40. Wings


♪ Flight of Icarus – Iron Maiden


N I A L L


Bis neun Uhr abends saß ich gemeinsam mit Anne und ihren beiden Kollegen im Büro der Kanzlei. Mir rauchte der Kopf von all dem Geschwafel und wenn Anne nicht hin und wieder einiges erklärt hat, dass auch ich, der kein Studium der Rechtswissenschaften absolviert hatte, verstand, dann wäre ich wohl schlichtweg irgendwann schnarchend am Tisch eingenickt.

Da die drei Anwälte ganze Arbeit leisteten, hielt ich zum Schluss ein Papierbündel in der Hand, das ganz nach meinen Wünschen angefertigt worden war. Anne besaß die Gabe, die fünfundzwanzig Seiten mit nur wenigen Sätzen zusammenzufassen und dafür war ich ihr überaus dankbar.

Nachdem ihre beiden Kollegen sich verabschiedet hatten, wandte ich mich an Harrys Mutter: „Ich danke dir für alles, das kann ich nie wieder gutmachen."

Lächelnd erwiderte sie: „Es ist keine Garantie, dass es klappt und du musst dich beeilen, die Zeit drängt sehr."

„Ich weiß."

Vor einigen Stunden hatte ich die Nachricht erhalten, dass ich am Freitag nach Irland fliegen würde, um dort als der neue Inhaber der Devine Company vorgestellt zu werden. Heute war Dienstag und demnach allerhöchste Eile geboten.

„Ich sollte mich gleich morgen früh auf den Weg machen, dann bin ich am späten Nachmittag dort", sinnierte ich, aber Anne brachte sofort einen Einwand.

„Dann wirst du aber nicht vor Donnerstag zurück sein und das ist zu spät, Niall. Du musst fliegen, es geht nicht anders."

„Fliegen?" Ich schluckte hart und sofort schoss mein Puls in die Höhe. Ich wollte nicht fliegen, ich hasste es so sehr, aber mir würde wohl oder übel nichts anderes übrigbleiben. Allerdings war ich nicht gewillt, die Reise in einem stählernen Ungetüm alleine anzutreten, das würde ich nicht überleben.

„Ich muss jemanden finden, der mich bemuttert", murmelte ich vor mich hin und hörte Anne im selben Moment sagen: „Ich glaube, Harry hat Zeit. Soweit ich weiß, steht sein nächstes Bewerbungsgespräch erst übermorgen an."

„Dann hoffen wir mal, dass wir nicht abstürzen", entfuhr es mir sarkastisch, während ich das funkelnagelneue Handy zückte, das der UPS Bote gestern bei mir abgeliefert hatte.

Dass ich meinen besten Freund zu später Stunde anrief, war nichts Außergewöhnliches und von daher wurde ich ganz normal begrüßt: „Hallo Niall, was geht?"

Ohne Umschweife kam ich zur Sache: „Kannst du mit mir morgen nach Cork fliegen?"

Harry fragte nicht weshalb, sondern sagte prompt zu: „Natürlich, ich werde dich da nicht alleine lassen."

Innerlich atmete ich auf, obwohl es trotz Begleitung immer noch schlimm für mich werden würde. Seit dem Unfall meines Vaters hatte ich noch eine zusätzliche Abneigung gegen das Fliegen entwickelt, die einfach tief in mir drin steckte.

„Um welche Uhrzeit fliegen wir denn?"

„Das checke ich gleich, ich lasse dir die Daten zukommen und buche dein Ticket gleich mit", ließ ich meinen besten Freund wissen.

Mittlerweile zeigte die Uhr fast halb zehn und ich war wirklich total geschafft. Trotzdem buchte ich die Flüge noch in Annes Kanzlei mit dem Handy, während sie ihre Sachen zusammenräumte.

Der Flug der irischen Airline sollte um 9:45 Uhr in London starten und um 11:10 Uhr in Cork landen. Der Rückflug war für acht Uhr abends angesetzt und sollte um 21:20 Uhr in London landen. Nachdem ich Harry die Daten per Whatsapp geschickt hatte, verabschiedete ich mich von Anne und dankte ihr nochmals für alles.

Schnaufend ließ ich mich auf dem Fahrersitz des Wagens nieder, um Sekunden später den Motor zu starten. Zuhause kam ich recht schnell an, da der Verkehr nicht allzu schlimm war und eigentlich wollte ich direkt schlafen, aber da machte mein Gehirn nicht mit.

Kaum lag ich im Bett, spielte sich ein unaufhaltsamer Film in meinem Kopf ab. Ständig dachte ich an den Flug, sah uns schon abstürzen, wie meinen Vater mit seiner Hupfdohle, wie ich die Cessna immer nannte, und stellte schließlich fluchend den Fernseher an. Das hätte ich besser bleiben lassen sollen, denn gerade wurden die Nachrichten gesendet, die von einer Flugzeugkatastrophe in Kolumbien berichteten.

Wie gebannt starrte ich auf den Bildschirm, eine Gänsehaut bereitete sich auf meinem kompletten Körper aus, als ich das Wrack sah und ich begann zu zittern. Scheiße! Ausgerechnet jetzt musste so etwas passieren. Hätte das nicht noch eine Woche warten können? Jetzt mutierte ich zum reinsten Nervenbündel.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich den morgigen Flug überleben sollte und wenn die Sache nicht so dringlich gewesen wäre, hätte ich die ganze Aktion sicher abgeblasen. So blieb mir jedoch keine andere Alternative.

Nach fünf Minuten Trauma schaltete ich den Fernseher wieder aus und lehnte mich völlig fertig im Kissen zurück. Schweiß stand auf meiner Stirn und mein Herz pumpte wie verrückt. Was sollte das erst morgen werden?

Um mich zu beruhigen, stand ich auf und goss mir einen Whiskey ein, den ich in einem Zug hinunterkippte. Anschließend legte ich mich wieder ins Bett und erneut fuhren meine Gedanken Karussell. Dieses Mal richtete sich der Fokus jedoch auf Heather.

Seit unserer Begegnung auf dem Bahnhof hatte ich sie nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört. Das machte mich unendlich traurig, denn meine Gefühle ihr gegenüber waren noch genauso stark. Ich hatte keine Ahnung, wie unser Zusammentreffen am Freitag ablaufen würde und musste mich einfach überraschen lassen. In Gavin Whites E-Mail stand schwarz auf weiß, dass Heather mich nach Irland begleiten sollte und ich hoffte nicht, dass sich daran noch etwas änderte. Und plötzlich ergriff erneut die Angst von mir Besitz. Ich würde am Freitag ebenfalls in ein Flugzeug steigen müssen. Das war einfach nicht meine Woche und darum blendete ich den Freitag erstmal rigoros aus. Leider gelang mir das nur sehr bedingt, denn ich bekam plötzlich einen Einfall, den ich unbedingt morgen früh in die Tat umsetzen musste.

Irgendwann schlief ich ein und als der Wecker mich am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlaf holte, schreckte ich prompt hoch.

„Auf in den Kampf", murmelte ich vor mich hin, bevor ich die Beine aus dem Bett schwang. Es war noch dunkel draußen und ich nicht motiviert, auch nur einen Bissen zu essen. Selbst auf den Kaffee verzichtete ich, denn ich wollte mit leeren Magen in das Flugzeug steigen.

Duschen, anziehen, Unterlagen in den Aktenkoffer packen, all das geschah mechanisch. Zwischendurch checkte ich mein Handy, um die Wetterverhältnisse in Cork zu erfahren. Natürlich, es sollte windig sein, was konnte man auch anderes von Irland erwarten? Sicher würde die Landung, und vielleicht auch der Flug, zu einem Desaster für mich werden.

Da ich mit Harry direkt am Flughafen verabredet war, nahm ich mir ein Taxi und war einfach nur froh, als wir das Ziel erreichten. Mein bester Freund erwartete mich in der Halle, vor den Schaltern der Fluggesellschaft. Er trug einen kleinen Rucksack in seiner Hand und da wir beide nur mit Handgepäck reisten und bereits eingecheckt waren, liefen wir, nach einer Begrüßung, ohne Umweg in Richtung der Sicherheitskontrollen. Ich zückte meinen Ausweis und zeigte das Flugticket vor, das sich auf meinem Handy befand. Harry tat es mir gleich und nachdem wir durch die Sicherheitskontrolle durch waren, gönnte er sich einen Kaffee.

„Willst du auch einen, Niall? Ich gebe einen aus."

„Nein, danke. Ich kotze auch so gleich", erwiderte ich ungerührt.

„Du siehst auch echt blass um die Nase aus", merkte mein Freund an, worauf ich nur mit einem abgrundtiefen Seufzen antwortete.

Langsam schlenderten wir zum Gate und je näher wir diesem kamen, desto mulmiger wurde mir zumute. Wir hatten noch gut zwanzig Minuten bis zum Boarding und ich nutzte die Zeit, einen Anruf zu tätigen. Dass Harry dabei zuhören konnte, interessierte mich nicht im Mindesten, denn wir hatten keine Geheimnisse voreinander.

„Guten Morgen, hier spricht Niall Horan. Ich hätte da ein sehr wichtiges Anliegen."

Das Gespräch dauerte fünf Minuten, dann war alles geklärt und ich hatte noch Zeit genug, die Toiletten aufzusuchen. Während des Flugs wollte ich nicht unbedingt aufstehen müssen, vermutlich würde ich kollabieren, wenn ich Anstalten machte, mich zu erheben und durch den Gang zu laufen.

Bevor ich die Waschräume wieder verließ, spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und lief dann mit schnellen Schritten zu Harry, der inzwischen seinen Kaffee ausgetrunken sowie einen Muffin verspeist hatte. Keine Sekunde zu früh, denn das Boarding begann innerhalb der nächsten Minute.

Harry war so nett, den Fensterplatz zu nehmen, während ich den mittleren Sitz belegte. Der Platz neben mir blieb frei und nachdem ich mich angeschnallt hatte, schickte ich ein stummes Stoßgebet in den Himmel.

„Keine Sorge, Niall, ich bin bei dir." Umsichtig griff Harry nach meiner Hand und ließ diese auch nicht los, als das Flugzeug sich in Bewegung setzte. Mit trockener Kehle beobachtete ich, wie der Flieger zur Startposition rollte und nachdem er diese eingenommen hatte, vernahm ich eine Stimme: „Cabin Crew ready for takeoff."

Jetzt gab es kein Zurück mehr und mein inneres Desaster begann.

Fest kniff ich die Augenlider zusammen, versuchte gleichmäßig zu atmen und spürte, wie Harry meine Hand drückte. Himmel, auf was hatte ich mich hier eingelassen? Ich wurde in den Sitz gepresst, der Vogel gewann recht schnell an Geschwindigkeit und kurze Zeit später verspürte ich ein flaues Gefühl im Magen. Wir hatten den Bodenkontakt verloren und befanden uns in der Luft.

„Gleich ist es vorbei, Niall", hörte ich Harry flüstern.

„Ja, gleich ist es vorbei, gleich stürzen wir ab", murmelte ich sarkastisch, während ich spürte, wie sich kleine Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.

Ich widerstand der Versuchung, aus dem Fenster zu schauen, sondern konzentrierte mich einzig und alleine darauf, das Würgegefühl in meiner Kehle zu unterdrücken. Mir war total schwindelig und zu allem Überfluss rollte nun die Stewardess mit dem Versorgungswagen durch den Gang. Harry bestellte eine Cola und ich lehnte dankend alles ab.

Während mein Freund die koffeinhaltige Flüssigkeit abkippte, lauschte ich nach jedem Geräusch, das mir komisch vorkam. Klapperte da nicht irgendwas? War das normal? Niemand schien sich daran zu stören, doch ich rastete innerlich fast aus.

Waren die Tragflächen auch in Ordnung, oder kam es mir nur so vor, als würden diese komisch aussehen? Zur Sicherheit kontrollierte ich, ob ich den Gurt auch fest genug angelegt hatte und zurrte nochmals an dem Ding.

Harry hielt derweil noch immer meine Hand, was mit Sicherheit ziemlich komisch aussah. Vermutlich wirkten wir wie ein schwules Pärchen in den Flitterwochen und dieser Eindruck verstärkte sich, als er meine Stirn mit einem Taschentuch abtupfte. Eigentlich war Harry die perfekte Krankenschwester, vielleicht sollte er den Beruf wechseln.

Es wurde immer schwieriger, den Würgereflex unter Kontrolle zu behalten und als das Flugzeug sich im Landeanflug befand, griff ich sicherheitshalber nach der Kotztüte.

„Niall, alles klar?", vernahm ich Harrys Stimme.

„Nein", presste ich mit letzter Kraft hervor und dann erleichterte ich mich prompt in der Tüte, die ich über Harrys Schoß hielt. Zum Glück ging nichts daneben, aber mein Freund guckte schon etwas irritiert drein, als ich den Kopf wieder hob, um zu verkünden: „Endlich ist die Scheiße draußen."

Die nette Stewardess nahm mir die Tüte ab, sodass ich beide Hände frei hatte, als wir tiefer nach unten sackten. Es war verdammt windig und der Vogel schlingerte leicht, als er unten aufkam. Aber wir hatten wieder Bodenkontakt und das war für mich das Wichtigste.

Der Rest war ein Kinderspiel.

Warten, bis wir die endgültige Parkposition erreicht hatten, aussteigen und nichts wie weg in Richtung Autovermietung. Harry wollte sich allen Ernstes als Fahrer eintragen lassen, aber ich wehrte energisch ab: „Ich bin in der Lage dazu, ein Fahrzeug zu steuern, auch wenn ich im Flugzeug gerade meinen Magen entleert habe."

„Wenn du meinst", seufzte er und quetsche sich wenig später auf den Beifahrersitz des Wagens.

Es dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, da hatten wir das Firmengelände erreicht. Nachdem ich das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte, warf ich Harry einen Blick zu. „Es tut mir ja leid, aber ich kann dich nicht mit hineinnehmen. Du musst dir die Zeit also anderweitig vertreiben."

Harry schmunzelte leicht. „Keine Sorge, ich bin beschäftigt." Nach diesen Worten begann er in seinem Rucksack zu wühlen und holte dort ein grünes Wollknäuel, einschließlich einem Paar Stricknadeln hervor. Mit weitaufgerissenen Augen betrachtete ich, wie er tatsächlich anfing die Nadeln zu bewegen und dabei den Faden geschickt in den Fingern hielt.

„Du kannst stricken?" Völlig entgeistert starrte ich ihn an, worauf ein glucksender Laut aus seiner Kehle kam.

„Ja, stell' dir vor, ich besuche seit einiger Zeit einen Strickkurs. Allerdings weiß Anni das nicht, denn das wird ein Schal, den ich ihr zu Weihnachten schenken möchte. Ich erzähle ihr immer, dass ich den Golfclub besuche, wenn der Kurs stattfindet und ich denke in diesem Fall geht eine Notlüge mehr als klar."

Mir blieb glatt die Spucke weg, Harry war wirklich immer für eine Überraschung gut und im Falle der Notlüge stimmte ich ihm zu.

„Also, viel Spaß beim Stricken", sprach ich, als ich nach dem Aktenkoffer griff, um kurz darauf den Wagen zu verlassen.

„Viel Glück, Niall", rief Harry mir hinterher. Das konnte ich echt gebrauchen.

~~~

Als ich an diesem Abend in das Flugzeug stieg, das uns wieder zurück nach London bringen würde, hatte ich nicht weniger als vier Whiskey und zwei Bier intus, während Harry ein gutes Stück beim Stricken vorangekommen war. Alkohol machte mich ruhig und schläfrig, sodass ich vom Start schon fast nichts mehr mitbekam. Wie ein Baby döste ich vor mich hin und Harry musste mich sogar wachrütteln, nachdem wir gelandet waren.

„Aufstehen, Niall, wir sind zuhause."

„Gott sei Dank", murmelte ich und wünschte mir, geradewegs ins Bett fallen zu können. Allerdings hatte ich vorher noch etwas zu erledigen.

Wir nahmen ein Taxi, das uns zur Kanzlei von Harrys Mutter brachte. Die Ärmste schob wegen mir heute Überstunden aber das bekam sie auch gut bezahlt.

„Wundervoll, Niall, dann hat also alles geklappt", sprach sie lächelnd, als ich ihr die Papiere auf den Tisch legte.

„Könnte man so sagen."

Anne ging alles durch, nickte zufrieden und versprach, dass sie morgen Nachmittag alles fertig haben würde.

„Du kannst es gegen halb fünf abholen, Niall."

„Danke, das ist super."

Nachdem ich mich verabschiedet hatte, bot Anne an, mich nach Hause zu fahren und aufgrund meiner Müdigkeit stimmte ich zu. Auch Harry stieg in den Wagen. Er gesellte sich zu mir auf die Rückbank und richtete eine Frage an mich: „Wer begleitet dich denn am Freitag nach Cork?"

Ich spürte, wie mein Puls hemmungslos beschleunigte, als ich ihren Namen aussprach: „Heather."

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Hey meine Lieben, pünktlich zum Wochenende präsentiere ich das neue Kapitel. Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen.

Wer von euch leidet auch unter Flugangst wie der arme Niall? Ich muss gestehen, ich habe ein bisschen Flugangst, aber lange nicht so schlimm wie er.

Was denkt ihr wird passieren, wenn Niall und Heather sich über den Weg laufen? Und was hat Niall in Irland wohl erledigt? Und wem galt der Anruf?

Ich freue mich über euer Feedback und hoffe, dass ihr euch noch immer gut unterhalten fühlt. Danke an alle, die voten und kommentieren.

LG, Ambi xxx

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