69. „Justin McCann."

J A M I E

Seine nun wieder flache Hand hob sich auf meine Kopfhöhe und holte zum Schlag aus.

Erschrocken kniff ich meine Augen zusammen und wartete auf den kommenden Schmerz. Doch er kam nicht. Vorsichtig öffnete ich meine Augen wieder und sah, dass Justins Hand nicht mal 5 Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war.

Er hatte mich nicht geschlagen. Aber er hatte es vor gehabt.

Vor Schreck hatten meine Knie begonnen zu zittern und mein Hals war zugeschnürt. Mit großen Augen starrte ich ihn an und auch Justin schien nicht zu glauben, was er gerade fast getan hätte.

Langsam ließ er die Hand wieder sinken und entfernte sich ein paar Schritte von mir. So schnell ich konnte rannte ich aus dem Zimmer. An der Haustür angekommen blieb ich stehen, setzte mich schließlich auf den Boden und lehnte mich gegen die Wand.

Hatte ich ihn zu stark provoziert oder hatte er überreagiert? Ich meine, er hätte mich verdammt noch mal fast geschlagen. Hätte ich es verdient? Hätte er das Recht gehabt, mich zu schlagen? Vielleicht war ich ja im Moment total am durchdrehen und wusste es ganz einfach nicht. Woher sollte ich wissen, ob sein Verhalten nicht vielleicht ganz normal war? Immerhin war ich schwanger. Ich könnte meinen Verstand verlieren ohne es zu wissen, oder nicht? Naja, was wusste ich schon? Ich war ja noch nie schwanger.

Plötzlich bekam ich eine Nachricht. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und öffnete sie. Taylor war da. Schnell schnappte ich mir meine Taschen, die immer noch hier lagen, öffnete die Tür und rannte hinaus. Sofort bemerkte ich, dass es angefangen hatte zu regnen. Taylor stand zum Glück ziemlich nah an der Haustür, weshalb ich nur knapp 10 Sekunden brauchte, um zu ihm zu gelangen.

J U S T I N

Verdammt, hatte ich sie wirklich fast geschlagen? Ich war so ein Idiot. Ich war so ein verdammter Idiot! Wütend schlug ich mir mit beiden Händen gegen den Kopf und kniff meine Augen zusammen.

„Justin?", hörte ich plötzlich. Erschrocken öffnete ich die Augen und sah Ryan in der Tür stehen.

„Ich hab etwas verdammt Dummes gemacht, Ryan", erklärte ich verzweifelt und raufte mir die Haare.

„Erzähl das jemandem, den du nicht fast umgebracht hättest", sagte Ryan monoton und ging einfach weg. Ryan, die einzige Person, die immer für mich da gewesen war.

Plötzlich spürte ich etwas in mir hochkommen. So schnell ich konnte, rannte ich zum Bad und kam gerade noch rechtzeitig, um meinen Mageninhalt im Klo zu versenken. Schweratmend würgte ich alles hoch, bis nichts mehr kam. Verdammter Alkohol.

„Scheiße", krächzte ich und stand auf. Ich wollte einfach nur noch schlafen. Doch Gott war heute wohl nicht mit mir... und schickte mir Tryson.

„Jo, Justin", rief er. Ohne ihm zu antworten, spülte ich, lief zum Waschbecken und spülte meinen Mund aus.

„Justin", widerholte Tryson genervt.

„Was", knurrte ich und drehte mich zu ihm.

„Wow, siehst du scheiße aus. Ach ja, tust du ja den ganzen Tag schon", witzelte er, doch ich sah ihn nur ausdruckslos an.

„Wir haben Caden angerufen, er ist gleich da", erklärte er. Verwirrt runzelte ich die Stirn.

„Wieso?", wollte ich wissen.

„Weil er dir einen neuen Lebenslauf schreibt und sich in Jamies Schule einhackt, damit du schon morgen dahin gehen kannst", meinte er lässig.

„Wie bitte?", presste ich zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor.

„Was genau hast du nicht verstanden?", fragte Tryson genervt.

„Ich habe gesagt, dass ich den Scheiß nicht mache", zischte ich wütend.

„Und alle anderen waren aber dafür. Hier herrscht Demokratie, Bruder", zwinkerte er provozierend. Mussten mir alle so verdammt auf die Eier gehen?

Wütend verspannten sich meine Muskeln in den Armen und die Vene am Hals trat heftig hervor. Ich ballte meine Hände so fest zur Faust, dass es schon weh tat. Tryson schien das zu bemerken, denn er ging einen Schritt nach hinten.

„Du hast echt ein Aggressionsproblem, bro", murmelte er und verschwand.

Hatte er Angst vor mir gehabt? Tryson Delago hatte Angst vor mir? Verdammt, war das geil. Er war nun mal hier nicht der Anführer. Oder er war eingeschüchtert wegen dem, was ich mit Ryan gemacht hatte.

Verdammt, ich hatte den einzigen Menschen, der immer zu mir gehalten hatte, fast umgebracht. Normalerweise gab ich einen Dreck darauf, ob andere enttäuscht von mir waren. Ich war es gewohnt, aber bei bestimmten Menschen war es einfach anders. Wie bei Ryan. Ich hatte schon so viel Scheiße gebaut und er war immer noch für mich da. Und das hatte ich auf's Spiel gesetzt, nur weil ich wütend war. Vielleicht hatte ich wirklich ein Aggressionsproblem. Nein, so war es nicht. Anscheinend provozierte man mich gerne. Die Menschen in meiner Umgebung spielten offensichtlich gerne mit dem Feuer.

Aber dass ich wieder in die Schule sollte, um auf Jamie aufzupassen? Nein, danke. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Eigentlich wollte ich ja bei ihr sein, aber ich hatte mich dazu entschlossen, den Kontakt mit ihr abzubrechen. Sie passte ganz einfach nicht hier rein, in das Ganze. Es war mein Leben, nicht ihres, und so sollte es auch bleiben, auch wenn dieser Entschluss viel zu spät kam.

Konnte ich sie überhaupt jetzt noch raushalten? Sie steckte jetzt schon so tief drin. Meine Feinde kannten sie und wollten sie entführen oder vielleicht sogar töten. Verdammte Scheiße, es war zu spät dafür, ich hatte ihr Leben bereits ruiniert.

„Jo, Justin", hörte ich schon wieder. Verdammt, ich stand ja immer noch im Bad. Schon wieder kam irgendjemand angelaufen und wollte etwas von mir. Diesmal war es Caden. Er war jetzt schon da, verdammt.

Ich wollte nicht mit Jamie in die Schule. Das wäre einfach nicht gut. Warum konnte das nicht einer der Jungs machen? Wieso ausgerechnet ich? Wollte Ryan es so? Wollte er, dass wir uns wieder vertrugen? Er sollte sich verdammt noch mal nicht in meine Beziehung einmischen. Es war meine Entscheidung, wie es mit Jamie und mir weiter gehen würde.

„Was ist?", fragte ich genervt und sah Caden mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Wir schreiben jetzt deinen Lebenslauf, also solltest du dabei sein", erklärte er. Seufzend folgte ich ihm zum Wohnzimmer und ließ mich mürrisch auf einem Sofa nieder. Ich beachtete niemanden und die anderen schienen in mir auch keine Bereicherung zu sehen. Konnte mir recht sein.

„Justin, wie sieht es in deinem Strafregister aus?", wollte Caden voller Elan wissen.

„Voll", erwiderte ich knapp und sah leicht auf, da er genau gegenüber von mir saß.

„Was genau hast du bis jetzt denn schon angestellt?", hakte er nach. Kurz überlegte ich.

„Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Diebstahl, Randalismus, Wandalismus, öffentliches Urinieren gegen ein Polizeiwagen, Ruhestörung. Dieser ganze kleinkriminelle Scheiß eben", zählte ich auf.

„Alter, warum sitzt du nicht im Knast?", fragte Caden entsetzt.

„Ich war noch minderjährig", meinte ich schulterzuckend. Ungläubig schüttelte Caden den Kopf und kratzte sich am Nacken.

„Dann schätze ich, warst du schon mal im Jugendknast?", wollte er wissen. Nachdenklich nickte ich und kaute auf meiner Unterlippe herum.

„Das ist nicht gut", murmelte Caden und seufzte.

„So werden die dich nicht so schnell aufnehmen. Das heißt, wir brauchen nicht nur einen neuen Lebenslauf, da es für die nicht schwer ist, an deinen alten zu kommen, sondern brauchen einen ganz neuen Menschen. Wir müssen deinen Nachnamen ändern", erklärte er und sah mich nachdenklich an. Ich sollte eine neue Person werden? Na super.

„Gut, schlag was vor", befahl er. Ich sollte mir einen eigenen Namen geben? Super.

„Irgendeinen normalen Namen, den man nie hinterfragen würde", fügte Caden hinzu.

„Ja ja, lass mich überlegen", murrte ich und dachte nach.

„Wie wär's mit McCann?", schlug Dan vor.

„Justin McCann", sprach Caden aus und sah mich fragend an. Gleichgültig zuckte ich die Schultern.

„McCann ist okay", murmelte ich.

„Gut, dann haben wir schon mal einen Namen. Justin McCann, siebzehn Jahre alt", sagte Caden konzentriert, während er in seinen Laptop tippte.

„Wann hast du Geburtstag?", fragte er mich.

„1. März", ließ ich ihn wissen.

„Gut. 1.3.1998."

Gelangweilt und gereizt lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Ich war so verdammt müde. Draußen schläft es sich eben nicht gut.

-

Verdammt, wir saßen schon mindestens fünf Stunden hier. Ich war schon dreimal eingeschlafen, aber natürlich wurde ich immer wieder geweckt. Die meisten hatten schon kein Bock mehr und waren abgehauen, aber ich saß hier immer noch mit Caden.

Gerade hatte ich wieder einmal meine Augen geschlossen und meine Arme vor der Brust verschränkt, doch natürlich wurde ich wieder gestört.

„Jo, McCann, so kann ich echt nichts mit dir anfangen. Geh schlafen und ich mache das allein fertig", bot er mir an. Müde stand ich auf und schlug bei ihm ein.

„Geht klar, danke Mann", murmelte ich und lief davon. Auf den schnellst möglichen Weg, lief ich in mein Zimmer und blieb ruckartig in der Tür stehen.

Hier hatte Jamie die letzte Zeit lang geschlafen. Das war ihr Zimmer gewesen. Ihr Bett. Ich hatte mich die ganze Zeit lang, in der ich im Krankenhaus war, darauf gefreut mit ihr in diesem Bett zu liegen. Ich hatte mich darauf gefreut, sie sanft in die Matratze zu drücken, während ich sie zärtlich küsste, ihr die Klamotten auszog und ihre Brust streichelte. Ich wollte gefühlvoll in sie eindringen und ihr dabei zusehen, wie sie meinen Namen stöhnte und mit mir zum Orgasmus kam.

Schnell schüttelte ich meinen Kopf und versuchte diese Gedanken zu verdrängen.

Ich streifte mir die Klamotten von den Füßen und lief langsam zum Bett, auf welches ich mich fallen ließ und in Sekundenschnelle einschlief. Doch nach viel zu kurzer Zeit wurde ich wieder geweckt.

„Justin!", hörte ich jemanden energisch sagen und rüttelte an mir. Mürrisch kniff ich die Augen zusammen und tat so, als würde ich schlafen. Anscheinend ließ man mich in Ruhe, denn der Typ, der sich wie Ryan anhörte, wurde still und hörte auf an mir zu rütteln.

Zufrieden drehte ich mich auf die andere Seite und war bereits wieder am einschlafen, doch auf einmal wurde mir ein Eimer Wasser ins Gesicht gekippt. Erschrocken riss ich die Augen auf und fuhr augenblicklich hoch. Ryan sah mich grinsend an und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du verdammter Drecksack!", zischte ich und wischte mir durchs Gesicht und durch die Haare.

„Was willst du jetzt machen, mich umbringen?", spottete Ryan und grinste noch breiter. Er wollte mich provozieren.

„Und jetzt beweg deinen Arsch aus dem Bett und geh in die Schule, du Pisser", spuckte er, drehte sich um und verließ das Zimmer.

-

Fast schon nervös sah ich den Schülern zu, wie sie das große Schulgebäude betraten. Caden hatte mich in den komplett gleichen Kursen wie Jamie eingeschrieben, also konnte ich sie immer im Auge behalten.

Seufzend stieg ich aus, schulterte meinen Rucksack und lief auf das Schulgebäude zu. Im Schulgebäude war es ohrenbetäubend laut und verdammt voll. Ich musste mich schon fast an den anderen vorbei quetschen.

Selbst ohne drauf zu achten, bemerkte ich, dass mir jeder interessierte Blicke zuwarf. Es erinnerte mich an früher. Ich wusste nicht, ob ich mehr schöne oder schlimme Erinnerungen an früher hatte. Eigentlich hatte ich ein paar meiner schönsten Momenten in der Schule, aber auch durch meinen Vater war es immer schwer gewesen, da mich niemand normal behandelte. Er hatte mir so verdammt viel kaputt gemacht und das nur wegen seiner verdammten Trinkerei. Wegen ihm war ich so, wie ich war.

Am Sekretariat angekommen, schenkte mir die Sekretärin sofort ihre Aufmerksamkeit und lächelte mich freundlich an.

„Was kann ich für Sie tun?", wollte sie wissen.

„Ich bin neu. Mein Name ist Justin McCann", erklärte ich und schob ihr die Papiere zu.

„Okay. Das sieht doch gut aus", murmelte sie, während sie sie kontrollierte. Tja, Caden machte seine Arbeit eben gut. Es war praktisch, jemanden wie ihn zu kennen.

„Gut, willkommen an der Alyrea-High", lächelte sie und übergab mir den Stundenplan, auf dem auch meine Spindnummer und der Code dafür draufstand. Kurz nickte ich ihr zu, ehe ich das Sekretariat verließ und mich umsah. Zuerst hatte ich Mathe. Sollte ich Jamie dort treffen oder wieder zum Eingang gehen, um sie zu suchen?

Seufzend richtete ich meine Cap und lief suchend umher. Am besten, ich lief zum Matheraum, damit ich sie nicht verpasste. Und da war sie. Sie sah wunderschön aus. Sie lief neben einem Jungen, den ich schon irgendwoher kannte. Aber woher? Genau! Als ich ihr damals gesagt hatte, dass wir wussten, wo Amber steckte, war dieser Junge ebenfalls da gewesen. Er hatte sie abgeholt oder so. Keine Ahnung, wie er hieß.

„Jamie!", rief ich. Sie drehte sich zu mir um und schluckte.

„Hi", sagte sie, als sie sich wieder gefangen hatte und lächelte gekünstelt.

„Justin, richtig?", fragte der Typ freundlich. Knapp nickte ich und kratzte mich unwohl am Nacken.

„Seit wann bist du auf dieser Schule?", hakte er nach.

„Seit heute", erwiderte ich. Ich hatte nicht wirklich Bock mit ihm zu reden, aber er schien zu bemerken, dass diese Situation etwas peinlich war und versuchte sie zu retten.

„Wir sollten vielleicht zu Mathe", murmelte Jamie und lief einfach davon. Irritiert folgte der Typ - er hatte sich ja nicht vorgestellt - ihr und ich war gezwungen das Gleiche zu tun.

In der Klasse blieb ich vorne stehen und wartete mit der Lehrerin darauf, dass sich alle hinsetzten.

„Wie ist dein Name?", fragte die Lehrerin.

„Justin McCann", erwiderte ich und schob meine Hände in die Hosentaschen.

„Das ist euer neuer Schüler, Justin McCann. Er ist gerade erst hier her gezogen. Seid nett", erklärte sie genervt und deutete mir, mich hinzusetzten.

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