Adriana 21

Nachdem ich den ersten Bissen genommen hatte, legte ich das Besteck beiseite und zog die Akte näher heran. Das Papier war neu, die Farbe tiefschwarz und glänzend – die Akte war erst kürzlich erstellt worden und roch fast noch nach frischem Druck.

Die ersten Informationen waren knapp und sachlich. Persönliche Daten, Herkunft, eine kurze Auflistung seiner geschäftlichen Erfolge und der Grund, warum Farmacia ihn als Händler ausgesucht hatte. Standardisierte Fakten, die wenig Aufschluss über den Menschen Yuki Hiro gaben. Nichts, was sofort auffiel, aber genug, um meine Neugier zu wecken.

Dann stieß ich auf einen Abschnitt, der sich mit seinen Verhaltensweisen beschäftigte – eine Reihe von Empfehlungen, wie man ihm am besten begegnen sollte. Es war fast wie eine Anleitung für den Umgang mit jemandem, dessen Absichten schwer zu erkennen waren.

„Respekt vor seinem Erfolg zeigen, keine persönlichen Fragen stellen" – alles in einem Ton, der eine gewisse Distanz aufbaute. Es war, als ob niemand wirklich wagte, hinter die Fassade zu blicken.

Ich blätterte weiter und stieß auf einen weiteren Abschnitt, der seine Karriere näher beleuchtete. Einziger Erbe der Familie Hiro, ein riesiges Vermögen, das über die Jahre hinweg auf mehrere Unternehmen verteilt worden war.

Er hatte als Geschäftsmann begonnen, schnell in der Finanzwelt Fuß gefasst und war zu einem der erfolgreichsten Unternehmer Asiens aufgestiegen. In seinen 30ern war er bereits ein bekannter Name, der auch international seine Kreise zog.

Aber all das war keine neue Information für mich. Ich kannte die öffentliche Seite von Yuki Hiro – dem skrupellosen Geschäftsmann, der immer einen Schritt voraus war.

Als ich weiterblätterte, stieß ich auf den Abschnitt über seine Interessen und Freizeitgestaltung. „Golf", stand dort. Das passte zu ihm. Hiro war der Typ, der jeden Bereich seines Lebens mit Perfektion ausfüllte, und Golf war ein Hobby, das seinen Status widerspiegelte.

Er war Mitglied in exklusiven Golfclubs weltweit und spielte regelmäßig auf renommierten Plätzen, wo das Spiel längst mehr als nur ein Sport war. Es war ein Ritual, das seine Stellung in der Gesellschaft untermauerte.

Unter „Freizeit" folgte eine Liste von Events, bei denen er oft anzutreffen war – Partys auf Yachten, die in allen bedeutenden Häfen der Welt vor Anker gingen. Es war ein Lebensstil, den er nicht nur pflegte, sondern der Teil seiner Selbstinszenierung war.

Weiter unten stand, dass er Besitzer mehrerer exklusiver Clubs war, darunter in Städten wie Tokio, London und New York.

Doch je weiter ich blätterte, desto deutlicher wurde, was diese Akte so leer und unerfüllt machte. Hier war der Mann, der scheinbar alles hatte – Macht, Einfluss, Reichtum. Doch was trieb ihn an? Was wollte er wirklich? Und was war seine Motivation die Ware von Farmacia umzuleiten? Die Akte gab keine Antwort darauf.

Die letzten Seiten bestanden hauptsächlich aus Geschäftsberichten und laufenden Verträgen – Details, die nun nur noch Zahlen und Formalitäten waren. Ein paar Notizen zu offenen Projekten, die nun an andere übergeben werden mussten.

Keine persönlichen Bemerkungen. Nichts, was den Menschen Yuki Hiro wirklich beschrieben hätte und potenzielle Motivationen offenbarte.

Ich lehnte mich zurück und ließ die Akte langsam sinken. Die letzten Seiten hatten mir kaum neue Informationen geliefert – nur eine Ansammlung von Zahlen, Daten und Verträgen. Doch eines war klar: Die einzigen echten Einblicke, die ich aus dieser Akte gewinnen konnte, betrafen seine persönlichen Interessen und Freizeit.

Sie zeichnete ein Bild seines Alltags und ließ Raum für die Möglichkeit, dass Hiro und Wilson sich entweder über gemeinsame Interessen kennengelernt hatten. Oder sie waren doch nur einfache Geschäftspartner? Ich wusste es nicht.

Ich schob das Frühstück zur Seite und öffnete den Laptop. Da ich in der Akte keine persönlichen Notizen zu Hiro gefunden hatte, musste ich die Details selbst herausfinden. Im Internet gab es schließlich genug Informationen. Ich begann mit den Clubs.

Die Akte hatte nur vage Angaben gemacht: „Besitzer mehrerer exklusiver Clubs", darunter einige in Metropolen. Keine Namen, keine Gründungsdaten – nur die schwammige Beschreibung „exklusiv". Also startete ich eine schnelle Google-Suche.

Ich öffnete die Webseite von „Mosaic" in Tokio, dem ersten Club, den ich gefunden hatte. Die Seite war schlicht, aber elegant gestaltet – genau das, was man von einem exklusiven Club erwarten würde. Ein großes Banner zeigte eine Lounge mit atemberaubendem Blick auf die Skyline von Tokio. Typisch für Hiros Stil, der immer auf Perfektion und Status bedacht war.

Besonders ins Auge fiel mir die Kategorie „Signature Events". Hier wurden Erlebnisse wie private Kunstgalerien, edle Weinproben und aufwendig inszenierte Gala-Dinners für die Mitglieder angeboten. Alles an diesem Club war darauf ausgelegt, die Elite der Gesellschaft anzuziehen und ihr ein Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln.

Ich klickte weiter und landete beim Impressum der Seite. Dort entdeckte ich, dass Hiro den Club vor zehn Jahren gegründet hatte. Er hatte sich in kürzester Zeit zu einem der begehrtesten Treffpunkte Tokios entwickelt. Interessanterweise war Hiro nicht alleiniger Verantwortlicher für den Betrieb – die Führung des Clubs lag bei einem Team von Managern, die die operative Leitung übernahmen.

Der nächste Club, „Opal" war in London. Ich war auf diesen gestoßen, nachdem ich „Hiro" zusammen mit dem Stichwort „Club" in die Suchmaschine eingegeben hatte. Die Webseite des „Opal" erinnerte an die des ersten Clubs – gleichermaßen schlicht und elegant gestaltet. Auf der Startseite wurden kommende Veranstaltungen beworben, mit reißerischen Begriffen wie „exzellent" und „großartig".

Auch hier suchte ich nach dem Impressum. Doch anders als bei „Mosaic" wurde hier kein Inhaber genannt – gar nichts. Das machte mich misstrauisch. Ich beschloss, diesmal den Namen des Clubs direkt in die Suchmaschine einzugeben und klickte mich anschließend durch die Ergebnisse.

Schließlich stieß ich auf ein Forum, in dem sich Menschen über Clubs in London austauschten. Der „Opal" hatte hier einen eigenen Thread, und die Nutzer teilten ihre Erfahrungen und Meinungen. Es war ein bunter Mix aus Begeisterung und Kritik.

Während ich die Beiträge überflog, blieb ich an einer Beschwerte über die Veränderungen im Opal hängen. „Seit kurzem ist hier nichts mehr so wie früher", schrieb ein Nutzer. „Die Preise wurden erhöht, und viele der alten Angebote gibt es nicht mehr. Früher waren die Events etwas Besonderes."

Ein anderer Nutzer antwortete darauf: „Das liegt sicher am Besitzerwechsel. Der Club wurde ja vor ein paar Monaten verkauft. Kein Wunder, dass die neuen Leute alles umkrempeln."

Das ließ mich aufhorchen. Ein Besitzerwechsel? Die Kommentare gaben keinen genauen Zeitpunkt an, doch ich schloss daraus, dass der Wechsel sehr wahrscheinlich nach Hiros Tod erfolgt sein musste. Es passte ins Bild: Seine Besitztümer wurden weitergegeben, und der „Opal" war nun offenbar in anderen Händen.

Trotz meiner Suche blieb die Identität des neuen Besitzers im Dunkeln. Weder auf der Webseite noch in den Foren fand sich ein Hinweis darauf, wer den Club jetzt leitete. Der „Opal" war ein Ort, der einst Hiro gehörte, ein Ort, an dem er Menschen zusammenbrachte, Netzwerke spann und sich selbst inszenierte.

Ich dachte an James Wilson. Noch immer suchte ich nach einer Verbindung zwischen ihm und Hiro. Es war schwer zu glauben, dass ihre Wege sich nie gekreuzt hatten. Und wo könnte man besser Gerüchte aufschnappen oder in der Vergangenheit eines Ortes stöbern als an genau so einem Treffpunkt?

Ich beschloss, heute Abend dorthin zu gehen und mich in die Kreise von Hiros Welt einzuschleusen – in der Hoffnung, dass mein Phantom ebenfalls ein Teil davon war.

Die Reise nach London war kein großes Problem. Es gab eine Direktverbindung von Farmacia, die nur zwei Stunden dauerte. Ich öffnete die Buchungsseite für Züge und fand eine Verbindung, die mich bequem rechtzeitig in die Stadt bringen würde.

Während der Buchung überlegte ich, ob ich für die Nacht in London bleiben sollte. Direkt nach dem Clubbesuch zurückzufahren, schien unpraktisch. Ich wollte den Abend ohne Zeitdruck verbringen, ohne ständig daran zu denken, dass ich noch die letzte Verbindung erwischen musste. Außerdem könnte es nützlich sein, am Morgen darauf in der Nähe zu sein – wer weiß, welche Informationen oder Kontakte sich im „Opal" ergeben könnten.

Ich suchte nach Hotels in der Nähe des Clubs und stieß auf ein kleines, stilvolles Boutique-Hotel. Es war schlicht, aber gemütlich, und lag nur wenige Minuten vom „Opal" entfernt. Perfekt. Ich buchte sowohl die Zugfahrt als auch das Hotel.

Jetzt blieb nur noch eine Sache zu erledigen: Ms. Tung informieren.

Ms. Tung hatte die unangenehme Angewohnheit, alles bis ins kleinste Detail kontrollieren zu wollen, sonst verwandelte sie sich in eine Furie.

Ich entschied mich für die sicherste Methode: eine kurze, sachliche Nachricht per SMS. Präzise, unauffällig und so formuliert, dass sie keinen Anlass hatte, weiter nachzuhaken.

Verbieten konnte sie es mir ohnehin nicht – nicht offiziell. Aber ich wollte, dass mein Plan so „normal" wie möglich wirkte. Ich konnte es mir nicht leisten, dass sie Verdacht schöpfte oder, noch schlimmer, auf die Idee kam, mir hinterher zu spionieren.

Ich tippte die Nachricht:

„Guten Abend, Ms. Tung,
ich werde heute Nacht in London sein, um einer vielversprechenden Spur nachzugehen. Unterkunft ist organisiert, und ich werde morgen früh zurück sein, um Ergebnisse zu berichten.
LG, Adriana."

Ich starrte einen Moment auf den Bildschirm meines Handys, bevor ich schließlich auf „Senden" drückte. Die Erleichterung überkam mich, weil die Nachricht abgeschickt war.

Doch die Erleichterung wurde schnell von einem unangenehmen Gefühl abgelöst. Es war, als ob das dünne Eis, auf dem ich stand, bereits unter meinen Schritten knackte.

Ms. Tung hatte eine besondere Fähigkeit, ihre Kontrolle subtil und dennoch allumfassend auszuüben – ein Netz aus Vorschriften, unausgesprochenen Erwartungen und diesen durchdringenden Blicken, die stets zu wissen schienen, was ich dachte, bevor ich es selbst tat. Für die meisten wäre das kaum bemerkbar gewesen, aber ich spürte es in jeder Faser meines Seins.

Doch je länger ich dieses kleine Geheimnis für mich behielt, desto mehr wurde mir klar, dass dies keine einfache Rebellion gegen eine einzelne Anweisung war. Es ging um weit mehr – es war ein leiser, aber entschlossener Versuch, mich zu behaupten.

Dieser Funke des Widerstands, so winzig er auch sein mochte, gab mir das Gefühl, dass Farmacia nicht alles über mich bestimmen durfte: nicht meine Entscheidungen, nicht meine Ziele und nicht mein Handeln.

Es fiel mir jedoch schwer, diesen Gedanken zu reflektieren, denn alles, was ich war, war ein Produkt von Farmacia. Meine moralischen Werte, meine Art zu denken, sogar meine Instinkte – all das hatte man mir beigebracht, eingetrichtert durch ihre strenge Ausbildung und ihre radikale Erziehung. Loyalität, Gehorsam.

Das waren die Werte, die mich geprägt hatten. Sich dagegen zu stellen, fühlte sich wie ein Verrat an meiner eigenen Identität an. Es war, als müsste ich gegen mein eigenes Fundament ankämpfen, und das machte jede Entscheidung unendlich schwer.

Mein Handy vibrierte in meiner Hand und riss mich aus meinen Gedanken. Eine Minute später hielt ich Ms. Tungs Antwort vor mir. Ich las die Nachricht ruhig durch:

„Verstanden, Adriana. Gute Reise. Wir erwarten deinen Bericht morgen früh."

Kein weiteres Nachfragen, keine scharfen Bemerkungen. Sie hatte sich nicht weiter eingemischt, was mir erlaubte, meine Reise ohne zusätzliche Belastung anzutreten.

Mit einem letzten Blick in den Spiegel und einem letzten Check, ob ich alles hatte, begann ich zu packen. Ein paar einfache, aber sorgfältig ausgewählte Outfits. Für den Clubbesuch später hatte ich mich für etwas Unauffälliges entschieden – elegant, aber nicht zu extravagant.

Der Club war kein Ort für Überheblichkeit, es ging um das stille Signal von Reichtum und Einfluss, nicht um einen lauten Auftritt. In der Tasche landeten auch meine Notizen, ein kleiner Block und mein Laptop, die ich für meine Recherchen immer bei mir trug.

Dann schnappte ich mir meinen Koffer und verließ Farmacia. Der Tag war sonnig und kühl, und ich konnte es kaum glauben, dass ich tatsächlich bald im „Opal" stehen würde. Der Gedanke daran ließ ein leichte Aufregung in mir aufsteigen, dass ich blad einen Teil von Hiros Welt betreten werde.

Der Zug war überraschend leer, als ich den Bahnhof erreichte. Ich fand schnell einen Platz am Fenster und ließ mich in den weichen Sitz sinken. Die Fahrt nach London bot genug Zeit, um nachzudenken und mich innerlich vorzubereiten.

Ich zog das belegte Brot und die Flasche Wasser aus meiner Tasche, mein Mittagessen für die Fahrt, das ich schnell bei einem Bäcker am Bahnhof geholt hatte. Nichts Aufregendes, aber funktional. Während ich kaute, sah ich aus dem Fenster, beobachtete die vorbeiziehende Landschaft und ließ meine Gedanken schweifen.

Als der Zug in London einfuhr, war die Stadt lebendig und der Puls der Straßen nahm mich sofort auf, als ich in ein Taxi stieg. „Zum Hotel, bitte", sagte ich und der Fahrer nickte.

Die Gegend, in der das kleine Boutique-Hotel lag, war schick, mit teuren Boutiquen, stylischen Cafés und noblen Restaurants. Als ich ankam, war der Empfang freundlich, und der Check-in verlief schnell und reibungslos.

Ich betrat mein Zimmer, das modern und stilvoll eingerichtet war. Dezente Farben, hochwertige Möbel und ein angenehmes, ruhiges Ambiente, das mir sofort eine kleine Auszeit vom hektischen Trubel draußen bot. Es war komfortabel, ohne zu übertrieben zu wirken.

Das Fenster bot einen Blick auf die belebte Straße, wo gut gekleidete Passanten und teure Autos vorbeifuhren. Die Lichter der Stadt begannen zu leuchten, und das Murmeln von Gesprächen sowie das Geräusch des Verkehrs schufen eine lebendige, aber dennoch ruhige Atmosphäre.

Ich ließ mich kurz auf das Bett fallen, um den Moment der Ruhe zu genießen. Die letzten Stunden waren hektisch gewesen, und endlich konnte ich den ständigen Druck, der mich oft begleitete, für einen Augenblick loslassen.

Das Abendessen bestellte ich mir im Hotelrestaurant – etwas Leichtes, aber sättigend. Ich wollte nicht hungrig in den Club gehen, denn ich wusste, dass man mit leerem Magen ein völlig anderer Mensch ist. Es würde mir schwerfallen, klar zu denken und mich zu konzentrieren.

Während ich aß, versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren und einen präzisen Plan für den Abend zu entwickeln.

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