Der Vogeljunge
Es war warm. Nicht heiß. Warm. Nicht die unangenehme Wärme, die einen ins Schwitzen bringt und bei der man sich schon nach wenigen Sekunden in den Schatten flüchten möchte. Es war die behagliche Wärme der Nachmittagssonne, welche gerade so ausreichte um die Fließen der Dachterrasse aufzuheizen. Bei welcher man mit einem Glas Limonade am Geländer steht und die Silhouette der Stadt, welche sich vor einem abzeichnet, beobachtet. Bei welcher man den Blick mit leicht zusammengekniffenen Augen gen Himmel wendet und Finken, Spatzen, Tauben und auch vereinzelte Raben betrachtet, welche mit Eleganz ihre leichten Flügelschläge tun und über den Häusern kreisen.
Ich hatte wieder Korn ausgestreut. Das tat ich mehrmals am Tag.
Morgens, in der Früh, kamen dickliche Spatzen und Finken, welche sich auf den wenigen Pflanzenkübeln der Dachterrasse niederließen um anschließend Richtung Boden zu Flattern und sich mit kleinen Sprüngen hin und her zu bewegen, während sie das ausgestreute Futter auflasen. Sie waren schnell und wendig, ihre Bewegungen in der Luft waren aber eher plump und zeugten von keinerlei Eleganz. Trotzdem konnten sie etwas, dass ich nicht konnte: Sie konnten Fliegen.
Am Vormittag kamen die Tauben. Und sie kamen in Massen. Mommy mochte Tauben nicht, weshalb sie mir verbot sie zu füttern, sodass sich die Tauben mit den Resten der kleinen Vögel begnügen mussten. "Flugratten" nannte Mommy sie manchmal. Ich verstand nie warum. Sicher, sie waren keine sauberen Vögel und sie rochen auch ziemlich streng. Sicher sie waren in den meisten Fällen grau, wie eine Ratte, aber sonst hatten sie nichts mit den Nagern gemeinsam. Ich verstand der Vergleich nicht. Ratten mit Flügeln sähen doch sicher ganz anders aus - zudem gab es solche Wesen nur in den Märchen, die mir die nette Frau von nebenan manchmal vorließ, wenn Mommy arbeiten musste und Sie auf mich aufpasste. Außerdem konnten die Tauben, die "Flugratten" etwas, dass ich nicht konnte: Sie konnten Fliegen.
Am Nachmittag kamen die großen Vögel. Raben. Manchmal waren auch eine Krähe oder eine Elster dabei. Sie kamen nicht immer, aber in letzer Zeit immer häufiger. Mommy sagte, sie lernen, weil sie ganz intelligente Vögel sind. Sie lernen, dass sie hier am Nachmittag etwas zu fressen bekommen und merken sich das, so das sie immer wieder kommen, bis es für sie zur Routine geworden ist. Ich glaube "Routine" bedeutet, dass man etwas immer wieder tut, genau weiß ich das aber nicht. Ich sollte Mommy später fragen, wenn die Raben weg waren, welche just in diesem Moment auf dem Geländer der Terrasse landeten.
Von allen Vögeln, die mich jeden Tag besuchten waren sie die, die mir am liebsten waren. Sie waren schön, denn ihr schwarzes Gefieder glänzte im Sonnenlicht. Immer wenn sie mich durch ihre schwarzen Knopfaugen musterten, sahen sie klug aus. So klug wie der alte Herr von der anderen Straßenseite, der mir immer ein Bonbon schenkte, wenn ich ihm half das Laub zusammenzukehren oder seine Einkäufe trug. Und sie waren elegant. Von allen Vögeln, waren sie die Elegantesten, wenn sie sich mit ihren starken Schwingen, mithilfe von wenigen Flügelschlägen in die Luft erhoben und sich anschließend von den Winden auf und ab quer durch die Stadt und hoch in den Himmel tragen ließen.
Es sah so wunderschön aus, wenn sie flogen. Ich wollte manchmal mit ihnen Fliegen. Wollte ich die Stadt, die Felder, welche hinter ihr begannen und die großen Teiche fernab von oben sehen. Wollte mich vom Wind tragen lassen. Wollte über die Wolken hinaus steigen. Aber das ging nicht. Denn sie waren Vögel und ich war nur ein kleiner Junge ohne Flügel und ohne Federn.
Aber Mommy hatte es trotzdem versprochen! Sie hatte mir versprochen, dass wir irgendwann fliegen würden! Dann würden wir Daddy in Australien besuchen, hatte sie gesagt. Ich kannte meinen Daddy nicht, aber Mommy sah immer so verträumt aus wenn sie von ihm redete. Ich glaube sie vermisste ihn. Daddy war bestimmt, ganz bestimmt sogar ein netter Mensch!
Während ich über meine Eltern und übers fliegen gegrübelt hatte, hatten sich der Großteil der Raben schon satt gefressen und war davon geflogen. Ein Einziger verblieb noch ganz in der Nähe von mir hockend und sah mich mit großen Augen an, so als wartete der auf neues Futter. Mommy hatte einmal gesagt, dass das noch ein ganz junger Rabe war, welcher vielleicht sogar einmal zutraulich werden könne, wenn ich nett zu ihm war.
Ich nahm noch ein par Kerne aus dem Sack mit Vogelfutter und streute sie vor mir auf den Boden. Der Rabe hüpfte zögernd näher, machte sich dann jedoch begeistert über das neue Futter her.
Ich freute ich darüber, dass er Vertrauen gefasst hatte, machte einen Satz auf ihn zu und packte ihn grob am Hals. Das Tier krächzte wütend, schlug mit den Flügeln und hieb mit den Krallen und dem Schnabel auf mich ein, ehe ich es schaffte ihm den Hals umzudrehen.
Langsam ließ ich den erschlafften Körper auf den Boden sinken und begann nach schönen Federn zu suchen. Der Großteil der Flügel- und Schwanzfedern war recht ansehnlich, sauber und gepflegt, so dass ich sie eine nach der anderen sorgfältig ausrupfte.
Nach einiger Zeit erhob ich mich mit meiner Ausbeute und verließ die Terrasse in Richtung Treppenhaus. Den Vogel ließ ich liegen, damit er wieder wegfliegen konnte. Ich hoffe, dass er mir es nicht übel nahm, dass ich ihm ein paar seiner schönsten Federn gestohlen hatte.
Im Treppenhaus, und auch in der die ich hastig Wohnung war es kühl. "MOMMY! Ich bin wieder da!" verkündete ich und lief ins Wohnzimmer, um ihr die Federn zu zeigen. Mommy sagte Nichts. Sie sah mich auch nicht direkt an. Aber ich wusste auch so dass sie sich freute.
Vorsichtig nahm ich ihre Hand. "Pass auf Mommy, dass tut vielleicht wieder weh..." meinte ich und stieß einen Federkiel in die aufgedunsene Haut, zwischen die ganzen anderen Federn, welche sie bereits zierten. Einige der Federn waren von den verhassten Tauben, andere waren von dem Wellensittich meiner Cousine Luisa und wieder andere hatte ich am Schwanenteich aufgesammelt.
Nachdem ich alle Federn untergebracht hatte, trat ich ein Schritt zurück und betrachtete mein Werk zufrieden. Viele Federn fehlten nicht mehr, dann war es vollbracht. Es machte mich zwar traurig, das Mommy sich nicht mehr bewegte, seitdem sie sich ihren Kopf ganz doll am Tisch gestoßen hatte, aber das war okay.
Ich würde ihr bald das Fliegen beibringen können, wenn ich genug Federn gesammelt hatte. Dann könnten wir zusammen nach Australien fliegen und Daddy besuchen.
Und Daddy könnte ich dann auch das Fliegen beibringen!
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