Dritter Teil

Janice stocherte gerade mit einem Ast in der Glut des erlischenden Feuers herum, als Charlie anfing zu erzählen. Dabei nutze er ihre Gedanken.
Janice hörte schweigend zu. Sie lauschte Charlies Worten in ihrem Kopf und versuchte sich diese Welt...diesen Ort vorzustellen.
Doch schon nach kurzer Zeit wurde ihr bewusst, dass es Dinge gab, die sich ein Mensch nicht ausmalen konnte.
Es war, als ob man sich die Unendlichkeit des Universums vorstellen wollte.
Nichts. Dahinter nichts. Und dahinter auch nur diese unvorstellbare Leere.
Die Erde nur ein kleiner, bedeutungsloser Punkt.
Inmitten all dieser Dinge, die nicht für das menschliche Auge zu sehen sind.
Dinge, die man nicht länger wahrnehmen konnte und dabei Mensch blieb.
Dinge, die für die Menschliche Spezies nicht geschaffen waren und unerreichbar blieben.
Nicht als Mensch...
,,Ich will es sehen." flüsterte Janice.
Sie wollte noch so viele Fragen stellen.
Noch so viel entdecken.
Ihre Schwester wiedersehen.
Sie für immer bei sich wissen.
Mit ihr über Dinge sprechen, über die sie noch garnicht nachgedacht hatten.
Ihre Zeit war kurz.
Begrenzt.
Weil sie Menschen waren.
Janice wollte so vieles noch Wissen.
Als ihr schwarz vor Augen wurde und ein unvorstellbarer Schmerz von ihrem Bauchnabel bis hinauf in die Schläfe schoss, war es zu spät für sie.
Als Janice wieder erwachte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Aber was?
Sie war nur ein paar Minuten bewusstlos gewesen. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Das Licht schien heller als gewöhnlich.
Was war geschehen?
Sie erinnerte sich an ein stechendes Gefühl in ihrer Magengrube. Und dann in ihrem Kopf.
Und...dann?
Vorsichtig richtete Janice sich auf. Sonst schien alles in Ordnung zu sein.
Aber das war es nicht.
Etwas hatte sich verändert.
Etwas war...falsch.
So falsch, dass ihr Gehirn sofort anfing zu rebellieren, als sie versuchte sich Gedanklich damit zu befassen.
Also ignorierte sie es.
Sie hatte keine andere Wahl, als es auszublenden. Sagte jedenfalls ihr Instinkt.
Sie war verwirrt.
So hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt.
Der Tag ging zuende.
Wie auch immer.
Stumme Zuschauer hätten sich gewundert, wie apathisch dieses Mädchen wirkte. Erst als es tiefste Nacht war und Janice bereits im stickigen Zelt lag, viel ihr ein, was fehlte.
Charlie.
Wie konnte sie ihn nur vergessen?
,,Charlie...?" flüsterte sie, obwohl sie wusste, wie unsinnig dies war. Wenn sie seine Aura nicht spürte, war er auch nicht hier. Das war seltsam. Sie hatte sich mittlerweile so sehr an seine permanente Anwesenheit gewöhnt...
Janice blinzelte.
War das Zeltdach gerade nähergekommen?
In der Dunkelheit war sie sich nicht ganz sicher, deshalb schaltete sie die Taschenlampe an.
Nein. Das Zelt war größer geworden. So groß, dass der Lichtkegel von den Schatten verschluckt wurde. Verschlungen. Wie ein gieriges Monster stürzte sich die Finsternis darauf. Die Dunkelheit starrte Janice aus unsichtbaren Augen an. Sie war auf unmögliche Art und Weise lebendig. Janice kroch so schnell wie sie konnte, auf den Ausgang zu.
Doch dieser war nicht dort, wo er sein sollte.
Janice stand auf und rannte in die Unendlichkeit.
Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich wie klebriges Moos an.
Es gab kein Anfang und kein Ende.
Sie öffnete den Mund um zu rufen und dann anschließend zu schreien.
Der Boden löste sich von einen Moment in den anderen in Luft auf.
Die Taschenlampe wurde ihr aus den Händen und der Schrei von den Lippen gerissen, als sie viel.
Immer tiefer und schneller. Die Dunkelheit schien beinahe so etwas wie eine feste Masse anzunehmen. Sie viel immer tiefer. Die Luft rauschte an ihr vorbei.
Dann landete Janice in eiskalten Wasser.
Die Kälte schmerzte und fror ihre Glieder ein.
Alles war schwarz und kalt. Schon nach wenigen Sekunden war sie unfähig, sich zu bewegen.
Die beißende Kälte zerfraß sie. Drang durch die Haut, in ihr innerstes. Was war schmerzvoller? Erfrieren oder Ersticken?
Das Wasser war eigenartig dickflüssig, wie Schleim.
Es füllte ihren gesamten Rachen und Atemwege aus. Langsam kroch es durch ihre Lungen. Sie konnte nicht schreien. Kein einziger Ton drang aus ihr hinaus. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund verharrte sie reglos. Wie von unsichtbaren Stricken gehalten.
Als sie sich sicher war, im nächsten Moment einfach zu sterben, stand sie wieder auf festen Grund.
Ihre Beine knickten kraftlos ein.
Es regnete und die Nässe kroch durch ihre Jeans hindurch.
Zitternd sah Janice sich um. Das Zelt befand sich einige Meter neben ihr, so als ob sie hinaus gerannt wäre.
Die Sonne ging auf.
Das erkannte Janice daran, dass das bisschen Himmel das zwischen den Tannen zu sehen war, eine hellblaue Farbe annahm.
Und rosa.
Pastell Töne.
Wie viele Stunden war sie bereits hier draußen?
Janice fühlte sich, als ob sie schweben würde. Sie spürte ihren Körper nicht mehr.
Sie stand auf und starrte auf ihre zerkratzten und blutigen Hände. Unter ihren Fingernägeln klebte etwas wie sehr dunkler Dreck.
So sehr Janice sich auch anstrengte, sie fand für all das keine Erklärung. Etwas heißes lief über ihr Kinn und ihre Brust.
Nasenbluten?
Sie hatte Angst. Der Wald wirkte mit einem Mal viel größer und bedrohlicher. Als ob er ein riesiges Lebewesen wäre, das sie zu verschlingen drohte.
Etwas anderes war gerade dabei, sie zu verschlingen.
Stück für Stück.
Faser für Faser.
Gedanke für Gedanke.
Bis nur noch ein winziges Fragment ihrer Seele übrigblieb.
Ein winziges, nur mit Mühe existierendes Teil ihrer Selbst.
Ein Fetzen.
Eine Erinnerung.
Janice übergab sich.
In ihrem Erbrochenen schwammen pechschwarze, tintenartige Kleckse.
Sie hatte Schwierigkeiten zu atmen.
Es fühlte sich an, als ob etwas auf ihrem Brustkorb sitzen würde.
Ein Vogel zwitscherte.
Laut.
Sehr Laut.
Es klang beinahe wie ein Schrei.
Erschrocken sah Janice auf. Vor ihr waren Flammen. Sie saß vor einem Lagerfeuer. So nah, dass ihre Haut schmerzte und ihre Augen staubtrocken waren.
Ihr Haar roch angesenkt.
Mit einem erstickten Schrei kroch Janice einige Meter nach hinten, bevor sie aufsprang.
Das Feuer war viel zu hoch!
Sie hielt nach dem Eimer Wasser Ausschau, den sie immer vorsichtshalber in der Nähe stehen hatte, sobald sie ein Lagerfeuer entzünden wollte.
Doch er war nicht da.
Mit ihren bloßen Händen grub Janice rasch möglichst nasse Erde und ein paar Steine aus und warf sie in die Flammen. Glut und heiße Asche wirbelte durch die Luft.
Landete auf ihr.
Sie spürte den Schmerz nicht, aber dennoch das Entsetzen und die Verwirrung, welche viel schlimmer waren.
Von einem Moment auf den anderen, lief sie einen schmalen, verwucherten Waldweg entlang.
Die Tannen sahen aus, als sie mit schwarzen Schleim übergossen wurden, der jetzt in langen Fäden hinunterfloss.
Schatten flossen.
Tropften.
Wie Wasser.
Nein.
Sie krochen.
Krabbelten.
Wie Insekten.
Wie ein wildes Gewusel von tausenden Kleintieren.
Mit einem mal wurde ihr vollständig bewusst, an wessen Seite sie all die Jahre über gelebt hatte.
Mit wem, mit was, sie gemeinsam das Licht der Welt erblickt hatte.
Janice fühlte sich irgendwie fiebrig. Sie blickte nach oben, wo der Himmel sein sollte. Dort war jedoch nichts, als ein gigantisches, dunkles Loch.
Ohne Horizont.
Sie wollte zurückgehen.
Zu ihrem Lager, zu irgendwelchen Menschen die ihr helfen konnten, oder einfach nur nach Hause.
Zu ihrer Schwester.
Doch es gab kein zurück.
Nicht für sie.
Der Boden wurde unter Janice's Füßen weggerissen.
Farben, Gefühle, Gedanken wirbelten wild umher.
Disharmonie.
Einsamkeit.
Eindrücke ohne Worte.
Worte ohne Sprache.
Die Augen schließen und immernoch sehen.
Licht.
Dunkel.
Licht.
Dunkel.
Liebe.
Hass.
Zuneigung.
Verachtung.
Trauer.
Wut.
Und noch so vieles mehr, wofür sich aber keine Worte fanden.
Dinge, die in keiner Sprache existieren.
Dinge, von denen niemand weiß, dass es sie gibt.
Dinge, die bereits seit Jahrtausenden existieren.
Versteckt.
Verborgen.
Lauernd.
Beobachtend.
Für einfache Menschen weder sicht - noch spürbar.
Doch Janice hatte es angelockt.
Janice hatte es Raum gegeben.
Es griff nach ihr.
Janice starb.
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