70. „Ich hätte nie gedacht, dass du kein Herz hast."
J A M I E
Schlendernd lief er zu mir und setzte sich neben mich. Er passte hier nicht rein. Dieser ganze Kurs war gefüllt mit Leuten, die der Meinung waren, echte Probleme zu haben und machten sich damit wichtig. Sie lebten in einer Welt, in der es nur um den Ruf ging. Justin hingegen wirkte so... wirklich. Er scherte sich einen Dreck darum, was andere über ihn dachten. Sein Leben bestand daraus, pausenlos um dieses zu kämpfen. Seine Probleme waren real. Es war komisch, ihn in meiner Umgebung zu sehen. So musste er sich bestimmt nie gefühlt haben. Ich hatte schon von Anfang an sein Leben betreten. Ich hatte ihn quasi so kennengelernt, aber diese Schule hier, sie gehörte mir. Das hier waren meine Leute, meine Freunde. Sie gehörten zu mir und deswegen war es ungewohnt, ihn zu sehen. Und doch sehnte sich jede Faser meines Körpers nach seiner Nähe, nach ihm.
Wie lange waren wir schon getrennt? Zwei Tage vielleicht? Es kam mir jeden Falls wie eine Ewigkeit vor. Wenn du den Kontakt zu einem Menschen abbrichst, der dir etwas bedeutet, sei es wegen Streit oder einer gescheiterten Romanze, kommt er dir plötzlich unnahbar und unerreichbar vor. So war es auch bei Amber. Sie kam mir fast schon fremd vor, nur weil ich keine Chance hatte sie wirklich zu erreichen. Es war verrückt. Aber bei Justin war es trotzdem noch anders, als bei Amber. Es kam mir so vor, als erinnerte er sich nicht mehr an all die Momente, die mir so viel bedeutet haben. Als hätte er seine Gefühle ausgestellt. Auf irgendeine Weise verwandelte er sich wieder in den Justin Bieber zurück, den ich in seinem Haus kennengelernt hatte. Er hatte sich früher wie ein Arschloch benommen, weil er mich mochte, aber er wusste, dass er mich nicht mehr sehen konnte. War es vielleicht diesmal genau so? Benahm er sich so, weil er mich auf Abstand halten wollte? Aber wieso? Jason hatte gesagt, er wirkte glücklich in meiner Nähe, wieso wollte er das zwischen uns dann beenden? Ich verstand es einfach nicht. Ich verstand ihn nicht.
Nach der Stunde standen alle auf und stürmten heraus. Nur Justin und ich nicht. Jetzt waren wir allein. Nicht mal die Lehrerin war noch hier. Da Justin hinter mir lief, schloss ich die Tür von innen und drehte mich zu ihm um.
„Was soll der Scheiß?", beschwerte er sich sofort und sah mich gereizt an.
„Ich... Ich will heute zum Frauenarzt und wollte fragen, ob du vielleicht mit willst", erklärte ich leise, etwas zu leise. Ich klang ungewollt total unsicher und eingeschüchtert.
„Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt klar genug gemacht", erwiderte er monoton.
„Super, danke", spuckte ich wütend und sah ihn zerknirscht an. Wie konnte er so ein Arschloch sein? Wie konnte er sich denn so benehmen?
„Ruf mich an, wenn du Gewissheit hast", verlangte er unbekümmert, doch ich sah ihn nur verächtlich an.
„Nein", entgegnete ich stur. Humorlos lachte Justin auf und sah mich amüsiert an.
„Ich habe ein Recht darauf, es zu wissen", spottete er. Ich schnaubte.
„Auf einmal interessiert es dich?", konterte ich verständnislos.
„Hör auf mit dem Spielchen! Ich will nur wissen, ob wir ein Kind kriegen, verdammt!", bellte er.
„Wir? Du hattest die Chance auf dieses Wir. Aber du hast selbst gesagt, dass es nicht dein Problem ist", sagte ich gekränkt und verschränkte die Arme vor der Brust. Und plötzlich wurde die Wut durch Enttäuschung und Trauer ersetzt.
„Weißt du, ich wusste zwar, dass du ein Arschloch bist, aber ich hätte nie gedacht, dass du kein Herz hast", wisperte ich mit brüchiger Stimme. Justins Gesichtsausdruck wurde weicher und ihm schien es sogar leid zu tun, aber er wollte es nicht zeigen. Er versuchte es zu verstecken.
„Ich weiß, was du hier abziehst. Es ist wie, als du mich kennengelernt hast. Du willst mich auf Abstand halten", fuhr ich fort und nahm jede Bewegung in seinem Gesicht war. Er stand nah vor mir, sodass ich den Eindruck hatte, seinen Herzschlag zu hören, jedoch nicht so nah, dass ich seinen Atem spürte.
„Klappt es wenigstens?", hauchte Justin und blickte für den Bruchteil einer Sekunde auf meine Lippen. Langsam schüttelte ich den Kopf und trat einen Schritt vor. Starr sah mir Justin in die Augen und schluckte schwer.
„Nein", raunte ich ihm zu und trat noch einen Schritt näher. Gequält schloss er die Augen und atmete in tiefen Zügen, die ich nun auf meiner Haut spürte. Das Heben und Senken seiner Brust beruhigte mich.
Vorsichtig beugte ich mich noch weiter nach vorne und legte meine Lippen federleicht auf seine. Jetzt war ich mir sicher, sein Herz schlagen zu hören. Vorsichtig bewegte ich meine Lippen und küsste ihn sanft, während ich meine Augen schloss. Seine Lippen waren ein Spalt geöffnet, doch er bewegte sie nicht, aber ich wusste, dass er es genoss. So wie jetzt hatten wir uns noch nie geküsst. Nichts sexuelles, keine Leidenschaft, nur Gefühl. Es brachte mich um den Verstand und gab mir Hoffnung, ihn zurück zu gewinnen. Ich liebte ihn. Ich wollte ihn. Vorsichtig legte ich ihm meine Arme leicht an seinen Nacken. Kaum merklich bewegte er seine Lippen nun auch und umfasste meine Hüfte. Ich hatte ihn in meinem Bann. Das war genau das, was ich bewirken wollte.
„Was machst du nur mit mir", flüsterte er immer noch so nah, dass seine Lippen meine beim Reden streiften.
„Komm zu mir zurück", wisperte ich. Plötzlich ging er mehrere Schritte zurück und schüttelte energisch den Kopf.
„Nein", sagte er mit fester Stimme. Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen. Ich hatte ihn. Ich hätte die Klappe halten sollen.
Ohne mich ein weiteres Mal anzusehen lief er an mir vorbei und verließ das Klassenzimmer. Enttäuscht schloss ich die Augen und fuhr mir durchs Gesicht. Ich hatte es vermasselt. Aber was war sein Problem, verdammt?
Langsam lief ich auf die Tür zu und verließ den Raum ebenfalls, doch was ich sah, war wie ein Stich in meinem Herzen. Justin küsste Ashley. Nein, er küsste sie nicht, er machte mit ihr rum. Ich war höchstens zwei Minuten länger als er im Klassenzimmer gewesen. Was wollte er damit bewirken? Dass ich mich mies fühlte? Oder wollte er mir zeigen, dass er mich nicht brauchte, dass er mich nicht zurück wollte? Ziel erreicht. Ich fühlte mich mies. Aber nicht so mies, dass es mich auffraß. Ich war einfach enttäuscht, denn ich wusste, dass er mir damit nur eins auswischen wollte.
Ashley war wie Chelsea, er mochte diese Art von Mädchen nicht, das wusste ich, also war es klar, dass es ihm nichts bedeutete. Genau wie der Sex mit Chelsea. Es ging nicht um die Person, es ging um die Aktivität. Das war weniger schlimm, aber dennoch unverzeihlich, da es sein Ziel war, mich zu verletzen. Er wollte mir weh tun, das musste ich mir nicht ansehen. Er war zwar hier, um mich zu beschützen, aber das hieß nicht, dass ich ihm bei so einer Scheiße zugucken musste.
Schnell lief ich den Gang entlang und blieb an der Mädchentoilette stehen. Letztes Mal, als ich da war, hat Luke mich bedroht, also wäre es nicht schlau, da wieder hinein zu gehen. Ich sollte irgendwo bleiben, wo viele Leute waren. Also hier im Gang.
Plötzlich spürte ich etwas Nasses in meinem Gesicht. Besser gesagt, an meiner Wange. Verwirrt wischte ich es mit meiner Hand weg. Scheiße, wieso weinte ich? Ich sollte so etwas nicht an mich heran lassen.
„Jamie?", fragte plötzlich jemand, der vor mir stand. Ich sah auf und erblickte Austin.
„Ja?", erwiderte ich kleinlaut.
„Alles okay?", wollte er wissen.
„Ja", murmelte ich und lief an ihm vorbei.
Ich setzte mich gerade an meinen Platz in Chemie, als auch Justin den Raum betrat. Er wollte gerade zu mir kommen, als er von der Lehrerin aufgehalten wurde. Genervt verdrehte er die Augen und redete mit ihr. Da heute mehrere Schüler nicht da waren, hatte er eine größere Auswahl an Sitzplätzen und setzte sich hinter mich. Der Unterricht begann.
„Verdammt, Jamie, ich bin hier, um dich zu beschützen. Da kannst du nicht einfach abhauen", motzte er verärgert und im Flüsterton. Wütend biss ich die Zähne aufeinander.
„Interessant was du als 'beschützen' bezeichnest. Jemandem das Gesicht abzulecken, sehe ich nicht als beschützen", zischte ich, während ich mich nach hinten lehnte, den Kopf jedoch nicht drehte.
„Jetzt reg dich nicht auf, meine Fresse", knurrte Justin und lehnte sich wieder zurück. Ich haute meinen Stift auf den Tisch und starte wütend nach vorn.
-
Jetzt hatte ich eine Freistunde und beschloss Taylor und den Jungs beim Sport zuzusehen. Also ließ ich Justin hinterher dackeln, während ich den Gang entlang lief. Er schien schon total genervt zu sein, obwohl es erst die dritte Stunde war. Wie wollte er es länger als eine Woche hier aushalten?
Am Sportplatz angekommen, setzte ich mich in die erste Reihe der Tribüne. Genervt kam Justin hinterher und setzte sich neben mich.
„Wenn ich dir schon hinter her rennen muss, können wir wenigstens neben einander laufen, damit ich mich nicht wie dein Bodyguard fühle", murmelte er und ließ seine Tasche auf den Boden vor sich fallen.
„Bist du nicht irgendwie mein Bodyguard?", schmunzelte ich.
„Ja, aber ich muss mich ja nicht wie einer fühlen", erwiderte Justin ebenfalls schmunzelnd. Ich lachte leise und blickte zu Taylor und den Jungs, die gerade Football-Training hatten.
„Wo wohnst du jetzt? Bist du bei deiner Mutter und Jack?", wollte Justin kritisch wissen.
„Nein, ich wohne bei Taylor", ließ ich ihn wissen.
„Und Taylor ist...?", murmelte er fragend und sah mich leicht verwirrt an.
„Er." Ich deutete auf Taylor und sah dann zu Justin.
„Der Typ mit dem ich vorhin geredet hab'?", hakte er nach.
„Ja, genau der. Wieso interessiert dich das eigentlich?", fragte ich leicht vorwurfsvoll. Justin seufzte und verdrehte kaum merklich die Augen, doch ich sah es.
„Ich will weder, dass du zurück zu Jack gehst, noch dass du irgendwo auf der Straße schläfst", erklärte er und sah mich warm an.
„Glaub mir, wenn ich keinen Schlafplatz oder nur die Möglichkeit bei meiner Mom zu schlafen hätte, wärst du mich nicht so schnell losgeworden", spottete ich und stützte meine Arme auf meine Oberschenkel.
„Du kannst wieder bei mir einziehen, wenn es bei Taylor zu... eng wird", schlug Justin nuschelnd vor und spielte an seiner Hose rum. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte ich ihn von der Seite an. Was hatte er eben gesagt?
„Ach Scheiße. Vergiss was ich gesagt habe", sagte er schnell und legte seine Arme auf seinen Kopf. War ja klar, dass er es nicht ernst gemeint hatte.
„Jo, Jamie", rief Taylor und joggte zu uns. Kurz nickte er Justin zu, ehe er sich an mich wandte. „Weil bald ja das Spiel ist, will der Coach, dass wir länger bleiben. Also müsstest du dann warten. Ist das okay?"
„Wie lang denn?", jammerte ich und sah ihn nicht gerade erfreut an, doch bevor er antworten konnte, redete Justin dazwischen.
„Ich kann dich fahren", meinte er fast schon begeistert.
„Cool, Mann, danke", sagte Taylor, schlug bei ihm ein und lief wieder davon.
„Du weißt doch, wie das enden wird. Zuerst reden wir normal, verstehen uns gut und dann fangen wir an, uns zu streiten", murmelte ich und spielte, wie er gerade auch, an meiner Hose herum.
„Nein, heute nicht", erwiderte Justin überzeugt.
„Tut mir leid, dass ich so ein Arsch war", nuschelte er plötzlich und drehte seinen Kopf von mir weg. Hatte er sich gerade bei mir entschuldigt? Das hieß, ihm tat es leid. Aber das reichte mir nicht. Ein 'Tut mir leid, dass ich so ein Arsch war' reichte mir noch lang nicht.
„Du könntest dich tausendmal entschuldigen und das würde nichts besser machen", wisperte ich gekränkt.
„Ich weiß", seufzte Justin und ließ den Kopf hängen.
Da die nächste Stunde schon bald begann, kam schon die andere Klasse auf den Sportplatz, weshalb ich und Justin aufstanden und gerade gehen wollten. Ich lief vor ihm, da der Weg ziemlich eng war, doch noch bevor wir das Gebäude betraten, hörte ich plötzlich einen dumpfen Knall hinter mir und fuhr herum. Justin lag auf dem Boden und Brad stand mit erhobener Faust vor ihm.
„Du knutscht mit meiner Freundin?", brüllte er und wollte erneut auf ihn einschlagen, doch Justin hob seinen Fuß und trat ihm in den Schritt. Stöhnend taumelte Brad zurück, fing sich jedoch schnell wieder und lief auf Justin zu, nachdem er wider stand.
„Verdammte Scheiße", zischte Justin und wich aus, als Brad wieder zuschlug, doch er ließ nicht locker.
Beim dritten Schlag daneben, griff Justin Brads Faust und schlug ihn mit der anderen Hand ins Gesicht. Er hatte es anscheinend schon ziemlich oft gemacht, denn es sah fast schon professionell aus. Brad schrie auf und stieß mit dem Rücken gegen das Geländer. Justin schlug erneut zu, woraufhin Brad über das Geländer fiel und hart auf dem Boden aufkam. Kurz bevor Justin über's Geländer springen konnte, hielt ich ihn auf, indem ich an sein Handgelenk fasste.
„Man schlägt niemanden, der schon am Boden ist", sagte ich monoton und sah ihn ausdruckslos an. Seufzend drehte sich Justin einfach um und lief ins Gebäude hinein.
„Das Training von Taylor fällt aus. Er fährt mich", erzählte ich, als wir nach der letzten Stunde zu Ausgang liefen.
Am Anfang fand ich es ja nicht so gut, dass Justin auf mich aufpassen sollte, aber jetzt fand ich es umso besser. Wir hatten uns quasi versöhnt. Also nicht wirklich, aber wir verstanden uns eigentlich wieder besser. Aber wie lange würde das so sein? War es bis jetzt nicht eigentlich immer so gewesen? Wir hatten uns gestritten, mal schlimm, mal weniger schlimm, dann kam die große Versöhnung und dann fing alles wieder von vorne an. Manchmal fragte ich mich, ob wir vielleicht einfach nicht für einander geschaffen waren und getrennte Wege gehen sollten, aber dann fiel mir wieder ein, wie sehr ich ihn liebte. Es war mir egal, wie oft wir stritten oder was alles vorgefallen war, denn ich liebte ihn. Ich liebte ihn mehr als alles andere.
„Okay", erwiderte er und tat so, als wäre es ihm egal.
Wortlos liefen wir zum Ausgang. Sofort lief ich auf Taylors Wagen zu und hatte erwartet, dass Justin mir folgen würde, um sich von mir zu verabschieden, doch er lief einfach zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr los.
„Was läuft eigentlich zwischen euch?", fragte Taylor verständnislos.
„Ich habe keine Ahnung", knirschte ich.
„Warte. Ist das der, wegen dem du geweint hast? Ist das dein Ex?", wollte er fassungslos wissen.
„Hm", brummte ich.
„Oh."
Nervös lief ich die Treppe hinunter und richtete meine Tasche. Taylor wollte mich zum Frauenarzt fahren, doch als ich die Tür öffnete, sah ich jemanden, den ich nicht erwartet hatte.
„Justin?", fragte ich verwirrt. Er lehnte an seinem Wagen und sah mich lächelnd an.
„Wir wollten doch zum Frauenarzt", sagte er und entblößte seine weißen Zähne.
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