40. „Halt die Schnauze."

J A M I E

Deine Hände bluten", bemerkte Justin nach einer Weile leise.

„Ich weiß", antwortete ich ohne hinzusehen.

„Hilfst du mir aufzustehen?", wollte Justin wissen.

„Nein", erwiderte ich. „Ich kann nicht mal selbst aufstehen."

Justin lachte.

„Ich schätze, wir sind wohl alt geworden", erwiderte er kopfschüttelnd, was mich noch breiter grinsen ließ.

„Sieht wohl so aus", stimmte ich zu und sah ihn lächelnd an. Er lächelte mich ebenfalls breit an. Das sah ziemlich komisch aus. Immerhin hatte er überall zahlreiche Verletzungen und ein blutverschmiertes Gesicht.

Mein Lächeln verflog so langsam wieder und ich sah Justin ernst an.

„Du hast Blut im Gesicht", sagte ich langsam.

„Ach ja?", lächelte Justin schwach. Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte.

„Danke", flüsterte ich.

„Wofür?", fragte Justin lächelnd.

„Dafür, das du mir heute zweimal das Leben gerettet hast", wisperte ich. Justin schluckte und sah zur Seite. Hatte ich etwas falsches gesagt?

„Das war doch selbstverständlich", meinte er tonlos. Ich fälschte ein Keuchen.

„Nein, das war es nicht", widersprach ich fassungslos. War das sein Ernst?

Ich versuchte noch einmal aufzustehen und schaffte es diesmal sogar.

„Hilf mir hoch!", verlangte Justin, doch ich schüttelte den Kopf.

„Habt ihr schon was gefunden?", rief ich Tryson, Dan und Jason zu, während ich zu ihnen humpelte.

„Leichen. Nur Leichen", ließ mich Dan wissen. Ich weitete meine Augen.

„Von wem?", fragte ich hastig.

„Von James' Leuten", erwiderte Tryson. Zum Glück! Musste er mir so eine Angst machen, verdammt?

Plötzlich hörte ich Justin aufbrüllen. Blitzartig drehten wir uns alle zu ihm um. Er stand. Er war einfach aufgestanden, verdammte Scheiße.

Als er unsere Blicke erkannte, zwinkerte er uns einmal zu. Er tat so, als würde es ihm gut gehen, doch der Schmerz war ihm ins Gesicht geschrieben.

„Justin!", rief ich fassungslos, als er humpelnd auf uns zu kam. Ich bemerkte, dass seine Hüfte wieder begann zu bluten.

„Justin, du blutest!", rief ich erneut. Justin ließ seinen Blick an sich runter gleiten, blieb jedoch nicht stehen, bis er bei sich war.

„Verdammte Scheiße!", zischte ich und humpelte zu Justin.

„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Kannst du nicht einmal vernünftig sein und auf dich achten? Weißt du wie leichtsinnig das von dir ist?", schrie ich wütend. Wütend? Nein, eher nicht. Ich hatte einfach Angst.

Justin sah mich ausdruckslos an, ehe er „Halt die Schnauze" spuckte. Meine Augen weiteten sich sofort. War das sein verdammter Ernst? Ich machte mir Sorgen um ihn, versuchte zu verhindern, dass er starb und das Beste, was ihm einfiel war „Halt' die Schnauze"?

Schnaubend wand ich mich von ihm ab und setzte mich an einer anderen Stelle auf den Boden. Sollte er doch verrecken.

J U S T I N

Seit einer halben Stunde suchte ich schon mit den anderen nach Überlebenden und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich würde es nicht bereuen aufgestanden zu sein.

Jamie hatte die ganze Zeit über nicht mit mir geredet und sich von uns distanziert. Wieso war sie jetzt so sauer? Ich wollte einfach nicht angeschrien werden und habe sie halt zum Schweigen gebracht. Wieso machte sie so eine große Sache daraus? Das war doch Kinderkram.

„Da ist eine Hand oder so", rief Tryson plötzlich. Ich sah auf und sah eine Hand aus dem Müll hervorgucken. Aber es war eine kleine zierliche Hand mit schwarzem Nagellack. Ich riss die Augen auf.

„Jazmyn!", schrie ich panisch. „Holt sie daraus! Holt sie verdammt nochmal daraus!"

Die Jungs beeilten sich, bis sie frei lag, doch sie bewegte sich nicht. Ich kroch zu ihr hin und erstarrte. Ein großes Rohr durchbohrte ihren Bauch.

„Nein", hauchte ich.

„Jazmyn? Jazmyn, wach auf. Bitte, wach auf", wimmerte ich panisch und rüttelte leicht an ihr. Nein, sie konnte nicht tot sein. Ich hatte sie nach drei Jahren endlich wieder gehabt. Ich konnte sie nicht schon wieder verlieren. Ich hatte ihr versprochen, sie nie wieder zu verlassen.

Langsam öffnete sie ihre Augen. Meine Hüften schmerzten höllisch, doch ich achtete nicht darauf.

„Jazmyn", hauchte ich, während mir eine Träne über die Wange lief.

„Justin", krächzte sie.

„Halt durch. Es kommt bald ein Krankenwagen", flüsterte ich und strich ihr über die Wange. Jazmyn schloss die Augen und spuckte plötzlich Blut. Nein! Wo war Gott, wenn man ihn brauchte? Nein, es gab keinen Gott. Sonst würde ich nicht hier sitzen und meiner kleinen Schwester beim Sterben zusehen.

„Es tut weh, Justin. Mach, dass das aufhört", jammerte Jazmyn.

„Ich kann nicht, Prinzessin. Es tut mir so leid. Du musst aber durchhalten. Ich weiß, dass du das schaffst", wisperte ich gequält.

„Jazmyn", flüsterte Jason, der plötzlich neben mir kniete.

„Jason", erwiderte Jazmyn mit großen Augen, während sich eine Träne aus ihrem Auge löste und den Weg über ihre Wange fand.

„Nein, wein nicht. Alles wird gut", redete ich ihr ein und strich ihr die Träne aus dem Gesicht.

„Wieso weinst du dann?", fragte sie mich vorwurfsvoll. Ich schluckte.

„Weil ich immer noch nicht glauben kann, dich wieder zu haben", log ich und verkniff mir ein Schluchzen.

„Lüg mich nicht an. Ich bin älter geworden, Justin. Ich bin nicht mehr naiv und glaube dir jeden Scheiß wie früher", lächelte sie. Ich musste auch leicht lächeln, auch wenn mir dazu nicht zu Mute war.

Jason nahm die eine und ich die andere Hand von Jazmyn. Sie lächelte uns beide glücklich an.

„Jetzt sind wir endlich wieder eine Familie", wisperte sie zufrieden.

„Ja, das sind wir", bestätigte Jason ihr und küsste ihren Handrücken.

Eine Familie. Ja, das waren wir. Wie früher. Wir hatten uns alle geliebt, rumgealbert und einfach nur Spaß gehabt. Ich war froh zwei Geschwister zu haben. Auch wenn sie nur Halbgeschwister waren. Ich entstand, indem mein Vater mit Alice McCardy fremdging. Deswegen war Mandy auch nicht meine leibliche Mutter, aber sie und mein Vater hatten das Sorgerecht von ihr und ihrem Freund bekommen.

Zwei Jahre später bekamen Alice und ihr Freund Jason, den sie auch an meinen Vater gaben. Sie wollten anscheinend keine Kinder.

Nach weiteren zwei Jahren bekamen mein Vater und meine Stiefmutter Jazmyn. Sie war also nicht mit Jason verwandt, doch das hinderte die beiden nicht daran sich wie richtige Geschwister zu lieben. Und jetzt waren wir alle wieder vereint.

„Ich habe euch so sehr vermisst", schluchzte Jazmyn und drückte unsere Hand fester.

„Wir dich doch auch", wimmerte Jason, doch plötzlich hörte Jazmyn auf unsere Hände zu halten.

Verwirrt sah ich in Jazmyns Gesicht und schluckte. Sie war tot. Mit zittrigen Händen schloss ich ihre Augen und stand auf. Das war's dann wohl mit der Familie.

Wütend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und humpelte zur Tür der Mensa.

J A M I E

Was war gerade passiert? Justin hatte wirklich geweint. Und Jason auch.

Jazmyn. Ich hatte diesen Namen doch schon mal gehört.

„Tryson? Wer war Jazmyn?", fragte ich vorsichtig.

„Justins Halbschwester", antwortete Tryson leise, da Jason immer noch bei Jazmyn saß. Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, als es mir wieder einfiel.

James hatte Jazmyn doch getötet. Oder nicht? Anscheinend ja nicht. Sollte ich jetzt zu Justin oder sollte ich ihn in Ruhe lassen? In zehn Minuten spätestens sollte jemand nach ihm sehen. Immerhin war er schwer verletzt.

Gedankenverloren fing ich wieder an zu suchen, doch als ich nach zehn Minuten nichts fand, wollte ich nach Justin gucken.

„Jungs, ich gehe nach Justin gucken", ließ ich sie wissen und verschwand, ohne sie antworten zu lassen, aus der Mensa. Wo konnte er hingelaufen sein?

Ich lief die Treppe hoch und fand ihn auch direkt daneben. Er saß gegen die Wand gelehnt auf dem Boden, starrte die Wand gegenüber an und hatte mich noch nicht bemerkt. Ich konnte sein Gesicht nicht besonders gut sehen, also konnte ich nur hoffen, dass er nicht mehr weinte. Ich war noch nie besonders gut im trösten. Was hieß nicht besonders gut, ich war grottenschlecht.

Ich nahm meinen Mut zusammen und machte mich bemerkbar, indem ich „Justin?" flüsterte.

„Verpiss dich", zischte Justin gehässig. Ich schluckte und wollte gerade umdrehen, als ich noch einmal nachdachte.

Sollte ich jetzt sauer sein? Ich war es nämlich nicht. Naja, ich war schon ein wenig gekränkt, aber er hatte gerade seine kleine Schwester verloren. Zum zweiten Mal, also konnte man ihm sein Verhalten nicht verübeln, oder? Aber sollte ich jetzt hier bleiben und für ihn da sein oder sollte ich ihn alleine lassen, um ihn alleine damit fertig werden zu lassen? Was würde ich an seiner Stelle wollen? Ich war mir nicht sicher, aber das spielte doch ehrlich gesagt keine Rolle, richtig? Immerhin waren wir total verschieden, auch wenn wir uns in manchen Sachen ähnelten. Oder doch nicht? Wusste ich eigentlich überhaupt etwas über Justin? Ich hatte noch nie einen Menschen kennengelernt, der so verschlossen wie er war.

„Habe ich nicht gesagt, dass du dich verpissen sollst?", bellte Justin plötzlich, meiner Meinung nach viel zu laut. Anscheinend wollte er alleine sein. Aber nein. Das kam mir nicht richtig vor.

„Denkst du, wenn du hier rum sitzt, bringt das Jazmyn zurück?", fragte ich kalt.

„Sie ist tot. Ich weiß, wie sehr dich das mitnimmt, aber du kannst das nicht ändern. Aber weißt du, was du ändern kannst? Dass noch mehr Leute sterben. Deine Freunde liegen da irgendwo begraben und wir brauchen dich. Jazmyns Leben ist vorbei, doch da drin sind Leute, die dich brauchen. Da drin sind Leute, deren Leben du retten kannst", redete ich ihm streng ins Gewissen und es klappte. Er sah mich traurig an, stand langsam keuchend auf und lief ohne auf mich zu achten an mir vorbei. War er jetzt sauer?

Ich seufzte und fuhr mir durch's Gesicht. Darauf konnte ich jetzt echt nicht achten. Das hier war eine so verdammt ernste Situation, da konnte ich nicht nur auf die Gefühle der Anderen achten.

Ich humpelte Justin hinterher und sah, dass er mit den anderen nach Überlebenden suchte. Auch ich machte mich nun wieder an die Arbeit.

Nach einer halben Stunde fand ich ein Stück von Ambers Kleid. Sofort fing ich an zu graben, bis Amber frei lag. Ihr Körper lag regungslos dort und sah leblos aus. Sofort beschleunigte sich mein Atem, doch dann bemerkte ich, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie lebte. Wie konnte das sein? Sie wurde doch angeschossen!

„Amber? Amber!" Ich rüttelte an ihr, doch sie wachte nicht auf.

„Scheiße", hauchte ich und fühlte ihren Puls an ihrem Hals. Sie hatte auf jeden Fall Puls. Ich war total erleichtert.

Mein Atem normalisierte sich und ich nahm ihre Hand in meine. So blieb ich die ganze Zeit sitzen. Ich wusste ja, dass ich Justin eine Predig darüber gehalten hatte, nicht nur rum zu sitzen, doch das war mir gerade egal.

Nach einer weiteren halben Stunde, waren alle ausgegraben. Sean war ziemlich schwer verletzt, doch er würde es überleben. Caden ging es fast sogar gut und Drake ging es... Okay. Ja, okay passte, doch ich bekam nicht wirklich viel mit, denn ich achtete fast nur auf Amber.

Ja, ich saß hier schon eine halbe Stunde, aber ich wollte Amber einfach nicht loslassen. Ich hatte Angst, dass sie dann starb. Natürlich konnte sie auch jetzt jeder Zeit sterben, aber...Ich weiß nicht. Ich sagte ja, ich wurde verrückt.

Plötzlich ertönte ein nerviges Geräusch, welches ich aber nicht zuordnen konnte. Es schien ganz nah zu sein. Was war das denn für eine Scheiße?

Auf einmal hörte ich auch noch gedämpfte Stimmen. Was war denn los? Ich versuchte zu entziffern, was diese Stimmen sagten. Waren sie in meinem Kopf? Ich verstand einfach nichts, bis eine Stimme auf einmal lauter wurde. Entweder schrie sie oder sie war ganz nah.

„Jamie, dein Handy klingelt!", verstand ich plötzlich. Ach ja? War das das nervige Geräusch?

Plötzlich spürte ich etwas an meinem Oberschenkel, da wo meine Hosentasche war. Jemand versuchte mein Handy zu nehmen. Hey! Das ist meins!

Vielleicht sollte ich dran gehen.

Mein Blick war immer noch auf Amber gerichtet, als ich merkte, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich bekam Panik. Da bemerkte ich, dass es ja nicht normal war, dass ich die anderen nicht richtig hören konnte. Ebenfalls bemerkte ich, dass ich verschwommen sah. Das war ebenfalls nicht normal. Als mich jemand am Arm rüttelte, spürte ich das auch nur wenig.

„Jamie!", schrie mir jemand ins Ohr.

Schrei mich doch nicht so an!, versuchte ich zu sagen, doch meine Lippen bewegten sich kein Stück. Irgendetwas stimmte doch nicht!

„Ich glaube, sie ist in einem Schockzustand!"

„Wieso?"

„Was weiß ich, bin ich Gott?"

„Haltet die Schnauze, ich telefoniere mit Ryan!"

„Kommt seine Mom denn endlich?"

„Sie ist so gut wie da!"

Wieso schrien denn alle so? Mein Gehör drohte zu platzen. Konnten sie nicht alle die Klappe halten oder wenigstens nicht so rumschreien? Was war denn überhaupt los? Wie kamen sie darauf, dass ich einen Schock hatte?

Das Stimmengewirr wurde immer mehr, woraus ich schließ, dass Ryans Mutter da war. Ab da ging alles ganz schnell. Amber wurde mir entrissen, doch ich wehrte mich nicht. Ich tat gar nichts.

Nach einer Weile wurde ich auf einmal hoch gehoben und auf eine Trage gelegt.

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