45. „Man hat immer eine andere Wahl."

J A M I E

Wir sprachen die ganze Fahrt lang nicht und stiegen wortlos aus, als der Wagen zum Stillstand kam. Ebenfalls wortlos betraten wir das Haus und ich lief direkt in Justins Zimmer und ließ meine Tasche auf den Boden fallen. Hier roch es nach Justin. Der ganze Raum roch nach ihm.

Ich musste leicht lächeln, als ich das nicht gemachte Bett sah und erinnerte mich an die erste Nacht, die ich hier verbracht hatte. Justin und ich hatten zusammen in seinem Bett geschlafen und er hatte sich in der Nacht an mich heran gekuschelt.

Lächelnd setzte ich mich auf's Bett und zuckte etwas zusammen, als ich lautes Klopfen hörte. Kurz darauf wurde die Tür auch schon geöffnet und Tryson kam herein. Stumm hielt er mir ein Handy hin und verzog sich wieder, nachdem ich es an mich genommen hatte.

„Hallo?", sprach ich unsicher.

Hey, Jamie. Ich bin's", hörte ich Justin besorgt sagen.

„Hey", erwiderte ich kleinlaut.

Ist alles okay?", fragte er sanft.

„Ja", hauchte ich. Ich war ehrlich gesagt todmüde. Im Krankenhaus konnte ich nie gut schlafen, weil es halt... ein Krankenhaus war. Außerdem war ich körperlich am Ende. Der Aufprall war doch etwas härter gewesen als gedacht. Unwillkürlich musste ich gähnen.

Kommst du mich morgen besuchen?", wollte Justin wissen. Ich biss mir unschlüssig auf die Lippen.

„Ich will den Jungs nicht zur Last fallen. Ich werde mich wahrscheinlich die nächsten vier Tage nur in deinem Zimmer verschanzen", murmelte ich.

Wieso denn das?", fragte Justin verwirrt. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich mich unerwünscht fühlte. Das würde für die anderen Jungs nicht gut ausgehen. Es waren zwar erst Jason, Dan und Tryson hier, aber Jason mochte mich ja sowieso nicht und Tryson war bestimmt immer noch beleidigt. Wie kindisch von ihm. Aber Dan war ganz okay. Ich kannte ihn zwar noch nicht so gut, aber er schien ziemlich nett zu sein. Ich vermisste Ryan. Er war immer so nett zu mir gewesen und ich hatte ihn seit der ersten Sekunde gemocht.

Jamie?", fragte Justin. Oh, er war ja immer noch am Telefon. Das hatte ich ganz vergessen. Worüber hatten wir geredet?

„Ja?", antwortete ich.

Ich muss auflegen. Die wollen mich untersuchen", seufzte Justin.

„Okay. Bis Donnerstag", sagte ich und legte auf.

Na super, heute war Sonntag. Ich musste morgen in die Schule. Wieso hatte ich denn mein Scheiß Handy nicht! Sonst könnte ich Taylor anrufen und fragen, ob er mich abholte, aber ich hatte ja seine Nummer nicht. Ich musste wohl den Bus nehmen. Ich musste nur gucken, ob er zu meiner Schule fuhr. Aber zuerst musste ich Tryson sein Handy wieder geben.

Seufzend stand ich auf und verließ Justins Zimmer. Ich lief die Treppe hinunter und ging gradewegs zum Wohnzimmer, weil ich von dort aus Stimmern hörte. Ohne zu überlegen betrat ich es, was zur Folge hatte, dass alles schlagartig still wurde. Anscheinend besprachen sie etwas, was ich nicht hören sollte. Genervt verdrehte ich die Augen und hielt Tryson sein Handy hin. Ich wollte jetzt nicht reden. Ich wollte einfach schlafen, also verließ ich das Zimmer auch schon, nachdem mir Tryson das Handy aus der Hand genommen hatte.

Müde schleppte ich mich die Treppe hinauf und ließ mich anschließend in Justins Zimmer auf sein Bett fallen. Ich machte mir nicht die Mühe mich umzuziehen. Das Einzige, was ich auszog, waren meine Schuhe. Kurz darauf schlief ich auch schon ein.

Verschlafen drehte ich mich auf die andere Seite und meine Hand klatschte auf etwas Hartes. Erschrocken riss ich die Augen auf, als ich jemanden leise stöhnen hörte, und blickte in das schlafende Gesicht von Justin. Was machte er denn hier? Er sollte doch erst in vier Tagen kommen! Er musste in der Nacht hierher gekommen sein. Wollte er sich verdammt nochmal umbringen? Da fiel mir ein, dass ich in die Schule musste! Verdammt! Wie viel Uhr war es denn?

Ich entdeckte Justins Handy auf dem Nachtisch und nahm es in die Hand. Oh, es war erst vier Uhr.

„Jamie?", fragte Justin plötzlich. Ich legte das Handy wieder weg und drehte mich zu Justin. Verärgert sah ich ihn an und setzte mich auf.

„Was zur Hölle machst du hier?", zischte ich. Überrascht hob er die Augenbrauen.

„Falls du es nicht bemerkt hast, wohne ich hier", knurrte er zurück.

„Du weißt, was ich meine", wisperte ich.

„Ich wollte verhindern, dass du hier alleine bist", antwortete er schließlich. Ich seufzte.

„Ich muss zur Schule", jammerte ich.

„Ich weiß. Liam holt dich um viertel nach sieben ab und bringt deine Schulsachen mit", murmelte er und schloss die Augen. Er schien ebenfalls sehr müde zu sein.

Verdutzt wand ich meinen Blick nicht ab. Justin hatte dafür gesorgt, dass Liam mich abholte?

„Also hast du noch Zeit", fügte Justin hinzu und zog mich zu sich runter. Seufzend kuschelte ich mich an ihn und platzierte meinen Kopf auf seiner Brust, während er meinen Arm streichelte. Doch kurz darauf wurde ich wieder geweckt. So kam es mir jeden falls vor.

„Du musst dich jetzt fertig machen", murmelte Justin in meinen Nacken und begann diesen zu küssen. Ich stöhnte leise auf, als er sich nun an meinem Hals festsaugte.

„Justin", wisperte ich. „Ich muss mich fertig machen."

Er drehte mich zu sich und presste seine Lippen auf die meinen. Zufrieden seufzte ich und erwiderte den Kuss. Kurze Zeit später kamen auch unsere Zungen ins Spiel und der Kuss wurde heißer.

„Wir sollten aufhören", murmelte ich gegen seine Lippen und presste meine wieder auf seine. Justin nickte leicht und legte seine Hand an meine Wange, ehe er sich von mir löste.

„Viel Spaß in der Schule, Baby", hauchte er und lehnte sich zurück in sein Bett.

Ich hatte diese Nacht verdammt gut geschlafen. Sein Bett war immer noch so bequem wie „damals". Naja, so lange war es nicht her.

Müde stand ich auf und tapste zu meiner Tasche, aus der ich mir eine Hose und einen Pullover nahm. Ich sollte vielleicht noch duschen. Das hätte ich gestern schon tun sollen. Aber hatte ich noch Zeit?

Ich lief zurück zum Bett und nahm mir Justins Handy. Es war sechs Uhr. Eine Stunde hatte ich noch. Also nahm ich mir Unterwäsche mit und legte alles ins Badezimmer. Bald war ich auch schon fertig und konnte zur Schule gehen. Davor lief ich aber zurück in Justins Zimmer und sah auf ihn herab. Kurz biss ich mir auf die Lippen und beugte mich herunter, um ihm einen kurzen Kuss auf seine Lippen zu geben, doch ehe ich mich von ihm lösen konnte, erwiderte er den Kuss. Hatte ich ihn geweckt? Kurze Zeit später lösten wir uns und ich verschwand aus seinem Zimmer.

Ich lief leise den Flur entlang, lief die Treppe hinunter und verließ anschließend das Haus. Liam saß schon in seinem Mietwagen und wartete. Ich lief lächelnd auf ihn zu und klopfte gegen das Fenster. Sofort öffnete er mir die Tür und ich stieg ein.

„Hey, Liam", lächelte ich ihn an.

„Hey", erwiderte er. Ich hatte ihm schon im Krankenhaus alles erzählt. Er war geschockt und seit dem hatten wir nicht mehr geredet. Immerhin hatte ich ihm wirklich alle erzählt.

„Können wir darüber reden?", fragte ich entschlossen, während Liam los fuhr.

„Worüber?", stellte Liam die Gegenfrage.

„Über das, was vor vier Tagen passiert ist", erwiderte ich. Liam nickte.

„Klar."

Ich seufzte.

„Du weißt, dass ich das alles nur für Amber getan habe, richtig?", fing ich an und sah ihn eindringlich an. Leicht nickte er.

„Was ist also das Problem?", wollte ich wissen. Liam lachte kurz humorlos, ehe er wieder ernst wurde.

„Was das verdammte Problem ist? Du bist ein Mörder, das ist das verfickte Problem!", rief er fassungslos.

Gequält schloss ich die Augen. Er hatte recht. Ich war ein Mörder und das war ein verdammt schrecklicher Gedanke. Ich hatte zwei Männer auf dem Gewissen und einen gelähmt. Vielleicht war er ja jetzt auch tot. Vielleicht war er verblutet oder wurde erschlagen, weil er sich nicht bewegen konnte. Dann wären es schon drei und wer wusste, wie viele es noch sein würden?

„Ich weiß, okay? Aber ich hätte es nicht getan, wenn es nicht um ein anderes Leben gehen würde. Hätte ich es nicht getan, würde ich womöglich tot sein und Amber sowieso. Verstehst du? Ich hatte keine andere Wahl", versuchte ich ihm klar zu machen.

„Man hat immer eine andere Wahl", wisperte Liam wütend. Ich biss meine Zähne aufeinander und schürzte die Lippen.

„Meine andere Wahl wäre zu sterben gewesen. Ist das besser?", zischte ich verständnislos. Liam blieb still.

„Ich dachte, wir wollten darüber reden!", bellte ich.

„Ja, aber nicht so", bestimmte Liam stur.

„Nicht wie?", fragte ich bissig.

„Na so eben!", brüllte Liam plötzlich, was mich zusammen zucken ließ.

„Ich habe kein Bock mich mit meiner besten Freundin wegen so 'ner kriminellen Scheiße zu streiten! Ich bin nur noch sechs Tage hier und ich weiß, dass ich für dich da sein sollte. Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Deine beste Freundin wurde entführt, du wurdest bedroht und hast dich in einen kriminellen Wichser verliebt. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, verdammt! Und ich benehme mich wie ein verficktes Arschloch!", schrie er und hatte Tränen in den Augen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und ignorierte einfach mal, dass er Justin einen „Wichser" genannt hatte.

„Du bist kein Arschloch. Ich würde an deiner Stelle auch nicht anders reagieren", flüsterte ich. Liam lächelte mich warm an.

„Können wir aufhören darüber zu reden?", murmelte ich bedrückt und spielte mit meinen Händen. Liam nickte nur.

„Was soll ich in der Schule sagen, wenn man mich fragt, wo ich war? Oder wo Amber ist?", fragte ich ratlos und sah Liam verzweifelt an.

„Sag das Gleiche, was du deiner Mutter gesagt hast", schlug er vor. Das war eigentlich keine schlechte Idee.

„Und wegen Amber?", wollte ich nun wissen. Liam kaute nachdenklich auf seinen Lippen herum.

„Sag, sie hatte einen Autounfall oder rede einfach nicht drüber. Immerhin weißt du ja nicht, was ihre Mutter der Schule gesagt hat", meinte Liam. Ihre Mutter hatte bis jetzt noch nicht mit mir geredet. Sie war zwar jeden Tag bei Amber, aber sie gab mir offensichtlich die Schuld. War es denn meine Schuld?

„Sag am besten einfach gar nichts", murmelte Liam. Ich nickte. „Wird wohl das Beste sein."

„Danke für's fahren", lächelte ich, nahm meine Tasche und stieg aus dem Auto.

Ich atmete einmal tief durch und machte mich nervös auf den Weg zum Schuleingang. Ich betrat die Schule und lief gerade Wegs zu meinem Spind, in den ich Sachen ein- und ausräumte. Bis jetzt hatte man mich nur ein wenig angeguckt. Das könnte an dem fetten Kratzer auf meiner Wange liegen. Naja, eigentlich war es ja ein Streifschuss, aber es sah aus wie ein Kratzer. Das und die Schiene war auch das Einzige, was auf die letzten Tage hinwies. Die Schusswunde und die Kratzer an meinem ganzen Körper konnte man natürlich nicht sehen.

Ich wollte mich grade auf den Weg zu meinen Unterricht machen, als ich meinen Namen hörte. Na super. Es war Taylor. Nervös drehte ich mich um und erblickte Taylor, der auf mich zu rannte.

„Wo warst du?", fragte er und sah mich mit großen Augen an. „Und was ist mit deinem Bein?...Und deiner Wange?"

Ich kaute auf meinen Lippen herum, ehe ich antwortete.

„Eine Bar, in der ich in diesem Moment war, wurde überfallen", flüsterte ich. Taylor weitete seine Augen noch mehr. Sekunden später lag ich in seinen Armen und er drückte mich fest an sich.

„Ist schon gut, Taylor", flüsterte ich ihm ins Ohr. Wiederwillig löste er sich von mir und musterte mein Gesicht besorgt. Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und lief mit ihm zu meinem Unterricht.

„Und was ist mit Amber?", wollte Taylor anschließend wissen. Ich wusste, dass er nicht locker lassen würde, also sagte ich, was Fakt war.

„Taylor, es tut mir wirklich leid, aber ich kann dir darüber nichts sagen", erklärte ich stur. Taylor sah mich fassungslos an.

„Ich dachte, sie hätte eine scheiß Grippe!", brüllte er mich plötzlich an und blieb ruckartig stehen. Erschrocken zuckte ich zusammen und bemerkte, dass uns alle anstarrten.

„Taylor", versuchte ich ihn nervös zu beruhigen.

„Nein! Du hörst mir jetzt zu, verdammte Scheiße! Ich mache mir schon seit fast drei Wochen verdammte Sorgen! Zuerst lügst du mich an, dann beschließt du deinen Arsch nicht mehr in die Schule zu bewegen und dann versuchst du mir weiß zu machen, dass du mir nichts darüber sagen kannst? Willst du mich eigentlich verarschen? Weißt du was? Du kannst mich mal!", brüllte er weiter und sah mich voller Wut an. Ich starrte ihn ängstlich an und traute mich nicht zu atmen oder mich zu bewegen. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Aber er hatte jeden Grund dazu.

Wütend drehte er sich um und ging mit zu Fäusten geballten Händen einfach weg. Jetzt starrten alle nur noch mich an.

Ich schüttelte meinen Kopf kurz, ehe ich hastig in den Klassenraum ging und mich auf meinen Platz setzte. Ich hatte übrigens Geschichte.

Traurig sah ich auf den leeren Platz neben mir. Es war Ambers Platz. Normalerweise lästerten wir jetzt über den Lehrer oder redeten über den neusten Klatsch von unserer Schule, aber jetzt...nichts. Ich saß allein hier.

In mir breitete sich eine unbeschreibliche Leere und Kälte aus.

Womit hatte ich das alles verdient? Wofür wurde ich so schrecklich bestraft? Wieso konnte nicht alles wieder wie früher sein? War es zu spät, um alles wieder rückgängig zu machen? Natürlich war es das. Ich hatte alle enttäuscht, indem ich sie anlog. Außerdem hatte ich es nicht geschafft Amber zu retten. Ich hatte mitbekommen, dass James eigentlich mich treffen wollte. Ich müsste jetzt im Krankenhausbett liegen und Amber müsste diese Leere spüren. Ich müsste jetzt im Koma liegen und um mein Leben ringen. Ich müsste an ihrer Stelle sein. Doch es hatte sie erwischt. Und das war meine Schuld. Sie hatte rein gar nichts damit zu tun und musste trotzdem vom ersten Moment an leiden. Sie wurde entführt und anschließend angeschossen. Und ich hatte nichts dagegen unternommen. Ich hatte zugesehen, wie sie zu Boden fiel und meinen Namen krächzte. Ich hatte ihr versprochen, sie dort rauszuholen. Ich hatte mein Versprechen gebrochen.

Stumm wischte ich mir die kommenden Tränen weg. Ich konnte doch nicht einfach in der Schule weinen. Man würde mich auslachen oder es hinterfragen. Zitternd hob ich meine Hand und wartete darauf, dran genommen zu werden.

„Darf ich auf Toilette?", fragte ich, als mich der Lehrer auffordernd ansah. Er nickte mir kurz zu und schon verschwand ich mit meiner Tasche aus dem Raum.

Ich konnte meine Tränen nicht zurück halten und ließ ihnen freien Lauf, während ich auf dem Weg zum Mädchenklo war. Ich spürte einen so großen Schmerz in mir drin. Er zerriss mich von innen. Hastig stürmte ich ins Mädchenklo und rutschte an der Wand runter.

Ich fing an hemmungslos zu schluchzen und fuhr mir durchs Haar. So viel stürzte auf mich ein, womit ich einfach nicht umgehen konnte. Ich war allein. Ich hatte niemanden, der mit mir mit fühlte. Alle waren enttäuscht und sauer. Nur Justin nicht. Er gab sich selbst die Schuld dafür und ich wusste, dass er an dem Verlust seiner Schwester zerbrechen würde, wenn er es in sich hinein fraß. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Ihm ging es mit Sicherheit nicht besser, als mir. Er war ein Wrack und meine Persönlichkeit begann ebenfalls zu brechen. Ich brach auseinander. Ich gab vor, stark zu sein, um nicht bemitleidet zu werden, doch ich war nicht stark. Wäre ich stark, würde ich nicht bei dem Anblick eines leeren Stuhles in Tränen ausbrechen und nun heulend auf dem Boden des Mädchenklos sitzen. Ich würde den Tag meistern und wenigstens vorspielen können, dass es mir gut ging, doch nichtmal eine Maske konnte ich aufrecht halten.

Sollte so nun mein Alltag aussehen? Ich machte mir Schuldgefühle, bis ich zusammen brach? Aber würde das irgendetwas besser machen? Nein, es machte alles schlimmer. Es brachte nichts zu heulen.

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