Zweiter Teil

Du auch?
Ja. Es ist meine Schuld, nicht wahr?
Das habe ich nie gesagt.
Ich aber.
Das alles hätte garnicht passieren müssen.
Aber so ist das Leben. Es geschehen ständig Dinge, mit denen niemand rechnet.
Nicht so.
Ich mache dir keinen Vorwurf.
Ihm solltest du aber auch keinen Vorwurf machen.
Aber...
Er ist nicht böse. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt weiß, was "böse sein" bedeutet.
Gut und Böse sind Dinge, an die nur Menschen glauben. Dinge, die nur Fantasien der Menschen sind.
So kenne ich dir garnicht.
Ich weiß. Ich auch nicht.
Wie lange wird es noch ein "ich" geben?
Wovon redest du? Es gab noch nie ein "ich". Es gibt kein "du" oder "uns". Und jetzt wird dies auch niemals existieren können. Nie wieder. Jemals.
Ist das Schicksal? Oder wurden wir einfach nur zufällig in dieses Leben hineingeboren?
Leben? Das war kein Leben, welches wir führten. Ich war nur ein einziges mal frei. Und ich musste einen hohen Preis dafür zahlen.
Das ist nicht gerecht.
Glaubst du ernsthaft noch an Gerechtigkeit? Gerade du müsstest doch wissen, wie unfair alles ist.
Du hasst sie, nicht wahr?
Ja. Ja, ich hasse sie alle. Verstehst du es jetzt endlich? Ich bin dafür verantwortlich. Hör auf, allen immer wieder zu verzeihen. Wut und Hass sind menschlich. Die menschlichsten aller Gefühle.
Wenn das so ist, dann möchte ich kein Mensch sein. Wenn alles nur darauf hinausläuft im blinden Zorn andere zu verletzen, nur damit es einem selbst besser geht.
Ist das hier nicht die Erlösung, vom "Mensch sein"?
Wer sagte, dass Erlösung immer etwas positives ist?
Ich glaube, dass es nicht geplant war, dass du ein Mensch wirst.
Hör auf damit. Es ist mir egal, wer oder was ich bin. Ich bin dankbar für alles, was ich habe. Mein einziger Wunsch ist es nur, nicht alleine zu sein.
Ist das wirklich deine Meinung?
Ja. Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.
Es gibt nichts von mir, dass man noch irgendwie sehen könnte.
Wohin gehst du?
Nirgendwo.
Gibt es hier Zeit?
Nicht in dem Sinne.
Aber er wächst. Er bekommt immer mehr Substanz. Er entwickelt immer weiter, eine eigene Persönlichkeit.
Können wir sterben, wenn wir schon tot sind?
Etwas ähnliches. Er muss sich nur an uns erinnern. Er darf uns nicht vergessen. Er ist so einsam.
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Victoria erwachte, in der Hoffnung, dass dies nur eine Einbildung gewesen war. Obgleich sie nichts von Einbildungen hielt. Ihr wurde schlecht, als sie erneut den Leichnam erblickte. Da die Tür, anscheinend von selbst, ins Schloss gefallen war, konnten keine weiteren Insekten in das Haus gelangen. Jedoch waren es mehr als genug, da ihr Summen und Brummen den gesamten Flur zu füllen schien.
Hastig erhob sie sich, eine behandschuhte Hand gegen Mund und Nase gepresst.
Ein Schatten viel auf sie. Victoria hob den Blick. Etwas sprang von der Decke und landete, wie eine Spinne, auf allen vieren vor ihr.
Sie taumelte erschrecken zurück und verlor das Gleichgewicht. Vielleicht hätte sie doch lieber auf die High - Heels verzichten sollen.
Sie starrte es an.
Und es starrte sie an.
Diese ganze Situation wurde mit einem mal so bizarr, dass sie momentan einfach nicht dazu in der Lage war, sich ernsthaft zu fürchten.
Es legte den Kopf schief. Fast schon fragend.
Dieses Wesen wirkte...menschlich.
Irgendwie.
Mehr oder weniger.
Allerdings bewegten Menschen sich nicht so, als ob sie dies zuvor noch nie getan hätten.
Als ob sie sich erstmal daran gewöhnen müssten.
Als ob ihnen der eigene Körper völlig neu wäre.
Fremd.
Es trug ein schlichtes, dennoch schickes, blaues Kleid mit einer weißen, spitzenbesetzten Strumpfhose.
Victoria erinnerte sich verschwommen daran, Elizabeth oft mit diesem, oder ganz ähnlichen, Kleid gesehen zu haben.
Doch wie sah Elizabeth nochmal aus?
Es setzte sich hin.
Im Schneidersitz.
Victoria fand langsam ihre Sprache wieder.
,,Wer zum Teufel bist du?!"
Es blinzelte.
,,Nicht der Teufel."
Etwas an dieser Stimme war eigenartig.
Sie klang weder männlich, noch weiblich.
Geschlechtslos.
,,Das ist nicht die Antwort, die ich haben wollte! Lass mich sofort gehen!"
,,Charlie hält dich garnicht fest." Erwiderte es. Victoria's befehlender Tonfall sorgte meistens dafür, dass sie auf der Stelle ihren Willen bekam. Sie wirkte einschüchternd, deshalb konnte sie auch so gut mit Kindern umgehen.
Generell, mit schwierigen Menschen.
Doch dieses etwas, zeigte sich ziemlich unbeeindruckt.
Victoria stand entschlossen auf und ging mit erhobener Hand auf das Wesen zu. Eine kleine Tracht Prügel, hatte noch niemanden geschadet.
Im Gegenteil, es war seid Jahren die beste Erziehungsmethode. Menschlich, oder nicht, es wirkte auf keinen Fall wie ein Erwachsener.
Und darin sah Victoria ihre Chance. So konnte sie ihre Angst verbergen.
Doch plötzlich viel lebloses Fleisch auf den Teppich, direkt vor ihre Füße.
Sie hatte keine Hand mehr.
Dort war nurnoch ein blutiger Armstumpf aus dem der, gerade zu verblüffend, weißer Knochen herausragte.
Victoria stand unter Schock.
Sie fühlte nichts.
Sie dachte nichts.
Ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
,,Janice meinte, dass du das verdient hättest. Was sagte sie zu Charlie...gerechte Strafe?"
Es klang nicht boshaft, oder etwas in der Art.
Eher Neugierig.
,,Warum..." brachte Victoria hervor.
Sie lag am Boden und konnte nicht aufstehen.
Etwas hatte ihre Beine durchtrennt.
Charlie verschwand aus ihrem Sichtfeld.
Das wenige, was von ihrem gesunden Verstand übrig geblieben war, teilte ihr mit, dass sie logischerweise schon bald verbluten würde.
Sie sah bereits ihr Leben an sich vorbeiziehen.
All diese kleinen, bleichen Gesichter, die voller Furcht zu ihr aufsahen.
Darunter auch Janice und Elizabeth.
Sie hatte nie etwas, wie Mitleid empfunden.
Sie dachte, es wäre nur richtig, was sie tat.
Sie dachte, dass sie die Familie auf diese Weise stolz und groß machen könnte. Niemand hatte ihr jemals beigebracht, dass es falsch war, den eigenen Unmut an anderen Menschen auszulassen und sich dabei einzureden, dass dies für einen guten Zweck ist.
Was wäre, wenn nicht die anderen, sondern die eigene Familie, das eigene Fleisch und Blut, die verdorbenen sind?
Victoria starb, ohne das irgendjemand um sie trauern würde.
Die letzten, goldenen Strahlen der untergehenden Sonne, trafen auf Charlie, als er hinausging.
Schienen ihn überfluten zu wollen.
Er fühlte nichts, von deren Wärme.
Ohne zurückzublicken, ließ er das Anwesen zurück.
So, wie Janice es einst getan hatte.
Nieselregen.
Lautlos vielen kleine, Lichtreflektierende Kristalle zu Boden.
Für den Bruchteil einer Sekunde, weniger als ein Atemzug, noch weniger als ein Wimpernschlag, spiegelte sich die Welt in ihnen.
Dann verschwanden sie.
Sie vielen vom Himmel.
Immer wieder, nur um ein paar Sekunden zu existieren.
Zu existieren, ohne jemals genau zur Kenntnis genommen zu werden.
Beinahe wie Menschen.
Nur mit dem Unterschied, dass Regen nicht stetig nach mehr verlangte.
Regentropfen verdrängten aneinander nicht.
Sie waren eins.
Menschen wollen immer mehr sein, als sie eigentlich waren.
Eine Person hätte zu mehr fähig sein können.
Charlie wusste es.
Doch sie wollte Mensch bleiben.
Obwohl sie keiner war.
Obwohl sie keiner sein sollte.
Eine andere Person gelang es, doch dafür musste sie ihre Existenz aufgeben.
Sie beide verloren ihre Menschlichkeit.
Die eine völlig, die andere stieg zu etwas auf, wofür Menschen es an Bezeichnungen mangelte.
Wofür Menschen keine Gedanken haben.
Und wenn doch, würden sie ihren Verstand verlieren.
Sie würden plötzlich anders denken.
Klarer?
Sie würden Wahrheiten sehen können.
Und das wird zu verhindern versucht.
Weil sie letztendlich nicht dafür ausgelegt sind.
Es gibt Menschen, die nicht das sein sollten, was sie sind.
Nach und nach gingen die Laternen an.
In der Ferne, die Lichter einer Stadt.
Die Nacht breitete sich langsam aus, wie verschüttete Tinte.

,,Es sind hier ne Menge Gauner unterwegs, weißte? Is nichts, für so n junges Ding wie dich. Glaub mir, ich lebe hier schon ne ganze Weile."
Charlie schwieg. Er war dem Obdachlosen, der ihn vor ein paar Minuten angesprochen hatte, gefolgt zu eine Zelt, dass nur aus aneinander gelehnten Ästen und ein paar alten Decken und Jacken bestand.
Der Mann hatte sich als "Gregory" vorgestellt.
Charlie hatte ihn gerochen, bevor er ihn überhaupt gesehen hatte.
Kalter Rauch.
Alkohol.
,,Es tut gut, sich mal wieder mit jemanden anständig zu unterhalten, verstehste? England ist n einziges, nasses Drecksloch. Wenn ich könnte, würde ich sofort auswandern. Aber weißt'e auf meine alten Tage..."
Charlie sah den Mann interessiert an.
,,Kindchen, kann ich dir iwi weiterhelfen? Ist das so ne Art Mottoparty auf die du gehst? Wegen diesen Ohren und den Make - up? Ach ja...die jungen Leute heutzutage. Was die sich alles einfallen lassen, nh. Ist schon nett. Wie heißte eig?"
,,Charlie."
Der Mann lachte.
Charlie überlegte, warum er dies tat.
Ein seltsames, unbekanntes Gefühl beschlich ihn.
Janice hätte bestimmt einen Begriff dafür gehabt.
Sie hätte es mit Sicherheit benennen können.
Doch Charlie wusste, dass er sie momentan nicht danach fragen konnte.
Er hatte sie an einen Ort geschickt, an den sie für immer bei ihrer Schwester, die sie so sehr liebte, bleiben konnte.
Ein neues Gefühl stieg auf.
Er wusste nicht, wie es hieß.
Es war etwas angenehmes.
War es das?
Charlie besah sich seine, Elizabeth's, Hände auf denen sich die Schwärze ausgebreitet zu haben schien.
Schwärze.
Dunkelheit.
Verdrängung.
Warum mochten die Menschen dies nicht?
War es Furcht?
Doch was war Furcht?
Warum fürchten Menschen sich vor etwas, was sie noch nicht einmal wirklich wahrnehmen?
Warum fürchten sie sich vor Dingen, dessen Existenz sie sogar leugnen wollen?
Warum fürchtete Charlie sich nicht davor?
Weil er Charlie war.
Weil es Charlie war.
Weil er zu diesen Dingen gehörte?
Seine fleischliche Hülle konnte nicht vollständig verbergen, was er war.
Doch was war er?
Das Leben lebte überall dort, wo es seine Möglichkeit fand.
Jedes Lebewesen hatte seine Feinde.
Janice konnte nicht sagen, was er war.
Sie fand keine Worte.
Keine klaren Gedanken.
Für ihn wusste sie alles.
Tat sie das?
Charlie stand auf. Gregory sah zu ihm auf, blieb jedoch sitzen.
,,Gehste schon wieder? Nunja, haste recht. Is schon ziemlich spät, nh. Weißte, die Menschen sin' alle erst richtig glücklich, wenn se' wissen, dass es anderen viel schlechter geht, als ihnen. Merk dir das."
Er hickste und nahm das Mädchen genauer in Augenschein.
Etwas war...komisch.
Charlie wollte gerade gehen, als der Obdachlose sich schwankend erhob und ihm eine Hand auf die schmächtige Schulter legte.
Charlie drehte sich um.
Im selben Augenblick, als der Mann in diese teilnahmslosen und trotzdem irgendwie ungewöhnlich lebendigen Augen, als ob zwei verschiedene Persönlichkeiten versuchten, sich einen Körper zu teilen, sah, brach sein Genick.
Er konnte es hören, bevor er auch nur Überraschung empfinden konnte.
Er war sofort tot.
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