56. „Hab keine Angst."
J A M I E
Nach zwanzig Minuten waren wir bei Justin Zuhause und stiegen aus. Justin schlenderte gemütlich zur Tür und öffnete sie.
„Tryson?", fragte ich, als er vor mir lief.
„Ja?", fragte er und drehte sich zu mir.
„Muss...muss ich mir Sorgen machen?", flüsterte ich kleinlaut. Tryson sah mich ausdruckslos an, nickte und ging weiter.
Seufzend lief ich ihm hinterher und betrat das Wohnzimmer. Von oben waren laute Rufe und Gebrülle zu hören. Ich erkannte Justins und Ryans Stimmen. Anscheinend stritten sie heftig miteinander. Ich setzte mich zu Sean auf die Couch und senkte meinen Blick.
„Er war früher drogenabhängig?", fragte ich vorsichtig. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass Justin mal ein Problem mit Drogen hatte. Das passte gar nicht zu ihm.
„Ja, es war echt krass. Weißt du, wir haben früher als Dealer angefangen und als wir Justin aufgenommen hatten, stand unser ganzer Stoff im Keller. Am Anfang hat Justin es nicht angerührt, aber die ganze Scheiße mit seinem Vater hat ihn sehr mitgenommen. Und dann hat er angefangen uns unser Zeug weg zu rauchen", erzählte Sean unbekümmert. Das war mal eine schöne Abwechslung. Alle anderen in diesem Haus erzählten mir nie sofort alles, was ich wissen wollte.
„Und ihr habt nichts unternommen?" Ich sah ihn fassungslos an und leckte mir flüchtig über die Lippen.
„Nein, erst als er zusammenbrach", erklärte er.
Ich wand den Blick ab und musste diese Informationen erst einmal auf mich wirken lassen. Er war früher zusammengebrochen durch Drogen. Das passte wirklich nicht zu ihm. Oder doch? Ach, keine Ahnung.
„Und dann?", hakte ich schluckend nach.
„Dann haben wir ihn an sein Bett festgebunden, damit er nicht mehr an unser Gras kam. Wir mussten ihn füttern und er durfte nicht allein pinkeln gehen. Das ging drei Wochen so. Es war echt hart für ihn, aber wir konnten ihn nicht in eine Entzugsklinik stecken", murmelte er. Sie hatten ihn an sein Bett fest gebunden? Für drei Wochen? Waren sie denn des Wahnsinns?
„Und was war mit seinem Vater? Ich mein, weil du gesagt hast..."
„Ja, ich weiß, was du meinst", unterbrach Sean mich und wollte gerade weiter reden, als polternde Schritte die Treppe runter kamen.
Ich lief zur Wohnzimmertür und erblickte Ryan, der nun wutentbrannt in seinem Zimmer verschwand. Ich schluckte und lief die Treppe hinauf. Würde Justin mich anschreien, wenn ich hoch zu ihm kommen würde? Mit offenen Armen würde er mich jedenfalls nicht empfangen.
Zaghaft klopfte ich an die Tür, als ich oben angekommen war, erhielt jedoch keine Antwort. Also öffnete ich die Tür und blickte hinein. Justin lag auf seinem Bett und bewegte sich nicht. Schlief er? Langsam betrat ich den Raum und näherte mich dem Bett.
„Was willst du?", hörte ich Justin plötzlich mit rauer Stimme sagen und zuckte leicht zusammen. Er hörte sich nicht sauer an. Wieso? Immerhin hatte ich ihm gedroht und war nicht wirklich nett gewesen. Aber es hatte mich einfach wütend gemacht ihn so zu sehen.
„Ich wollte nur sehen, wie es dir geht", flüsterte ich kleinlaut.
„Mir geht's super", erwiderte Justin und schien es auch so zu meinen. Ich seufzte kaum hörbar und ließ mich auf's Sofa sinken.
„Willst du nicht hier rüber kommen?", murmelte Justin mit geschlossenen Augen. Was war nur mit ihm los?
„Damit du die Schlampe vögeln kannst?", bellte ich zickig und verschränkte die Arme vor der Brust. Ja, ich nahm es ihm immer noch übel, dass er mich so genannt hat.
„Welche Schlampe?", fragte Justin verwirrt nach.
„Ich", zischte ich. Begriff er nicht, worauf ich hinaus wollte?
„Wieso bezeichnest du dich selber als Schlampe? Soweit ich weiß, bin ich der Einzige, der dich jemals gefickt hat", grinste er.
„Du hast mich als Schlampe bezeichnet", spuckte ich wütend. Hatte er etwa Gedächtnisverlust oder war er einfach nur schwer vom Begriff?
„Was? Wann?" Justin hob den Kopf und sah mich verwirrt an. Ich blinzelte ein paar mal. Verarschte er mich?
„Ist egal", meinte ich irritiert und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Also, kommst du jetzt her oder muss ich dich holen?", fragte er mich erneut. Mich holen?
„Nein", erwiderte ich nur.
„Was nein? Nein, du kommst nicht oder nein, ich muss dich nicht holen?", wollte Justin wissen.
„Beides", entgegnete ich. Er ließ seinen Kopf fallen und schloss die Augen wieder. Plötzlich ertönte lautes Donnern und Regen strömte ins Zimmer, da das Fenster ja kaputt war.
„Verdammte Scheiße!", fluchte Justin und sprang auf. So schnell er konnte, brachte er alle Sachen, die in seinem Zimmer standen, raus in den Flur und ich half ihm dabei. Wir waren bereits klitschnass, da der Wind so stark war, dass sich der Regen im ganzen Zimmer verteilte. Tausende Male rutschten wir fast aus, jedoch nur fast.
Ich suchte nach meiner Reisetasche und fand sie schließlich unter dem Baum. Schnell rannte ich dort hin und versuchte sie hervor zu ziehen, doch das Einzige, was mir diese Aktion brachte, war ein Arm voller Kratzer. Ein Blitz und erneuter Donner ließ mich zusammen zucken und plötzlich kamen mir wieder die Nachrichten in den Sinn. Ich hatte eine Warnung vor diesem Sturm im Fernsehen gesehen, es jedoch nicht ernst genommen. Um ehrlich zu sein, hatte ich wirklich große Angst vor Unwettern. Man konnte rein gar nichts gegen sie machen. Da wurde mir klar, dass wir aus dem Haus mussten.
Von draußen waren panische Schreie zu hören und ein lautes Krachen. Autos krachten zusammen, flogen fast davon. Der Himmel hatte sich komplett dunkel gefärbt und die Straßenbeleuchtung hatte ihren Geist aufgegeben.
Ich ließ meine Tasche liegen, als ich krach von unten hörte. Die Jungs brüllten laut und Justin rannte sofort runter. Ich tat es ihm gleich, doch ich war vorsichtig, darauf bedacht, nicht auszurutschen.
Als ich unten war, packte mich die Panik und das blanke Entsetzen war mir ins Gesicht geschrieben. Aus dem Wohnzimmer kam ganz klar Rauch und Seans schmerzvollen Schreie waren zu hören. Ich wollte sehen, was passiert war, doch meine Beine blieben stehen, weigerten sich, mich fort zu tragen.
„Helft ihm! Helft ihm!", brüllte jemand immer wieder. Pausenlos waren diese Worte zu hören.
Ich übernahm die Kontrolle über meinen Körper wieder und rannte ins Wohnzimmer. Sofort presste ich meine Hand auf den Mund und weitete meine Augen. Ein großer Geländewagen war durch die Vorderste Seite des Raumes gekracht und hing nun halb draußen, halb hier drinnen. Aber viel wichtiger war noch: Er brannte. Und mit Er war nicht nur der Lieferwagen gemeint.
Sean wälzte sich auf dem Boden und schrie wie am Spieß. Seine rechte Körperhälfte brannte. Es war ein Anblick, der mir das Schaudern brachte. Es war die Hölle, so etwas zu sehen. Doch ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich wusste, wie man jemandem hilft, der brennt.
So schnell ich konnte rannte ich in den Flur und dann in das erste Zimmer, das ich sah. Aus diesem nahm ich mir eine Decke und rannte zurück ins Wohnzimmer. Seans Bewegungen hatten aufgehört und seine Augen waren geschlossen. Nein, das verdiente er nicht. Er war nicht tot. Er lebte.
Ich stolperte zu ihm und hüllte ihn in die Decke ein. Es war warm. Verdammt warm. Ich hatte das Gefühl mein Gesicht würde verbrennen, doch die Flammen erloschen und Sean war gerettet.
Wieso hatte niemand etwas getan? Wieso hatten sie nur rumgeschrien und nichts unternommen? Sie hätten ihm eher helfen können. Er hätte nicht so leiden müssen.
Ich ließ mich auf meinen Hintern fallen und starrte auf Sean. Man konnte nur einen Teil seiner Beine und die Schuhe sehen.
Alles um mich herum war still. Nein, still war nichts. Der Lärm von draußen war ohrenbetäubend und wir standen stumm hier in diesem zerstörten Raum. Der Lieferwagen brannte immer noch und ich hatte Angst, das Feuer würde die ganze Wohnung erfassen, doch ich machte keine Anstalten etwas zu unternehmen. Niemand tat das. Wir alle starrten nur auf Sean, doch niemand traute sich nachzugucken, ob er noch lebte. Bis Jason zu mir hinüber lief und sich hinhockte. Seine Hände zitterten, doch er versuchte stark zu wirken. Er versuchte seine Angst zu verstecken. Er raffte es einfach nicht. In so einer Situation war es okay Angst zu haben. Er musste sie nicht verstecken.
Langsam wickelte er Sean aus der Decke und ich glaubte, dass wir alle gleichzeitig die Luft anhielten.
Seine rechte Körperhälfte war...seine Haut war...sie war... Ich wusste, nicht wie ich das beschreiben konnte. Seine Haut schlug Blasen und war runzlig. Sie war rot und schwarz. Seine Kleidung war an der rechten Hälfte verbrannt. Seine Kopfhaut war ebenfalls nur auf einer Seite verbrannt und die Haare fehlten.
Es war schrecklich. Er tat mir so verdammt leid. Das mussten Höllenschmerzen gewesen sein und jetzt musste er mit diesen Narben leben.
Ich konnte meine Augen einfach nicht von ihm nehmen und plötzlich kam er mir fremd vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zu kennen. Er sah nicht aus, wie der Sean, den ich kannte.
Langsam öffnete er die Augen und sah mich genau an. Wieso sah er mich an? Wieso nicht einen der anderen? Ich wollte sein Gesicht nicht sehen. Ich wollte ihn nicht sehen. Er sah so entstellt aus. Ich hatte noch nie etwas so schlimmes in meinem Leben gesehen.
„Danke", krächzte er kaum hörbar.
Ich schluckte und nickte leicht. Doch plötzlich wurde es unerträglich heiß und die Jungs brüllten herum: „Wir müssen hier raus!" „Jemand muss Sean hier raus holen!" „Ist noch jemand oben?" „Jetzt kommt endlich!"
Schnell stand ich auf und sah mich um. Das Benzin des Wagens hatte sich auf dem Boden verteilt und hatte zu brennen begonnen. Der ganze Raum stand in Flammen und hatte bereits die Tür erwischt. Wie sollten wir hier raus, verdammt? Plötzlich hob Tryson Sean hoch, was ihn dazu brachte laut auf zu schreien.
„Es tut mir leid, bro. Es tut mir so leid", murmelte Tryson mitleidig.
„Wohin, verdammt?", rief nun Dan.
„Durchs Fenster!", schlug Justin vor. Wow, konnte er wieder richtig denken? Aber darüber sollte ich jetzt nicht nach denken.
„Das Fenster brennt, falls du es noch nicht bemerkt hast!", schrie Jason.
Wir alle hatten Angst, dass konnte man in jedem Gesicht sehen. Selbst Justin schien Angst zu haben.
„Leute, wir können nur durchs Fenster! Wir haben keine andere Wahl!", rief Tryson und sah skeptisch zu Sean, der offensichtlich das Bewusstsein verloren hatte. Er hing in Trysons Armen wie ein nasser Lappen. Eigentlich mochte ich solche dämlichen Vergleiche nicht, aber dieser schien einfach zu passen.
„Halt durch, Kumpel", sagte Tryson mit zittriger Stimme.
„Jason, versuch uns ein Weg durch das Fenster frei zu machen! Wir müssen hier raus oder wir alle werden drauf gehen!", rief er panisch.
Ich stand regungslos mitten im Raum, während alle Wände und der Boden vor dem Fenster brannten. Es schien aussichtslos. Ich hatte das Gefühl einfach umkippen zu müssen. Ich wollte das Bewusstsein verlieren und das alles hier nicht miterleben. Doch plötzlich wurde ich am Arm gerüttelt. Justin sah mich mit großen Augen an und zog mich in der nächsten Sekunde in seine Arme.
„Ich bring dich hier raus, ich verspreche es", flüsterte er mir ins Ohr. Ich nickte und erwiderte die Umarmung verzweifelt. Ich hatte so verdammt Angst.
Langsam floss eine Träne meine Wange hinunter. Justin ließ mich wieder los und bemerkte die Träne. Sanft wischte er sie mir weg und küsste mich. Ich schmeckte das Gras, aber das machte mir nichts aus. Es gab gerade viel Wichtigeres.
„Scheiße!", fluchte Jason plötzlich und klopfte seinen Arm ab. „Es geht nicht. Wir kommen hier nicht durch!"
Justin raufte sich die Haare und blickte zur Tür.
„Dann müssen wir hier durch", stellte er fest.
„Justin, nicht!", schrie Dan, doch Justin nahm schon einen kleinen Anlauf und sprintete durchs Feuer. Ich riss die Augen auf. Er hatte mich allein gelassen.
„Justin?", rief Jason und stellte sich neben mich.
„Mir geht's gut! Ihr müsst hier nur durch! Ihr müsst euch beeilen", rief Justin zurück. Ich schluckte hart. Wir mussten dadurch.
Jason blickte kurz über seine Schulter, ehe er tief durchatmete und ebenfalls im Feuer verschwand. Der ganze Türrahmen hatte Feuer gefangen und drohte einzustürzen.
„Tryson, du und Sean geht als Nächstes!", bestimmte Dan. Das ließ sich Tryson nicht zweimal sagen. Ich trat zur Seite und ließ ihn vorbei. Ohne zu zögern rannte er durchs Feuer.
„Jamie", sagte Dan und legte mir eine Hand auf die Schulter.
„Nein, geh du zuerst", flüsterte ich ängstlich. Ich wollte da nicht durch. Ich wollte es nicht. Ich hatte zu viel Angst.
„Wir können zusammen durch gehen", schlug Dan einfühlsam vor, doch ich schüttelte den Kopf.
„Nein."
„Kommt, verdammt!", kam es von der anderen Seite des Feuers. Dan sah mich noch einmal an, ehe er auch verschwand.
Jetzt war ich allein. Dan hätte nicht gehen dürfen. Er hätte mich überreden müssen, durch das Feuer zu springen. Denn jetzt war ich allein und niemand würde mich dazu drängen, mein Leben zu retten. Plötzlich ertönte ein Krachen und der Türrahmen brach zusammen. Ich taumelte ein paar Schritte zurück und fiel. Ängstlich zog ich meine Beine an, schloss die Augen und schaukelte mich.
„Jamie!" „Komm schon! Du schaffst das, Jamie!" „Jamie, verdammt! Komm jetzt! Du hast keine Zeit mehr!", hörte ich die Jungs rufen, doch ich konnte mich nicht dazu überreden aufzustehen.
Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben, kam es mir immer wieder in den Sinn. Auf einmal stürzte ein Teil der Decke ein und Staub wirbelte mir ins Gesicht. Die Trümmern hatten mich nur knapp verfehlt, was meine Angst um das doppelte wachsen ließ.
Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben, dachte ich schon wieder. Doch da kam eine Gestalt aus dem Feuer und lief auf mich zu. Ich blickte nicht hoch, ich konnte mich nicht bewegen.
„Baby, hab keine Angst. Ich bin da", flüsterte Justin, nachdem er sich neben mich gehockt hatte. Vorsichtig blickte ich ihn an und schluckte. Sein Gesicht war teilweise schwarz vom Ruß und seine Augen waren stark gerötet, was ihn ständig blinzeln ließ.
Ich atmete tief durch und stand dann auf. Justin lächelte mich an und nahm meine Hand. Als er jedoch auf die brennende Tür zu ging, sträubte ich mich dagegen.
„Babe, dir wird nichts passieren. Bitte", flehte er und sah mich leidend an.
„Ich will dich nicht auch noch verlieren", flüsterte er. Ich schluckte und lief schließlich mit ihm mit. Als wir direkt vor den Flammen standen, blieb ich erneut stehen.
„Du wirst jetzt vor mir gehen und ich werde deine Hand halten, okay? Ich lass dich nicht los", versicherte er mir einfühlsam. Ich nickte unsicher und griff nach seiner Hand. Er verschränkte unsere Finger miteinander und lächelte mich aufmunternd an. Sofort fühlte ich mich sicherer, doch die Angst blieb.
„Du musst ganz schnell da durch rennen. Ich bin direkt hinter dir", flüsterte er mir ins Ohr.
Mein Herz klopfte bis zum Hals und mein Atem ging schnell und flach. Mit seiner Hand fest im Griff rannte ich los und durchquerte das Feuer. Alles um mich herum war rot und heiß. Es schien ein endloser Weg zu sein, doch dann war ich plötzlich an der Eingangstür. Ich drehte mich ruckartig um und sah Justin an. Erleichtert atmete ich aus, als ich sah, dass er noch da war, doch er ignorierte meinen Blick und schob mich die Tür heraus. Leicht stolpernd kam ich bei den Jungs an und ließ Justins Hand nicht los. Die Jungs sahen mich erleichtert an, ehe ein lauter Knall ertönte und wir uns alle auf den Boden schmissen.
„Wieso muss immer alles explodieren?", fluchte Justin verständnislos. Die linke Hälfte des Hauses, da wo der Lieferwagen hinein gefahren war, stand in Flammen und begann zusammen zu brechen. Plötzlich sprang Justin auf und sah sich hektisch um.
„Wo ist Ryan?", rief er panisch. Wir alle rissen geschockt die Augen auf.
Ryan war noch im Haus! Das Haus, das in Flammen stand. Das Haus, dessen linke Seite vor ein paar Sekunden in die Luft gegangen war.
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