35| Halbmond
Eine Sekunde, wenige Worte und ein winziger Augenblick, in dem man sich von seinen Gefühlen leiten lässt...
Beinahe hätte ich mich darin verloren.
~ Liam
~❦~
KALIE
Doch ehe ich dazu komme, einen Entschluss zu fassen, entscheidet sich Liam dazu, der neu entstandenen Rivalität zwischen uns noch eine Schippe drauf zu legen.
„Klingt so, als würdest du eine gewisse Sache über mich noch unbedingt wissen wollen...", beginnt der Teufelskerl auch schon, mir eine kindische Erpressung vom feinsten zu servieren, „zu schade, wenn ich auf einmal los müsste, weil mein Rudel mich braucht..."
Mit diesen Worten macht er ein paar Schritte auf den Ast zu, auf dem seine wahllos in die Gegend gepfefferte Jacke gelandet ist. Ein Ast, der sich ein paar Zentimeter über seinem Kopf befindet, nicht allzu dick ist und nur wenige Schritte entfernt von mir mit dem breiten Stamm der Buche verschmilzt.
„Wage es ja nicht!", drohe ich zurück und spüre im selben Moment, wie mir eine Idee in den Kopf schießt.
„Im Ernst Liam, bleib stehen!" Während mir der nervig grinsende Typ nur triumphierend zuzwinkert, offensichtlich auf meine Kapitulation wartend, bewege ich mich beiläufig auf jenen dicken Ast zu, wobei ich versuche eine möglichst dünne und somit leichter zu bewegende Stelle zu finden.
„Nun gut, Kalie. Es war ein schöner Nachmittag, aber leider muss ich jetzt-"
Was genau Liam jetzt musste, würde ich nie erfahren. Denn in dem Augenblick, in dem er seinen Mund öffnet, verlagere ich mein gesamtes Körpergewicht und ramme die raue Borke mit all meiner Kraft.
Das Ergebnis: Hunderte, von den Blättern abperlende Wassertropfen lösen sich von der grünen Krone des Astes und fallen in rasender Geschwindigkeit herab auf einen überrumpelten Liam, der auch noch erschrocken seinen Satz nach hinten macht, sodass er unmittelbar im strömenden Regen steht.
Zwar breitet sich im gleichen Moment ein schmerzhaftes Pochen in meinem Oberarm aus, doch der Anblick ist es mir Wert. Sein Gesichtsausdruck ist unbezahlbar.
Auf Erpressung folgt Rache. Und Rache ist süß.
Und nass.
„Wow sorry", bringe ich schließlich eine Entschuldigung hervor, deren Glaubwürdigkeit leider nach und nach von meinem unkontrollierten Kichern zerstört wird. „Ich wollte nicht dass...aber du hättest mal dein Gesicht sehen sollen..."
Mehrere Sekunden starrt Liam mich einfach nur an. Der Regen durchnässt seine Haare, läuft an seinem Gesicht hinunter und lässt seine Kleidung auf sicher unangenehme Art und Weise an seinem Körper kleben. Sein Kiefer spannt sich an, was bei mir zunächst einen beunruhigten Impuls auslöst, doch dann bemerke ich, dass er einfach nur versucht nicht zu lachen.
„Du kannst ganz schön hinterlistig sein, wenn jemand deinen fast schon krankhaften Wissensdurst nicht befriedigen möchte..."
Eine Spur verlegen fahre ich mir durch die Haare, ehe ich ihm mit einem Zwinkern Antworte. „Normalerweise bin – oder war ich nicht so. Scheint beinahe, als hättest du einen schlechten Einfluss auf deine Mitmenschen."
Innerlich über meine eigene Aussage den Kopf schüttelnd, äußerlich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, nähere ich mich dem Jungen im Regen. Gerade will ich ihn fragen, ob er sich nicht lieber etwas Trockenes anziehen gehen, oder wenigstens wieder unter den Baum kommen will, doch dann fällt mir etwas auf. Ein winziges Detail zeichnet sich unter dem heller gewordenen, ehemals grauen T-Shirt ab. Ein dunkler Fleck auf seiner Haut, direkt über Liams Herzen.
„Was ist das?", spreche ich ihn darauf an und deute mit der Hand auf die entsprechende Stelle.
„Was?" Er folgt meinem Blick. „Oh. Das ist ein Tattoo."
Kurz scheint er zu zögern, dann wandert seine Hand zum Ausschnitt seines Shirts, um ihn so weit nach unten zu ziehen, dass er ein großes Stück seiner trainierten Brust enthüllt. Fasziniert starre ich auf die Umrisse in verschieden schattierten Schwarztönen, welche die Haut des Dunkelhaarigen zieren.
Es ist ein Halbmond. Ein Halbmond, um dessen geschwungene Sichel sich einzelne Rosen ranken, als würden sie den Himmelskörper mit all ihrer Macht zusammenhalten wollen.
„Das Crescent Tattoo", erklärt Liam irgendwann mit leiser Stimme. „Jeder aus unserem Rudel besitzt eins. Das der anderen ist meist am Handgelenk, aber es gibt auch ausnahmen. - Wie mich." Er lacht leise, beinahe verlegen auf und lässt seinen Kragen los, sodass sich der dünne Stoff wieder schützend über die kunstvolle Zeichnung legt.
„Es ist wunderschön", hauche ich, weiterhin auf den dunklen Fleck starrend.
„Heißt das, wir haben bald ein Partnertattoo?" Liam zieht die Augenbrauen hoch, ein belustigtest Lächeln umspielt seine Lippen.
„Sicherlich", gehe ich – mit einer Menge Sarkasmus – auf seinen Vorschlag ein. „Was meinst du - linke Pobacke oder direkt auf die Stirn?"
„Pobacke natürlich. Die Stirn muss frei bleiben für den Schriftzug Liam ist der Beste", verkündet er frech und mit einer derart verblüffenden Ernsthaftigkeit, dass ich abermals Lachen muss.
„Ich hoffe wirklich, dass du mir nie ein Tattoo aussuchen wirst."
„Warum? Ein bisschen Tinte kann deiner blassen Langweiler-Haut doch nicht schaden..."
„Hey!" Gespielt empört will ich ihm einen Knuff gegen seine Schulter geben und mache eine schwungvolle Armbewegung, doch Liam tritt rechtzeitig zur Seite, umfasst mein Handgelenk und... wird mit einem überraschenden Keuchen mit mir zu Boden gezogen, als ich verdattert das Gleichgewicht verliere.
In einem Wirrwarr aus überraschten Lauten, nasser Kleidung und feuchten Haaren gehen wir zu Boden. Augenblicklich schnappe ich nach Luft, als ich spüre wie sich die Feuchtigkeit des Waldbodens von unten in meine Kleider saugt, während von oben der Regen dafür sorgt, dass der Status meiner Kleidung schneller von klamm, aber geht noch zu klitschnass wechselt, als ich ,ups – tut mir leid' sagen kann.
Neben mir kann ich Liam geräuschvoll ausatmen hören. Sein Oberkörper liegt unmittelbar neben mir, während seine Beine über und unter meinen platziert sind. Wie wir das im Fallen hinbekommen haben, ist mir ein Rätsel.
„Ich sollte echt wasserdichte Klamotten mitbringen, wenn wir uns das nächste Mal sehen," erklingt seine leicht resignierte Stimme neben mir.
Ich drehe meinen Kopf und begegne seinen amüsiert funkelnden Augen, die mich sofort über all das Wasser in meiner Kleidung hinwegtrösten. Entschuldigend ziehe ich die Schultern hoch und mache mich daran, unserem kleinen Beine-Chaos vorwärts kriechend zu entkommen.
„Auch wenn es vielleicht nicht so aussah – diesmal war es wirklich nicht gewollt", erkläre ich ihm auf unsere Füße konzentriert. „Okay – das vorhin war auch nicht zu hundert Prozent Absicht, aber-"
Ich will den Blick heben, um ihm ein verlegenes Lächeln zuzuwerfen, da bemerke ich wie nah ich ihm unbewusst gerückt bin.
Augenblicklich wird mit heiß. Mein Herz scheint einen wilden Stepptanz in meiner Brust zu veranstalten, während ich einfach nur wie erstarrt inne halten kann. Das Blau in seinen Augen, die eine Mischung aus Amüsement und Überraschung widerspiegeln, zieht mich unweigerlich in seinen Bann.
„Und das?", klingen Liams leise Worte an mein Ohr, „zu wie viel Prozent Absicht war das?"
Sein Blick ist weiterhin fest auf meinen gerichtet, sein warmer Atem streift meine Haut und löst in mir ein Gefühl aus, das ich schon seit langem nicht mehr empfunden habe.
Meine Stimme scheint ihren Dienst zu verweigern, während der irrationale Wunsch, seine Lippen endlich auf meinen zu spüren mit jedem Schlag meines Herzens wächst, bis er jede einzelne Zelle meines Seins auszufüllen scheint.
Mein Blick flackert nach unten und in meinem Inneren scheinen tausend Schmetterlinge zu wüten, als wir uns langsam, Zentimeter für Zentimeter, einander nähern. Sein Geruch umnebelt mich, scheint mein Gehirn, das diesem spontanen Vorhaben sicherlich nicht zugestimmt hätte, vollends außer Gefecht gesetzt zu haben.
Liams hebt seine Hand an mein Kinn, um mein Gesicht etwas anzuheben und den Abstand unserer Lippen endlich zu schließen – als die Wolken mit einem Mal aufbrechen.
Der helle Schein der Nachmittagssonne flutet das Land und taucht unsere von Regentropfen bedecken Körper in einen strahlenden Schimmer. Sie lässt Liams Haare in einer Farbe erstrahlen, die mich an flüssige Zartbitterschokolade erinnert.
Doch genauso plötzlich wie ihr Leuchten kam, ist das in den Augen des Dunkelhaarigen verschwunden.
Einen Moment lang starrt er mich einfach nur geschockt an, als hätte ihn der unvermittelte Wetterwechsel an etwas erinnert. Dann zieht er seine Hand ruckartig zurück, weicht von mir und richtet sich hastig auf, als hätte er sich in meiner Nähe verbrannt.
„Scheiße...", flüstert Liam so leise, dass ich es kaum hören kann, während er sich mit der Hand über das Gesicht fährt.
Noch immer etwas benommen von unserem beinahe-Kuss, schüttele ich leicht den Kopf, um den sorglosen, rosaroten Nebel wieder zu vertreiben, der meine Gedanken wie flauschige Zuckerwatte auszufüllen scheint.
„Was ist?"
Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie ich mich fühle. Wie verwundert, verwirrt und auch ein kleines bisschen verletzt ich bin.
„Es geht nicht."
Seine Hand wandert von seinem Gesicht, tiefer, bis sie seitlich seines Halses, zwischen Halsschlagader und Schulter liegt. Stirnrunzelnd erhebe ich mich – möglichst ohne mir meine wackeligen Beine anmerken zu lassen. In meinem Inneren herrscht ein Sturm aus unterschiedlichsten Gefühlen. Unverständnis ist das präsenteste von allen.
Er schüttelt den Kopf, die Miene so hart wie Stein.
„Das mit uns, das geht nicht", wiederholt Liam seine Worte, wie als wären sie sein Neues Mantra. „Es tut mir leid, Kalie."
Und obwohl seine Handlungen einfach keinen Sinn für mich ergeben, diese Worte glaube ich ihn. Denn der Schmerz in seinen Augen scheint ehrlich – kurz bevor er ihn wieder hinter einer undurchsichtigen Mauer aus Emotionslosigkeit verschwinden lässt.
„O-okay...", stottere ich perplex, als sich der Dunkelhaarige umdreht, um zu gehen.
„Hey...warte!"
Geistesgegenwärtig mache ich einen Schritt nach vorne, um ihn an der Schulter zu packen, zu mir zurückzudrehen und diese Situation ein für alle Mal aufzuklären, als mir ein weiteres, bisher unentdecktes Detail auf seiner Haut ins Auge fällt.
Die Stelle, an die seine Hand vorhin gewandert ist. An dieser Stelle, die der Ausschnitt seines nassen Oberteils nun nicht mehr verdeckt, erkenne ich Narben. Vier feine Linien, dessen auffallend hellere Haut sich im Sonnenlicht klar von Rest seines Körpers abhebt.
„Liam, bleib stehen! Was ist das? Was ist los mit dir?!"
Doch meine Fragen verklingen unbeantwortet in der Stille des Waldes.
Liam ist fort.
~❦~
Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, in der ich einfach nur stumpf geradeaus in den Wald gestarrt habe. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist mein Blick auf die Stelle gerichtet, an der Liam vor ein paar Sekunden einfach so ohne ein weiteres Wort verschwunden ist, nachdem er mir wie aus dem Nichts klargemacht hat, dass aus uns beiden nie mehr werden wird.
Die letzten Momente erscheinen mir beinahe surreal - als hätte ich mir alles nur eingebildet.
Liam und ich hätten uns gerade fast geküsst.
Was wohl passiert wäre, wenn der plötzliche Wetterumschwung keine Unterbrechung, und anscheinend eine Art indirekten Weckruf für ihn dargestellt hätte?
Die Frage jagt mir einen Schauer über den Rücken, der sowohl wohlig als auch angsterfüllt auf meiner Haut prickelt. Nachdenklich runzele ich die Stirn und zwinge meinen Körper dazu, sich aus seiner verblüfften Starre zu lösen, um mich auf den Weg zurück zu machen.
Das alles ist zu viel für mich.
Die bohrende Frage, warum mein Gehirn jedes Mal auf Urlaubsreise zu gehen scheint, sobald er auch nur schief lächelt.
Ob ich den Kuss denn überhaupt gewollt hätte, verbunden mit der wichtigen Erkenntnis, was genau ich für Liam empfinde.
Jedoch weigert sich mein Herz nun krampfhaft, mich etwas anderes als Verwirrung und bittersüßen Schmerz fühlen zu lassen, sobald ich an den Jungen denke, von dem ich mich trotz all der Warnungen nicht habe abschrecken lassen.
Okay - vielleicht fühle ich mich etwas zu ihm hingezogen, weil er gut aussieht, gestehe ich mir schließlich trotzig ein, aber ich bin ganz sicher nicht in ihn verliebt!
Zumal mir dieser Umstand nur mehr unnötigen Herzschmerz bereiten würde, nach allem was Liam mir soeben mit verletzender Emotionslosigkeit mitgeteilt hat.
Innerlich seufzend und all die Fragen, deren Antworten mich so oder so nicht weiterbringen würden, beiseiteschiebend, wende ich mich von der alten Buche ab und will gerade im Unterholz des Waldes verschwinden, als mir etwas Dunkles auf dem durchnässten Laub ins Auge sticht.
Liams Jacke.
Zögerlich bleibe ich stehen und starre auf den schwarzen Stofffetzen, der wohl inmitten meiner Ast-schüttel-Aktion heruntergefallen sein muss. Kurz verweilt mein Blick darauf, dann gebe ich mir einen Ruck, mache zwei Schritte und hebe das nasse Kleidungsstück auf.
Vielleicht ist es einfach nur meine Nettigkeit, vielleicht ein bisschen auch der erbärmliche Wunsch auf ein Wiedersehen zwischen uns – aber diese Jacke einfach so verdreckt auf dem Waldboden zurückzulassen, fühlt sich falsch an.
Innerlich über meine gemischten Absichten den Kopf schüttelnd, hebe ich sie vom Boden auf und beginne gerade damit, die feuchten Blätter mit schnellen Handbewegungen vom Stoff zu klopfen, da fällt etwas Helles aus der rechten Jackentasche.
Verwundert mustere ich den aufgeweichten Zettel, der nun schlaff über ein paar abgestorbenen Blättern hängt. Er besteht aus fleckigem, aber scheinbar stabilem Papier, durch das sich seltsame Linien und Schriftzeichen ziehen.
Von Neugierde gepackt gehe ich in die Hocke und falte das Schriftstück vorsichtig auseinander, um die ohnehin schon von der Nässe in Mitleidenschaft gezogenen Zeichnungen nicht noch weiter zu verwischen.
Eine skeptische Falte erscheint zwischen meinen Brauen, als ich meine, das Wirrwarr an Strichen und Beschriftungen zu erkennen.
Es ist ein Bauplan. - Jedoch nicht nur irgendeiner.
Beschriftungen wie Eingangshalle und Wohnzimmer lassen mich, gemeinsam mit den unverkennbaren Markierungen der Bäume – der drei Eichen links und rechts des Hauses – erkennen, dass dieser Zettel den Bauplan von der Villa meines Onkels zeigt.
Nun endgültig nicht mehr fähig mir einen Reim auf all dies zu machen, streiche ich gedankenverloren über den gezackten Rand des Papieres, der so aussieht als hätte man ihn von irgendwo ruckartig abgerissen.
Was geht hier vor, Liam?
~❦~
~❦~
A/N:
Tja... ich glaube, das wüssten wir alle gerne. 0.0
Aber keine Sorge - wir nähern uns dem Ende von Part I und somit der Auflösung des ganzen Geheimnisses rund um Liams Vergangenheit mit großen Schritten. ;)
Habt ihr schon Vermutungen, was genau damals passiert sein könnte?
Wen er verloren hat, oder warum er Kalie einfach so hat stehenlassen?
(Btw - mit dem letzten Kapitel wurden soeben die 600 Votes geknackt!! :D Wahnsinn, danke an alle, die mir immer ein kleines Sternchen als Feedback dalassen! :3 Das und eure vielen Kommentaren motivieren mich jedes Mal nochmal extra zum Weiterschreiben.♡♡)
Euch noch einen wundervollen Abend! Wir lesen uns entweder in den Kommentaren, oder bald im nächsten Kapitel. <3
LG Loony ♡
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