Helena 11

Heute war ich die Hauptattraktion, und niemand schien auch nur die kleinste Scheu zu haben, mir das auch zu zeigen. Ja, schaut nur blöd. Ich werde es euch noch zeigen, dass ich mich nicht blamieren werde, zumindest bei den Grundlagen, die mir Alex schon vor ein paar Tagen gezeigt hatte.

Meine neue Trainerin, Ich-habe-keine-Interesse-an-dir, bearbeitete gerade einen Boxsack, während ich krampfhaft versuchte mich irgendwie zu beschäftigen. Ich hatte mich gelangweilt gegen die Wand gelehnt und wartete vergeblich auf eine Reaktion von Adriana. Schließlich war sie und nicht ich für mein Training verantwortlich!

Ich hatte in den letzten Wochen eindeutig Schlimmeres erlebt, als von irgendeinem Mädchen ignoriert zu werden. Insgeheim war ich ganz froh darüber, dass ich mal ein wenig Zeit für mich hatte, auch wenn ich mich gerade an die Wand pressen musste, um den Boxsack nicht ins Gesicht zu bekommen.

Ich stolperte ein paar Schritte zur Seite und knallte mit meinem Rücken gegen einen Aufstellspiegel, als das Schlagen plötzlich aufhörte und mich ein verschwitztes Gesicht genervt anstarrte.

"Am besten gehst du zu dem anderen Boxsack und fängst schon mal mit der ersten Übungen an", forderte sie mich mit einem gezwungenen Lächeln und einem damit-du-nicht-mehr-im-Weg-stehst-und-Spiegel-zerrstören-kannst Unterton auf.

"Ja, sicher doch, und dann frage ich einfach meine unsichtbare Trainerin, wie die Übung ausgeführt wird?", konterte ich ironisch.

"Aber vergiss nicht, deiner unsichtbaren Trainerin zu sagen, dass sie dich hart rannehmen soll, denn morgen findet dein erster Kampf im Ring statt!", kam unbeeindruckt die Antwort von Adriana.

"Dann sag ihr doch mal, welche Übung ich machen soll, damit es morgen nicht zur größten Loser-Show wird", gab ich genervt von mir und verschränkte meine Arme vor meiner Brust.

"Oh, mach dir mal keine Sorgen, den Titel wirst du schon noch tragen. "

Na toll. Jetzt nur nicht die Beherrschung verlieren!

"Bitte, erzähl mir was Neues. Dass ich die größten Loser anziehe, wusste ich schon", schoss ich zurück, während ich sie intensiv musterte.

Adriana schaute mir nun erstmals direkt in die Augen. "Ein kleiner Tipp: Wenn du hier nicht untergehen willst, solltest du aufhören, deine offene Meinung zu präsentieren!"

Das kam unerwartet.
Ich versuchte, mir meine Fassungslosigkeit jedoch nicht anmerken zu lassen, stolzierte einfach zu dem Boxsack und begann frustriert darauf einzuschlagen.

Zu meiner Überraschung tauchte neben mir Adriana auf, die mich aufmerksam musterte. Ein Ausdruck von Neugier und vielleicht sogar Verständnis spiegelte sich in ihrem Blick wieder, während ich versuchte, meine Emotionen im Griff zu behalten.

Sanft ergriff sie meinen Arm und drehte ihn leicht: "Das ist die Position deines Schlagarms, damit du mehr Druck ausüben kannst. Während du leicht in die Knie gehst, sollte der freie Arm, der nicht schlägt, stets dein Gesicht verdecken. Das schütz dich vor möglichen Angriffen deines Gegners.

Der Boxsack hing reglos vor mir, und ich atmete tief ein. Mit einem fokussierten Blick begann ich, meine Schläge auf den Boxsack zu setzen. Ein dumpfes Aufprallen erfüllte den Raum, und die Zeit dehnte sich aus, während meine Fäuste konzentriert auf den Boxsack trafen. Das Leder knarrte leise unter meinen Schlägen.

Endlich hatten sich die Jahre, in denen ich für meinen Traumberuf trainiert hatte, bezahlt gemacht, und durch die Übungseinheiten mit Alex konnte ich überraschend leicht die gezeigten Stellungen nachvollziehen. Meine übertriebene Begeisterung war tatsächlich einmal von praktischem Nutzen gewesen. Na, wer hätte das erwartet?

„Halte deine Ellenbogen näher an deinem Körper, sonst siehst du aus wie ein aufgescheuchtes Huhn", kam es gelassen von Adriana, die mich während der Übung aufmerksam beobachtet hatte.

Mein gesamtes Selbstbewusstsein sank in den tiefsten Keller und mein Blick spießte sie förmlich auf. Wenn Blicke töten könnten, wäre Adriana spätestens jetzt tot. Sie fing jedoch nur an zu lachen, während ich genervt meine Arme verschränkte und den Schweiß von meiner Stirn strich.

„Wir gehen jetzt zu den direkten Angriffe im Ring über", kommentierte Adriana und versuchte, meinen Arm zu packen, um mich in die Haupthalle zu ziehen. Genervt, wie ich war, entzog ich ihr die Möglichkeit und präsentierte meine Meinung: Ich wackelte mit den Armen und imitierte ein Huhn. Adriana fing wieder an zu lachen und musste sich zusammenreißen, um nicht endgültig die Fassung zu verlieren. Auch ich konnte mich dem Lachen nicht mehr entziehen.

Sie zog mich hinter sich her in eine anliegende Halle. Dort überquerte Adriana die Ringseile und betrat das innere Quadrat eines Trainingsrings. Jetzt erst donnerte es bei mir ein: Bitte was? Das war nur das Aufwärmen?! Ich war jetzt schon völlig erschöpft, und das Einzige, was sich vor meinem inneren Auge abbildete, war mein Bett und etwas zu essen.

„Ich kann nicht mehr - und außerdem ist es gesundheitlich belastend, sich am ersten Tag direkt auszupowern", beschwerte ich mich. Adriana strich sich die Haare aus dem Gesicht und machte sich einen neuen Pferdeschwanz, um anschließend ihre Boxhandschuhe anzuziehen. „Ich bin absolut nicht mehr aufnahmefähig und brauche dringend etwas zu essen!", versuchte ich sie zu überzeugen, während sie meine Beschwerden gekonnt ignorierte. Also trottete ich doch noch zum Kampfring (ein Versuch war es wert gewesen).

***

Der Satz "Los, steh wieder auf!" brannte sich förmlich in mein Gehirn ein. Adriana wiederholte ihn jedes Mal, nachdem sie mich wiederholt zu Boden geworfen hatte, und mir damit verdeutlichte, wie wenig ich bisher konnte.

Meine Energie hatte mich vollkommen verlassen, und trotzdem trieb mich Adriana weiter an. Dabei wurde mir klar, dass das Boxtraining bislang wirklich nur das Aufwärmen gewesen war. Toll, es war erst der erste richtige Tag - wie sollte es dann noch werden?

Völlig erschöpft lag ich schon wieder auf dem Boden und ergriff die Hand, die mir Adriana ausstreckte, um mich anschließend hochzuziehen. Ich stützte die Arme auf meine Beine ab und hechelte nach Luft.

Im Gegensatz zu mir wirkte Adriana frisch und munter. Sie lächelte mich unvermittelt an. "Na, komm schon, lass uns etwas essen gehen!" Ich rang weiterhin nach Luft und konnte ihr deswegen nicht antworten. Stattdessen nickte ich einfach. Innerlich freute ich mich jedoch tierisch, denn endlich gab es eine Pause.

Sie ergriff meinen Arm und zog mich in Richtung Umkleide. Dort befanden sich bereits die Anderen, die sich gerade umzogen. Das klare Wasser prasselte auf ihre Haut, löste Verspannungen und tat unheimlich gut. Nachdem ich mich frisch geduscht hatte, zog ich mir neue Kleidung an und fühlte mich sofort viel wohler. Immerhin war ich nach dem Training so erschöpft, dass mich die Blicke der Anderen nun nicht mehr störten.

***

Als ich die Mensa betrat, kamen mir verlockende Gerüche von den unterschiedlichsten Gerichten entgegen. Wir drängelten uns durch das Gewusel an den Ausgabetheke, während die Gespräche und das Klappern von Geschirr den gesamten Raum einnahmen.

Meine Augen wanderten über die breite Auswahl an Gerichten und dabei beobachtete ich das Mensapersonal, das großzügig Portionen verteilte. Freundlich drückte mir ein Mitarbeiter einen Teller mit dampfendem Essen in die Hände.

Mit einem gefüllten Tablett setzte ich mich auf den freien Platz gegenüber von Adriana auf einen bunten Stuhl. Die Farben der Stühle waren ein Kontrast zu den Ärzten, die alle in weiße Kittel gehüllt waren, und zu unserer eher sterilen Kleidung.

Es gesellten sich noch andere zu uns, die ich zuvor bereits in der Trainingshalle gesehen hatte. Dennoch übermannte mich der Hunger, und ich begann, meine üppige Portion in mich hineinzuschaufeln.

"Du hast aber einen enormen Hunger", lachte Adriana, als sie meinen vollen Teller sah. "Ich habe auch mindestens das Doppelte verbrannt!" mampfte ich mürrisch. "Außerdem schmeckt das Essen köstlich." Adriana zog eine angewiderte Grimasse. "Das habe ich in all den Jahren, die ich hier verbracht habe, noch nie gehört."

"Naja, der Hunger ist eben der beste Koch. Wie lange bist du denn schon hier?" Sie schaute etwas verlegen durch die Gegend und starrte auf ihr Essen. „Ich bin hier aufgewachsen", war das Einzige, was sie sagte.

Ich wollte nicht aufdringlich werden, aber die Fragen in meinem Kopf explodierten fast, also fragte ich zögerlich weiter: „Ich habe ein Mädchen kennengelernt, sie heißt Samira. Kennst du sie?"

„Nein, aber ich vermute, sie ist eine Patientin hier, oder?" „Ja, genau. Samira meinte, dass ich etwas mit ihrer Heilung zu tun habe, stimmt das?" Naja, ganz so unwissend war ich inzwischen auch nicht mehr, aber ich wollte endlich Antworten haben!

"Jeder von uns, der Cruor in sich trägt, bekommt einen Patienten zugewiesen, dem man seine Cruor-Zellen spendet, damit der Patient wieder gesund werden kann. Man spendet auch viel lieber, wenn man ein Gesicht und einen Namen vor Augen hat. Wusstest du das?"

Ich wollte unbedingt weitere Fragen loswerden, aber ihr Blick intensivierte sich und ließ mir keinen Raum, meine Fragen auszusprechen. Und bevor ich überhaupt eine Frage stellen konnte, drehte sie sich zur Seite. Neben ihr hatte sich gerade ein junger Mann gesetzt, den ich auf Mitte zwanzig schätzen würde. Seine leicht gebräunte Haut verlieh ihm einen gesunden Teint, während eine dezente Stoppeligkeit um sein markantes Kinn sichtbar war.

„Ich habe gesehen, dass du in der Rangliste wieder nach oben gerutscht bist. Aber du wirst es nicht schaffen, mich wieder vom ersten Platz zu verdrängen", stichelte der junge Mann, mit dunklem Haaren Adriana. „Na, das werden wir noch sehen. Außerdem ist mein Kontostand, nachdem ich Farmacia die Dokumente gebracht habe, ziemlich gestiegen", provozierte sie zurück.

„Was für eine Rangliste?" rutschte die Frage aus mir heraus. Plötzlich starrten beide in meine Richtung. Unangenehm versuchte ich wegzuschauen und stocherte verlegen in meinem Essen herum.

„Die Liste, auf der du den letzten Platz belegst", informierte mich der Mann mit einem Hauch Sarkasmus. „Jetzt schüchtere sie doch nicht so ein, Thomas. Du weißt ganz genau, wie sie sich momentan fühlt", presste Adriana in Thomas' Richtung, der sie unschuldig anschaute.

„Die Liste zeigt die Punkte, die wir beim Training und bei den Aufträgen sammeln", klärte mich Adriana auf. Ich nickte stumm. „Wir werden für die Aufträge bezahlt, wie bei jedem anderen Job auch, und desto mehr Punkte du hast, desto mehr Aufträge bekommst du. Und die Gefährlichsten bekommen natürlich auch nur die Besten," demonstrativ schaute sie in Thomas' Richtung.

„Ignoriere Adri einfach. Ihr Ego leidet, wenn sie nicht an der Spitze der Liste steht. Aber nachdem sie für ihren letzten Auftrag viel zu lange gebraucht hat, musste sie mir schließlich den ersten Platz überlassen", lachte Thomas und stand dann auf, um seinen leeren Teller wegzubringen.

Ich verabschiedete mich noch von Adriana und stand dann ebenfalls auf. Erschöpft vom langen Tag und vom Training ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich anschließend in mein weiches Bett.





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