E S S I N D D I E K L E I N E N D I N G E D I E Z Ä H L E N

~2.Kapitel~

~05.06.~

Leise summe ich, mein Lieblingslied, in dem hallenden Treppenhaus vor mich hin.

Hoffentlich hört mich niemand, denn ich weiß nie so richtig, wie viele l in Shallalalalow vorkommen.

Wie jeden Tag laufe ich, mit viel Freude, die drei Etagen zu meiner Station hinauf. Heute mit einem Stapel Bücher im Gepäck. Ich hasse Fahrstühle. Hassen ist noch untertrieben. Sie sind für mich schlimmer, als die Vorstellung einer Apokalypse.

„Guten Morgen Schwester Alicia", begrüßt mich ein fröhliches kleines Mädchen, bereits am Anfang des langen bunten Ganges.

„Gehts uns heute besser?", frage ich die zehnjährige Whilodine vorsichtig. Ich wünschte, ich wäre noch einmal ein kleines Mädchen. Sie ist noch so unschuldig und ahnungslos, was sie mit der männlichen Spezies einmal alles erleben wird.

Freudestrahlend nickt sie und spielt mit ihrer Puppe weiter. Schon krass, wie bereits bei kleinen Mädchen, dass Muttergefühl unbemerkt geweckt wird. Sie wissen es nur noch nicht. Denken es wäre alles wirklich so einfach, wie in ihrer Fantasie.

Gespannt auf den Gesichtsausdruck meines kleinen Lieblingspatienten, öffne ich die gelbe Tür, die mich ins gelb bemalte Paradies der Geschichten führt.

Ich weiß, dass ich offiziell keinen Patienten bevorzugen darf. Aber jeder Mensch, hat jemanden, den er mehr mag, als andere.

„Guten Morgen Joshiiiiii!", wecke ich den kleinen Jungen, mit meinem morgendlichen Schrei, aus seinen Träumen auf.

Ich lege die neuen Bücher auf den kleinen runden Nachttisch und ziehe die großen weißen verträumten Vorhänge zur Seite. Damit gewähre ich den hellen Sonnenstrahlen Eintritt ins Zimmer, welches nun noch gelblicher als vorher erscheint.

Josh strahlt mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen hellwach an. Der Gelbton seiner Augen passt perfekt zum Zimmer, fällt mir gerade auf.

„Ein weiteren Tag darf ich auf dieser Welt verbringen, Alicia! Und sieh nur- Gott lacht!", kreischt er glücklich und hüpft vor Freude auf seinem Bett herum.

An diesem Jungen sieht man, dass es die Kleinen Dinge sind, die im Leben zählen. Was hat schon Geld für einen Wert, wenn man weiß, dass man unheilbar krank ist? Geld ist nichts weiter außer Papier. Aber die Menschen die für dich da sind, auch wenn es sich nur um Sonnenstrahlen handelt, sind unbezahlbar.

Mit einem großen Sprung, rennt er zum Fenster und versucht die Sonnenstrahlen einzufangen.

Er wurde von Gott mit Intelligenz und den richtigen Werten gesegnet.

„Zeit für unsere morgendliche Hygiene Routine!", rufe ich ihn ernst ans Bett zurück, wo ich schon mit einer kleinen Haarbürste auf ihn warte.

Er lässt sich auf sein Bett fallen und begutachtet die neuen Bücher auf seinem Nachtisch.

„Die Kinder aus Theresienstadt?", liest er fragwürdig den Titel des ersten Buches vor.

„Was ist Theresienstadt? Hat das was mit dem Krieg zu tun?", fragt er neugierig nach.

„Ja genau, Theresienstadt liegt in Tschechien. Es war ein Arbeitslager, in dem die Juden eingesperrt und auch getötet wurden. Man kann dort Führungen machen und sich anschauen, unter welchen Bedingungen die Menschen damals leben mussten.", erkläre ich ihm verständlich und traurig, dass es so etwas überhaupt gegeben hat.

„Warst du schon mal dort?", fragt er interessiert an dem Thema.

Nickend erzähle ich ihm: „Glaub mir es war gruselig. In der Sternförmigen Festung gibt es dunkle, enge, kleine Gänge, die man gefühlte Stunden laufen musste, bis an den Ausgang gelangte. Alles andere war ebenfalls gruselig, klein und einfach nur dreckig. Genauso, wie es in dieser Geschichte beschrieben wird. Die Autorin war als Kind damals selbst dort."

Er zieht eine komische Grimasse.
„Wenn ich wieder gesund bin, können wir dann mal zusammen dorthin fahren? Ich habe absolut keine Vorstellung, wie es dort aussieht und ich glaube, dass Gefühl welches man dort hat, kann kein einziges Buch aus dem Internet beschreiben.", fragt er mich unsicher mit wahren Worten.

„Wenn du das verkraftest?", frage ich sorgsam nach.

Entschlossen nickt er kräftig.

„Was hast du heute vor?", wechsle ich absichtlich das Thema.

„Ich habe mich mit Whilodine zum Eis essen verabredet. Viel mehr kann man hier ja nicht machen.", schüttelt er verständnislos seinen Kopf.

„Das ist eine gute Idee.", stimme ich ihm animierend zu.

„Und weißt du was? Ich gebe euch das heute aus.", verkünde ich stolz meine Entscheidung.

„Oh mein Gott, wie nett von dir!!", freut er sich auf und ab hüpfend mit einem riesigen Strahlen.

Wie sehr ich solche Momente liebe. Genau deshalb, habe ich mich vor vier Jahren dazu entschlossen, Krankenschwester zu werden.

Im Bad wasche ich ihn und mache ihn hübsch, sodass ihm kein Mädchen dieser Welt widerstehen könnte.

Er setzt seine haselnussbraune Mütze lässig auf, die perfekt zu seinen Augen passt und setzt sich ungeduldig auf sein Bett.

„Bis später.", rufe ich dem zwölfjährigen im Vorbeigehen zu.

Whilodine wartet bereits im Gang auf mich.
Zimmer rot befindet sich zwei Türen weiter links. Gemeinsam gehen wir still in ihr Zimmer, welches einer lodernden Flamme gleicht.

„Wusstest du schon, dass Joshua mich in einer Stunde zum Eis essen eingeladen hat?", gibt sie mit ihren großen blau leuchtenden Augen besserwisserisch an.

„Sag bloß.", spiele ich ihr sichtlich überrascht vor.

„Ja er ist schon ganz süß.", kichert sie vor sich hin. Automatisch kichere ich mit.

Das Sonnenlicht fällt direkt auf ihr engelhaftes Gesicht. Ihre Saphirblauen Augen werden besonders betont und der blonde Haarsaum schimmert in einem Goldton.

„Schau mal Schwester Alicia, meine Mommy hat mir gestern ein neues Kopftuch mitgebracht!", funkelt sie mich gierig an.

Das große marine farbene Tuch wurde mit einem leichten Blumenmuster in einem zarten Rosè bedruckt. Es sieht sehr teuer aus.

Ich falte das Tuch ein paar Mal, ehe es die richtige Größe hat und binde es ihr gekonnt um den Kopf. Auf ihrer hohen Stirn binde ich eine hübsche Schleife. Mein stark ausgeprägter Perfektionismus kommt mal wieder durch.

„Das Tuch passt perfekt zu deinen Augen.", erwähne ich bewundernd, während sie schon begutachtend vorm Spiegel steht.

„Machen wir dann langsam los? In Deutschland ist jeder immer überpünktlich."

Ich stimme ihr zu und begleite sie auf den langen Gang zu der gelb bemalten Tür.

Meine Beine tragen mich ins Schwesternzimmer, unauffällig schnell an Schwester Silvia vorbei, um mein Portemonnaie zu holen.

Die zwei kommen mir bereits vertieft in ein Gespräch entgegen gelaufen.

„Da ist ja mein Mini-Couple", bewundere ich die zwei voller Freude.

Ich muss augenblicklich schmunzeln.

„Dreimal- zwei Kugeln mit Schoko und Vanille bitte.", verlange ich von dem Praktikant an der Eisausgabe.

Wird hier so selten Eis verkauft, dass es nur Schoko und Vanille gibt? Das Thema muss ich unbedingt das nächste Mal in der Stationsbesprechung mit erwähnen.

Gut gelaunt, das mein heutiger Arbeitstag so chillig verläuft, steuere ich mit beiden Kindern eine weiße Bank auf der Terrasse an.

„Schmeckts euch Kinders?", frage ich die zwei Schmatzer genießend.

Eifrig nicken sie, ohne aufzuhören mit Eis schlecken.

Die Sonne streichelt sanft meine Haut und der Wind kitzelt meinen Nacken. Perfekter Sommertag. Urlaubsreif.

Josh, wie findest du mein neues Kopftuch?", fragt Whilodine, als wäre sie ein großes Mädchen, was mit ihrer Chanel Handtasche angibt.

Nervös sieht er zu mir. Mach ihr ein Kompliment!

„Es passt zu deinen Augen.", beginnt er überlegend zu reden. Whilodine funkelt ihn zufrieden an. „Aber das rosa passt nicht zu deinem grünen Top.", vervollständigt er seinen angefangen Satz. Er trotzt vor Ehrlichkeit. Dini zieht ihre Augenbrauen hoch und denkt über das misslungene Kompliment nach.

Wolfi, lade Whilodine doch in deine Bücherwelt ein.", gebe ich ihm offiziell einen Tipp, wie er das gerade passierte wieder gut machen kann.

„Wieso nicht.", stimmt er mir einverstanden zu. Wir stehen auf und laufen den Weg zurück.

„Wieso nennt sie dich Wolfi?", höre ich Dini tuscheln.

Dieser Moment, wenn jemand flüstert, aber man es trotzdem klar und deutlich versteht.

„Weil ich so stark wie ein Wolf bin, meint sie.", gibt er voller Stolz an und baut sich vor ihr, wie ein Truthahn, auf.

Am Schwesternzimmer biege ich ab und hole meine Handtasche.

Mittagspause whup whup.

Ich drehe mich um und beobachte die zwei noch eine kurze Weile, wie sie dicht nebeneinander den langen Gang entlang schreiten.

Ich weiß nicht wieso, aber mich überkommt ein komisches Gefühl. Emotional werdend, drehe ich mich um.

Vielleicht schlägt einfach nur der Hunger auf meinen Magen.

An der Essensausgabe zurück in der Cafetaria angekommen, bestelle ich mir eine Hühnerbrühe mit frischem Baguette.

Genießend nutze ich jede freie Minute meiner langen Pause.

Heute gönne ich mir noch eine grüne Götterspeise mit Vanillesoße, weil der Tag bis jetzt so gut läuft.

Ich kratze den letzten Wackelpudding zusammen und schlabbere ihn auf. Zwei Menschen, die völlig durch den Wind sind, kommen in meine Richtung gerannt.

Sind das nicht Joshs Eltern?

Franziska und Axel Dawson kommen atemlos vor mir zum Stehen. Mein komisches Bauchgefühl meldet sich erneut.

„Was ist denn los?", frage ich sie schockiert.

„Joshua hat gerade eine Not-OP!", schreit Axel mich bösartig an. Ich bin auch nur ein Mensch.

Ohne großartig nachzudenken verspreche ich ihnen mich sofort darum zu kümmern.

„Geht schon mal hoch auf Station, ich werde mich in der Zeit in den OP Bereich begeben.", befehle ich ihnen ohne zu zögern.

Was für eine fucking Not-OP soll das bitte sein? Was ist passiert?

Ich renne zur Tür, die ins Treppenhaus führt. Wütend rüttle ich an der silbrigen Türklinke, die einfach nicht aufgehen will. Sie ist zugeschlossen. Wo ist der verfluchte Schlüssel?

Alicia nicht ausrasten! Es geht um deinen Lieblingspatienten. Möglicherweise schwebt er immer noch in Lebensgefahr. Du musst dich jetzt überwinden- für ihn.

Mit einem schlechten Bauchgefühl, drücke ich auf die blinkende Fahrstuhl Taste.

Er stand bereits auf meiner Etage bereit.
Der leere Fahrstuhl öffnet seine Türen und lädt mich ein, mit ihm eine Fahrt zu teilen.

Ich mag dieses Gefühl nicht, dass ich keinen festen Boden unter meinen Füßen habe und ohne Fenster dieses komische Schwingen ertragen muss.

Meine Hände zu Fäusten geballt setze ich einen großen Schritt in das Fahrstuhlinnere. Jetzt bin ich drin. In dieser riesigen Sardinen Büchse.

Als ich mich langsam traue umzudrehen, schließen sich auch schon die großen schweren Türen. Ich wähle den Knopf nach ganz unten.

Jetzt bin ich eingesperrt.
Ich will doch nicht mehr.
Kein Zurück mehr.

Ich schließe die Augen. Nein, jetzt sehe ich garnichts mehr. Panisch öffne ich sie wieder. Wie lange dauert es, bis ein Fahrstuhl losfährt?

Langsam driftet er nach unten.
1. Sekunde
2. Sekunde
3. Sekunde
Er bleibt stehen. Geschafft.

Ich habe es geschafft!
Glücklich starre ich auf die großen schweren Türen.

Ihr könnt euch jetzt öffnen.
Panisch starre ich sie immer noch an.
Bitte bitte öffnet euch. Ich habe eine hohe Pflicht und Verantwortung, die ich erledigen muss.

Ist das meine Strafe, dass ich dachte, heute wird ein guter Tag?

Angespannt versuche ich den Schlitz zwischen den beiden Türhälften, mit meinen Augen, auseinander zu beamen.

Ich beginne erneut laut die Sekunden zu zählen. Als ich bei zwanzig angekommen bin, wird mir klar, was gerade passiert.

Alicia, du steckst fest.
Dein schlimmster Alptraum wird wahr.
Du wirst sterben.
Niemand wird deine Schreie hören.
Eingesperrt im dieser Blech Schachtel, die immer kleiner wird.

Der Boden beginnt zu schwimmen. Ich blinzle, um das Bewusstsein zu erhalten. Ich konzentriere mich auf meine weißen Schuhe.

Wieso gibt es hier keine Notfall Klingel?! Die scheiß Teile gibt es in jedem Film. Wieso hier nicht?

Laut summend und hin und her wippend vor Nervosität, versuche ich mich abzulenken.

Bald wirst du gerettet.
Jaja das glaubst du doch selbst nicht.
Ich bin noch zu jung um zu sterben.
Du wirst nicht sterben, übertreib mal nicht so.
Diskutiert meine innere Stimme hin und her.

Tränen sammeln sich in meinen Augen an. Ich kämpfe gegen die Angst an. Mit dieser letzten Kraft schlucke ich sie runter. Es fällt mir so schwer, diese Kraft zu sammeln, dass ich garnicht merke, wie es immer schwärzer vor meinen Augen wird.

Wer hat das Licht ausgemacht?

Ich sinke zu Boden. Zitternd. Leise schluchzend. Unwissend, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen sind, starre ich in die endlose Schwärze.

Wer hatte Joshi auch schon so sehr ins Herz geschlossen? 😢 Und wer hasst Fahrstühle genauso sehr?

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