20| Zu spät
Manchmal reicht ein einziger Augenblick, um über Leben und Tod zu entscheiden.
Ist es Schicksal, oder einfach nur Glück?
~ Kalie
~❦~
KALIE
Als ich nach der langen Nacht bei Sadie wieder nach Hause zurückkehrte und das riesige Feuerwehrauto, das neben einem Krankenwagen fast die gesamte Straße versperrte, sah, war meine unstillbare Neugier das Erste, was mich traf. Ahnungslos wollte ich ins Haus, um meine Eltern darüber auszuquetschen, was ich letzte Nacht verpasst hatte.
Minuten später brach für mich eine Welt zusammen.
In nur einer Nacht hatte sich mein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Alles fühlte sich verkehrt an. Alles stand Kopf.
In nur einer Nacht hatte ich alles verloren. Meine Eltern, meine Heimat, meinen Lebenswillen.
Doch mittlerweile ist alles anders. Ich habe es geschafft, die Mauer aus Trauer, Vorwürfen und was-wäre-wenn-Fragen einzureißen, um einen Neuanfang zu wagen. Ich habe den Mut gehabt, mich ins Ungewisse zu stürzen, in der Hoffnung dass alles besser werden würde.
Eine negative Veränderung wäre ohnehin kaum möglich gewesen.
Und auch wenn ich es noch nicht geschafft habe, meine Vergangenheit zu akzeptieren, ich konnte sie für einen Augenblick lang vergessen.
Einen Augenblick, in dem ich neue Bekanntschaften schließen, Spaß haben und so langsam auch Freunde finden konnte.
Und gerade in dem Moment, in dem mein Leben wieder bergauf zu gehen scheint, schickt mir das Universum ein paar lose Steine, die alles verändern.
Gerade als ich wieder beginnen kann, mein Leben zu genießen, trete ich auf den falschen Fels und stürze von einer Klippe. Stürze in den Tod.
Ist das der grausame Humor meines Schicksals?, fährt es mir durch den Kopf, während die Welt einen Moment lang stillzustehen scheint.
Wie in Zeitlupe sehe ich den rettenden Boden langsam über mir verschwinden und spüre die Schwerkraft, die meinen Körper erbarmungslos nach unten zieht.
Überwältigt von Trauer und Angst kneife ich die Augen zusammen und gebe mich meiner Bestimmung hin, als...
Als sich plötzlich eine starke Hand mit einem Ruck um mein Handgelenk schließt und meinem Fall somit ein abruptes Ende bereitet. Mit einem schmerzvollen Stöhnen geht mein Retter zu Boden, da mein Körpergewicht ihn mitgerissen haben muss.
Von dieser unerwarteten Wendung völlig überrumpelt, schnellt mein Blick nach oben.
Als ich den dunkelhaarigen Jungen erkenne, der mit angestrengter Miene versucht auf dem losen Boden des Klippenrandes Halt zu finden, ohne mich dabei loszulassen, traue ich meinen Augen kaum.
Liam?
„Starr nicht so blöd und halt dich fest!", zischt mir dieser im nächsten Moment auch schon zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. Seine ärgerlich funkelnden, himmelblauen Augen vertreiben zwar jeden Zweifel bezüglich seiner Identität, erklären aber noch lange nicht, wieso er versucht mich zu retten.
Ist doch scheißegal!, schimpft eine Stimme in meinem Kopf genervt mit mir, jetzt halt dich gefälligst fest, falls du nicht vor hast in den nächsten zehn Sekunden den Löffel abzugeben!
Also schüttele ich die unnützen Fragen ab und umgreife ebenfalls seinen Arm. Die Berührung lässt meinen Herzschlag an Tempo zulegen, doch ich schiebe dieses kleine Detail gedanklich sofort auf die Tatsache, dass ich gerade im Begriff bin von einer Klippe zu stürzen.
Von unten kann ich sehen, wie Liam angestrengt versucht rückwärts zu kriechen und spüre, wie die Muskeln und Sehnen in seinem Arm sich anspannen, während er mich Zentimeter für Zentimeter wieder Richtung sicherer Boden befördert.
Nach ein paar Sekunden tauchen Ethan und Jamie neben ihm auf und beginnen, überraschenderweise ohne zu zögern, damit, ihm beim Ziehen zu helfen, bis ich wenige Augenblicke später zitternd und mit den Nerven am Ende, neben dem erschöpften Liam auf dem kalten Boden der Klippe liege.
„Kalie, geht's dir gut? Whoa, das kam ja echt unerwartet, oder? Hast du die losen Steine da etwa nicht gesehen?", lässt Jamie sofort tausende Fragen auf mich einprasseln und kniet sich neben mich auf den Fels. „Das war ziemlich knapp, weißt du? Aber zum Glück war ich ja da und habe dich gerettet!" Er grinst stolz, als wäre mein nur knapp verhinderter Sturz allein sein Verdienst.
Ich lächele ihn nur stumm an, da mein Gehirn noch ziemlich betäubt von dem Nahtoderlebnis ist, das ich gerade genießen dufte.
Immer noch höre ich das Blut in meinen Ohren rauschen und spüre das Adrenalin, welches nun langsam beginnt meine Venen zu verlassen. An seiner Stelle macht sich ein ungutes Gefühl, eine Mischung von Übelkeit und Schwindel in mir breit.
Noch vor ein paar Sekunden wäre ich fast gestorben...
Der erschreckende Gedanke sickert zäh in mein Gehirn und scheint sich wie ein klebriger Kaugummi an meinen Verstand zu heften, nur um weitere tausend was-wäre-passiert-wenn-Spekulationen zu erzeugen.
Entschlossen, diese Überlegungen nicht zuzulassen, schüttele ich den Kopf.
Nein. Ich bin nicht gestürzt. Nicht dank...
Dank Liam.
Augenblicklich schnellt mein Blick zu dem Jungen, der mir bis vor ein paar Minuten noch so sympathisch wie ein Kaktus mit Aggressionsproblemen war.
Zumindest wenn es nach meinem Verstand geht.
Mein verräterisches Herz dagegen, scheint schon vor einiger Zeit unbemerkt die Seite gewechselt zu haben.
Der Dunkelhaarige richtet sich soeben unter den misstrauischen Blicken von Jamie und Ethan auf, die sich fast schon schützend neben mich platziert haben. Ohne auf die zwei zu achten, fährt er sich kommentarlos durch die vom Wind zerzausten Haare und klopft sich etwas Erde von Hose und T-Shirt.
Fast schon verlegen sehe ich zu, wie die kleinen Erdklumpen, die zuvor noch an seiner Kleidung geheftet haben, mit dem Wind davongetragen werden, ehe mein Blick wieder zögerlich zu Liam wandert.
Er hat mir das Leben gerettet und dafür muss ich mich bedanken.
Nur habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.
Ich meine – wie bedankt man sich bei jemandem, der von deinen Freunden aus einem unbekannten Grund gehasst wird und vor ein paar Minute noch versucht hat, einen der beiden von einer Klippe zu stoßen?
Aber letztendlich hat er deinen Sturz verhindert. Also beweg gefälligst deinen Hintern, um dich wenigstens dafür zu bedanken!, schimpft meine innere Stimme ein weiteres Mal mit mir, was mich zum Seufzen bringt. Denn leider hat sie recht. Wie immer.
Also gebe ich mir einen Ruck, erhebe mich vom kalten Boden, auf dem ich immer noch sitze und gehe entschlossen einen Schritt auf Liam zu. Die zwei brennenden Blicke von Ethan und Jamie, die sich fragend in meinen Rücken bohren, ignoriere ich dabei gekonnt.
Doch kurz bevor ich den Mund aufmachen kann, kommt Liam mir bereits zuvor. „Wie geht's dir?", fragt er mich, während sein Blick prüfend über meinen Körper wandert und unwillkürlich eine leichte Gänsehaut auf meinen Armen erzeugt.
„Oh, gut", erwidere ich leicht überrumpelt, da ich damit gerechnet hatte, selbst ein Gespräch anfangen zu müssen. Gerade will ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen noch etwas hinzufügen, als der Blauäugige weiterspricht.
„Sehr schön", meint er trocken, „denn ein weiteres Mal werde ich dich nicht wieder hochziehen, wenn eine deiner Amateur-Rettungsmissionen wieder einmal dazu neigt, auf deinen eigenen Tod hinauszulaufen."
Perplex starre ich ihn an und schlucke das Dankeschön, welches ich vorhin beinahe ausgesprochen hätte, wieder runter.
Was ist bloß sein Problem? Schließlich hätte er mich nicht retten müssen, nur um später einen blöden Kommentar darüber abzulassen!
„Sag mal, welche Hirnwindungen wurden bei dir denn falsch verlegt?", spricht Jamie neben mir meinen Gedanken laut aus und zeigt Liam einen Vogel. „Du hättest sie ja nicht retten müssen!"
Liam schnaubt, während sein Blick den Rothaarigen verärgert durchbohrt. „Wenn sie nicht kopflos auf den unsicheren Rand der Klippen zugestürmt wäre, hätte sie gar nicht erst den Halt verloren!", umgeht er die Frage gekonnt mit einem Vorwurf.
Jamie scheint dies nicht zu bemerken. Im Gegenteil - er tritt einen Schritt vor und deutet anklagend mit dem Finger auf Liam. „Hättest du nicht versucht, mich vom Felsen zu stoßen, wäre sie gar nicht erst losgerannt!"
„Ach ja? So langsam bereue ich es, dir nicht doch noch einen kleinen Stups gegeben zu haben."
„Jungs!" Ethans tiefe Stimme unterbricht die zwei genervt. Er packt Jamie am Arm, um ihn nach hinten, außer Reichweite von Liam zu ziehen.
Sicher ist sicher.
„Wir müssen weiter", erinnert uns der ruhige Schwarzhaarige wieder an den Grund meines Klippen-Sprintes, „Elias ist immer noch irgendwo da draußen. Wenn er springt-"
„Mach dir mal keine Hoffnungen, Muskelprotz", unterbricht Liam ihn spöttisch mitten im Satz. Er hat sich mittlerweile ein paar Meter von uns entfernt und scheint offenbar die Absicht zu haben, sich endlich unserer Gesellschaft zu entziehen.
Nun hält er inne. Einen Moment lang scheint es, als würde er in den jaulenden Wind hineinhorchen, ehe sich ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet.
„Sie sind schon längst gesprungen.
Ihr seid zu spät."
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Ihr seid zu spät...
Zu spät...
Liams Worte hallen unheilvoll in meinem Kopf wieder, als ich mich hinter Jamie durch das Unterholz in Richtung Lichtung schiebe. Zwar bewegen sich meine Füße gleichmäßig vorwärts, doch meine Gedanken sind weit weg und scheinen gleichzeitig zu rasen und stillzustehen, während nackte Angst mein Herz mit scharfen Klauen umklammert hält.
Ich befinde mich in einer eigenartigen Trance, in der nur meine brennenden Schuldgefühle und die gefürchtete Frage, ob Elias noch lebt, existieren.
Unwillig schüttele ich den Kopf und schlucke den Kloß, der sich bei diesem Gedanken in meinem Hals bildet, energisch hinunter.
Er kann nicht tot sein.
Er darf es nicht sein.
Denn das wäre ein Verlust, den ich weder ertragen, noch akzeptieren könnte.
Sobald sich das tiefhängende Astwerk der Bäume zu lichten beginnt und die vertraute Wiese wieder vor uns auftaucht, macht mein Herz einen Satz.
Der Anblick, der sich uns bietet, lässt mich nach Luft schnappen.
In einem Gefühlswirrwarr, irgendwo zwischen unglaublicher Sorge und schwindelerregender Erleichterung, stolpere ich aus dem Wald hinaus und laufe so schnell meine wackeligen Beine mich tragen können zu der Menschentraube, die sich um zwei Gestalten am Ufer gebildet hat.
„...aus dem See."
„...und die sind wirklich gesprungen?"
„Das sieht übel aus..."
Mein Herz beginnt entsetzt zu rasen, sobald ich in die Ansammlung eingetaucht bin und beim Vorbeigehen einzelne Gesprächsfetzen aufschnappe. Mit jedem Schritt werde ich unsicherer, ob ich den Anblick, auf den ich in wenigen Sekunden stoßen werde, ertragen kann.
Es ist Elias, verdammt!
Der Junge, der dich hier freundlich willkommen geheißen hat. Der seine Moralvorstellungen beiseite geschoben hat, nur um dir zu helfen und derjenige, der dich nach der schlimmsten Nachtwanderung deines Lebens gefunden und nach Hause gebracht hat!
Jetzt musst du mal für ihn da sein. So wie er kurz nach dem Fund der Leiche für dich da war.
Mit jedem Schritt beschleunigt sich mein nervöser Herzschlag und hämmert beklommen in meiner Brust. Ich beiße mir verärgert auf die Lippe und schiebe mit den letzten zwei Personen zwischen mir und dem Zentrum der Traube, auch meine hartnäckigen Zweifel beiseite.
Jetzt ist nicht die Zeit für Rückzüge à la ‚ich weiß nicht ob ich dieses Bild ertragen könnte'!
Elias ist mein Freund. Und ich muss ihm helfen.
Auch der letzte breite Rücken verschwindet endlich aus meinem Blickfeld und gibt die Sicht auf einen nassen, blonden Haarschopf frei. Augenblicklich stoße ich die Luft, die ich seit der Ankunft bei der Menschengruppe wohl angehalten haben muss, aus und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen.
Er lebt.
Zwar sieht der Blondhaarige schrecklich aus, aber er lebt.
Und diese Tatsache ist alles, was im Moment für mich zählt.
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A/N:
Hallo ihr da draußen! :D
Ich hätte nicht gedacht, dass ich es noch schaffe, aber hier ist Kapitel 20 - pünktlich zum Start ins Wochenende. :3
Wie fandet ihr Liams Kommentar, nachdem er Kalie gerettet hat?
Und habt ihr tatsächlich geglaubt, ich würde unseren lieben Elias einfach so eiskalt umbringen? ;P
*unschuldiges Lächeln*
Ich hoffe ihr habt noch einen schönen Tag!
LG Loony ♡
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