnte. Doch diesmal blieb das Überbewusstsein stumm.
„Schick sofort Boten nach ihr aus! Logos! Hörst du mich?", versuchte sie selbst eine Rettungsaktion zu organisieren.
„Tut mir leid, Major. Ihre Berechtigung reicht nicht aus, um diesen Befehl auszuführen," erwiderte das Überich in ruhigem Ton. Entgeistert starrte Aúoife ins Leere, bis sie schließlich quietschend an der Wand herab rutschte und ihr nasses Gesicht in die Hände stüzte.
„Es ist alles meine Schuld," schluchzte sie verzweifelt. „Ich habe die Missionsprotokolle geändert."
„Das ist mir bekannt, Major," bestätigte das immaterielle Überich.
„Du bist eine dumme, seelenlose Maschine," wimmerte Aúoife zurück und wurde von einem neuerlichen Heulkrampf erschüttert.
„Ich habe nur Dein Geheimnis bewahrt, Major," erwiderte das Bewusstsein emotionslos, „Die Mission hat höchste Priorität," erklärte es sich. Aúoife schlug gegen den Boden!
In einer Krümmung des Raums erschien der Oberbefehlshaber und starrte zum weinenden Elend am Boden. Erst als sie ihn schuldbewusst anblickte, kniete er sich zu ihr hin.
„Es ist nicht deine Schuld, Aúoife," sagte er ruhig.
„Wir müssen dort runter, Adam! Vielleicht, vielleicht...", flüsterte sie abgekämpft, sich an das letzte Stück Hoffnung klammernd.
Lange betrachtete er sie mit ernst zusammengezogenen Augenbrauen aus seinen mitleuchtenden Augen und nickte, bevor er den Befehl zum Sinkflug gab. Logos erwiderte nichts, führte den Befehl jedoch unverzüglich aus.
Sanft aber bestimmt zog er sie wieder auf die Beine und strich ihr einige Strähnen hinter die Ohren.
„Ich habe etwas Schlimmes getan," gestand sie plötzlich und fühlte endlich eine Erleichterung.
Er legte ihr beruhigend eine Hand in den Rücken: „Ich weiß das, Aúoife," sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ich habe es auch getan," gestand er in das Grollen des Rumpfes, der sich der Atmosphäre nährte.
Hand in Hand stiegen sie herab in das einzige Landemodul.
„Es war mir eine Ehre Euch gedient zu haben," verabschiedete sich das Überich, bevor die Schiffsteile, an die es gebunden war vom Rumpf gesprengt wurden.
Während sie in einer brennenden Schale auf diese blaue Kugel stürzten, die sie schlicht 'Erde' getauft hatten, sah Aúoife zu diesem neuen, wunderbaren Himmel auf und hoffte, dass Logos von dort oben über sie wachen würde.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top