Adriana 17
James Wilson – dieser Name ging mir seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf. Er raubte mir den Schlaf und zerstörte mein gesamtes Verhältnis zu Farmacia. Seit dem Abend, als Hiro mir diesen Namen verriet, versuchte ich verzweifelt, das Gesicht zu diesem Namen zu finden.
Eigentlich war es mein Auftrag gewesen, genau diesen Namen herauszufinden und ihn Ms. Tung mitzuteilen. Doch das erste Mal in meiner Karriere entschloss ich mich, diese Information für mich zu behalten.
Ich hatte herausgefunden, dass Hiro tatsächlich Ware von Farmacia umgeleitet hatte. Diese Information hatte ich sofort per SMS an Ms. Tung weitergegeben. Aber von der Auseinandersetzung zwischen Hiro und mir, die danach stattfand, hatte ich nichts erwähnt.
Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Zuerst hatte ich die geheimen Dokumente gelesen, die ich von Dr. Beckmann für Farmacia zurückgeholt hatte, und nun verschwieg ich auch noch den Namen, an den die Ware von Farmacia weitergeleitet wurde. Ich steckte wirklich tief im Schlamassel.
Ich fühlte mich miserabel, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass etwas nicht stimmte. Die letzten Tage war ich so zerrissen, dass ich mich von allen abgeschottet und mich voll und ganz auf die Mission konzentriert hatte. Der Paradox war, dass meine Mission darin bestand, den Empfänger der Cruor-Infusionen herauszufinden, den ich ja bereits kannte.
Ich verfolgte Spuren, die ich Ms. Tung brav meldete und fühlte mich dabei absolut bescheuert. Doch es konnte nicht ewig so weitergehen, weshalb ich beschloss, James Wilson heimlich zu finden.
Deshalb saß ich jetzt verzweifelt in dieser kleinen Bibliothek, abgelegen und fernab der Stadt, in der ich lebte. Zuerst hatte ich alle Bücher durchwühlt, in der Hoffnung, etwas Nützliches zu finden – vergeblich. Schließlich setzte ich mich frustriert an einen Laptop und durchsuchte doch den Namen im Internet.
Eigentlich wollte ich das vermeiden, aus Angst, dass jemand meine Suchverläufe überprüft und Farmacia herausfindet, dass ich den Namen längst kannte.
Nun starrte ich auf die Seite, die verschiedene Bilder von irgendwelchen James Wilsons auf der ganzen Welt zeigte. Es war abzusehen, dass es mehrere gibt, und ich wusste immer noch nicht, wo ich weitersuchen sollte.
Normalerweise war ich ein Profi darin, Menschen weltweit ausfindig zu machen. Doch normalerweise hatte ich auch die richtige Ausstattung und die Unterstützung von Farmacia. Ohne diese sah die Sache anders aus.
Ich brauchte eigentlich nur einen PC, mit dem ich bedenkenlos ins Darknet gehen und dort nach personalisierten Daten suchen konnte – einen James Wilson, den man mit Farmacia und Yuki Hiro in Verbindung bringen konnte.
Frustriert fuhr ich mir durch die Haare, während ich weiterhin genervt auf den Bildschirm vor mir starrte, der sich zu meiner Enttäuschung nicht veränderte. Die Bibliothek, in der ich saß, war zwar klein, aber sehr gut besucht. Zwischen den Bücherreihen schlängelten sich die Menschen, manche vertieft in ihre Lektüre, andere auf der Suche nach dem nächsten Buch.
Die Regale waren dicht gedrängt mit Büchern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Es herrschte eine gedämpfte, aber lebendige Atmosphäre. An den Tischen saßen Menschen mit ihren Laptops, einige in hitzige Diskussionen vertieft, andere still in ihre Arbeit versunken.
Ich beobachtete, wie jemand vor einem Regal stand, das Fantasy-Romane beherbergte. Verträumt zog der junge Mann ein Buch heraus und vertiefte sich in die ersten Seiten. Seine Augen verfolgten die Zeilen und ich sah, wie er in eine andere Welt abdriftete.
Diesen Blick des jungen Mannes, der in eine andere Welt abtauchte, kannte ich nur zu gut. Jedes Mal, wenn ich mir vorstellte, wie mein Leben ohne Farmacia wäre, fühlte es sich an wie ein unerreichbarer Fantasy-Roman, den ich mir immer häufiger ausmalte. Und in diesem Moment hatte ich genau denselben Blick wie dieser junge Mann.
Würde ich dann wie die Frau, die Wissensbücher verschlang, in eine Bibliothek kommen, um für die Uni zu lernen? Oder doch eher wie die älteren Damen, die es sich an einem Tisch mit Cappuccinos gemütlich gemacht hatten und sich über Bücher austauschten?
Diese Vorstellungen waren für mich immer ein absolutes Tabuthema gewesen, aber seit Timothees Entlassung hatte ich meine Moral völlig auf den Kopf gestellt. Dass ich den Namen – James Wilson – kannte, ihn finden konnte und eventuell einen Ausweg, wie auch immer, fand, um endlich mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, war mein persönlicher Lichtblick.
Irgendwie wollte ich es mir immer noch nicht ganz eingestehen und gleichzeitig klammerte ich mich an diese Vorstellung und an diesen Namen, der für mich eine Hoffnung darstellte. Aber dafür musste ich ihn ausfindig machen und herausfinden, weshalb er die Ware von Farmacia brauchte.
Mit diesen Gedanken löschte ich alle Daten, die ich auf dem Laptop hinterlassen hatte, schnappte meine Sachen und verließ die kleine Bibliothek.
Draußen empfing mich die ruhige Stille eines abgelegenen Dorfes. Die Straße war schmal und gesäumt von alten, teilweise verfallenen Häusern, die von vergangenen Zeiten zeugten und nur wenige Menschen waren unterwegs.
Ein alter Mann schob langsam sein Fahrrad die Straße entlang, beladen mit frischem Gemüse. Eine junge Mutter spazierte mit ihrem Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster, während ihr Kleinkind fröhlich ein Lied vor sich hin summte. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen der Natur – Vogelgezwitscher, das Rauschen der Bäume im Wind und das gelegentliche Bellen eines Hundes.
Es herrschte eine friedliche, fast schläfrige Atmosphäre. Die wenigen Autos, die vorbeifuhren, taten dies gemächlich, als hätten auch sie keine Eile. Ein alter Pick-up rumpelte vorbei, gefolgt von einem Traktor, der das typisch ländliche Bild vervollständigte.
Ich ging die Straße entlang und spürte die Sonne, die durch die Wolken brach, während ich mich auf dem Bürgersteig zur Bushaltestelle bewegte. Ich hatte Glück, denn die Busse hier fuhren selten, wie in jedem Dorf. Doch ich musste nur wenige Minuten warten und ließ mich auf den hinteren Plätzen nieder.
Während der gesamten Busfahrt hörte ich Musik und vertiefte mich in meine Gedanken, die unaufhörlich um die Idee kreisten, wie ich Wilson ausfindig machen könnte. Anfangs hielt ich meinen Plan noch für einen Versuch wert, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Zweifel stiegen in mir auf.
Ich hatte bewusst die öffentlichen Verkehrsmittel gewählt, weil ich wusste, dass Farmacia die Möglichkeit hatte, zu überprüfen, wohin ich mit meinem Auto fuhr. Auch wenn ich nicht glaubte, dass sie es tatsächlich taten, musste ich unfassbar vorsichtig sein und keine Spuren hinterlassen.
Sobald der Bus mich wieder in meiner Stadt absetzte, stieg ich in die U-Bahn um, die mich in ein heruntergekommenes Viertel der Stadt brachte. Es war früher Nachmittag, und ich hatte noch genügend Zeit, bevor ich zu Farmacia zurückkehren musste, damit kein Verdacht aufkam.
Das Viertel war geprägt von verfallenen Gebäuden und schmutzigen Straßen. Graffiti bedeckten die Wände der alten Häuser, und der Müll stapelte sich in den Ecken. Der Geruch von Abgasen und abgestandenem Wasser hing in der Luft, und das Dröhnen der vorbeifahrenden Autos vermischte sich mit dem Rufen von Straßenverkäufern.
Menschen hasteten vorbei, die meisten mit gesenkten Köpfen und schnellen Schritten. Ein paar Jugendliche lungerten an einer Straßenecke herum, während Obdachlose in Hauseingängen Schutz vor den drängenden Blicken suchten.
Ich hielt vor einem Hochhaus. Es war ein grauer Betonklotz, von dem der Putz an vielen Stellen abgeblättert war. Die Fenster waren schmutzig und das Treppenhaus kaum beleuchtet. Ich drückte die Klingel und wartete. Nach einigen Sekunden knackte es in der Lautsprechanlage, und eine männliche Stimme meldete sich.
„Ja?"
„Ich bin's, Adriana," antwortete ich kurz.
Es folgte ein leises Summen, als die Tür entriegelt wurde. Ich betrat das Gebäude und nahm den Aufzug in den dritten Stock. Die Fahrt war ruckelig, und das Summen des alten Motors hallte durch den engen Schacht. Als sich die Türen öffneten, sah ich, dass bereits jemand die Tür zu einer Wohnung offengelassen hatte.
Ich trat ein und sah mich um. Die Wohnung war klein und dunkel, aber vollgestopft mit technischen Geräten. Monitore flackerten in einer Ecke des Raumes, und verschiedene Kabel und Hardware-Teile lagen verstreut auf einem großen Schreibtisch.
Leere Energydrink-Dosen und Pizzakartons stapelten sich neben einem bequemen, aber abgenutzten Gaming-Stuhl. Die Wände waren mit Postern von Science-Fiction-Filmen und Videospielen bedeckt, und in einer Ecke stand ein Bücherregal, vollgestopft mit technischen Handbüchern und Comic-Heften. Der dunkle Raum, in dem alle Rollos heruntergelassen waren, wurde von dem bläulichen Licht der Bildschirme erleuchtet.
Ich schloss die Tür hinter mir, und ein junger Mann, etwa Mitte 20, schlenderte auf mich zu. Er war eher dünn und schmächtig und trug keinen Bart. Ich fragte mich, ob er sich rasierte oder ob er einfach keinen Bartwuchs hatte. Er begrüßte mich knapp und fragte direkt: „Warum bist du hier und was brauchst du?"
Ryans Blick war verwundert, da ich normalerweise nur für offizielle Aufträge von Farmacia zu ihm kam. Solche Aufträge brachten ihm immer ein gutes Honorar ein. Diesmal war es jedoch anders. „Adriana, ich hatte nicht mit dir gerechnet. Farmacia hatte mich nicht kontaktiert?"
Wir hatten oft zusammengearbeitet und kannten uns gut. Obwohl wir eine Art Freundschaft entwickelt hatten, blieb unsere Beziehung stets geschäftlich.
Ich atmete tief durch und setzte mich an einen Tisch, den ich als Esstisch vermutet. „Ja ... ," begann ich zögerlich. "Ich brauche deine Hilfe bei etwas Persönlichem, etwas, das nicht offiziell sein darf."
Er setzte sich mir gegenüber und sah mich ernst an. „Was genau brauchst du?" fragte er, seine Stimme eindringlicher.
„Ich muss jemanden finden," sagte ich. „Jemanden, der sich mit Farmacia in Verbindung bringen lässt. Sein Name ist James Wilson."
Er runzelte die Stirn und lehnte sich zurück. „James Wilson? Das ist ein ziemlich allgemeiner Name. Gibt es irgendetwas Spezielles, dass du über ihn weißt?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nur, dass Farmacia eine Lieferung von Cruor-Infusionen an einen Patienten geschickt hatte – die jedoch nicht beim vorgesehenen Empfänger ankam, sondern bei James Wilson."
Er sah mich eine Weile schweigend an, bevor er nickte. „Da es nicht offiziell über Farmacia läuft, gehe ich mal davon aus, dass sie es nicht erfahren dürfen, dass du nach diesem Mann suchst?", kombinierte Ryan richtig und ich war mal wieder erstaunt, wie schnell er die ganze Situation auf den Punkt brachte.
Ich nickte schnell und versuchte möglichst keine Emotionen zu zeigen, denn ich entblößte mich gerade jemanden völlig. Wenn er mit diesem Wissen zu Farmacia rennen würde, dann wäre ich mehr als Tod. Das war auch der Grund, weshalb ich die gesamte Fahrt von der Bibliothek bis hier her diesen Plan immer tiefer in den Mülleimer geschoben hatte.
Nur, dass mir auch nichts anderes eingefallen war – also musste ich mich vor Ryan offenbaren, dass ich nicht mehr hinter Farmacia stand und konnte nur hoffen, dass er mir helfen würde.
„Adriana – ich habe einen Vertrag mit Farmacia", als Ryan das sagte rutschte mir das Herz in die Hose. Ich stockte, auch wenn ich weiterhin versuchte meine Miene entspannt zu lassen. Aber ich hatte mich schon längst entblößt, also blickte ich ihn doch hilfesuchend und flehend an.
Als sich unsere Blicke trafen, versteifte auch er sich einen Moment, bevor er weitersprach: „Okay, sagen wir mal, der Vertrag betrifft eigentlich die Bezahlung von Aufträgen, die ich von Farmacia bekomme. Da du jedoch nicht im Namen von Farmacia zu mir gekommen bist, können wir diese kleine persönliche Angelegenheit zwischen uns durch eine Abmachung regeln."
„Danke," presste ich erleichtert aus, „ich werde dich auch bezahlen." Er nickte knapp.
Dann stand er auf, ging zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf seinen Gaming-Stuhl nieder. Auf dem Schreibtisch waren mehrere Monitore aufgebaut. Er drückte mir einen Laptop in die Hand und sagte: „Lass uns anfangen."
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