Testificor

»DU SIEHST SCHEISSE AUS.« Luke war so empathisch, dass es beinahe wehtat. Dennoch war ich froh, dass der kräftig gebaute Kerl mich endlich aufgegabelt hatte.

Nach meinem Aufenthalt in der Kirche war ich eine Zeit lang durch das nächtliche Eichenstedt geirrt. Niemals hätte ich mit vorstellen, können, wie angsteinflößend diese beschauliche Stadt wirken konnte, wenn man auf der Flucht war. Witzigerweise kam ich mir vor, als hätte ich etwas verbrochen. Wie ein Ganove, der sich vor der Polizei versteckte. Dabei war das Gegenteil der Fall. Es waren die Verbrecher, die hinter mir her waren, und ich wusste nicht, was passieren würde, wenn sie mich fänden.

Schließlich war es Lukes kleiner Opel, der sich von hinten an mich anpirschte. Reflexartig setzte ich erneut zum Sprint an. Seine tiefe Stimme gab den Detektiv aber noch rechtzeitig zu erkennen.

»Was ist denn passiert? Dein Funkempfänger ist nicht mehr zu erreichen.« Bevor er losfuhr, löcherte Lukas mich mit tausend Fragen, die ich vorher in meinem Kopf sortieren musste, um überhaupt ein Wort rausbringen zu können.

»Kaputt. Bin draufgetreten«, war meine knappe Erklärung zum Funksignal.

»Draufgetreten? Wenn das der Boss spitz kriegt.«

»Alter! Ist das deine einzige Sorge?« Der Adrenalincocktail in meinem Blut ließ mich ruppiger werden, als ich mich selbst kannte. »Ich bin gerade quer durch die ganze Stadt gerannt, auf der Flucht vor einem Haufen Verbrecher, die wer weiß, was mit mir angestellt hätten. Und alles nur, weil ihr mit eurem scheiß Rasselbock in mein Leben gepoltert seid! Ich hätte mich niemals auf diesen bescheuerten Deal einlassen dürfen.«

Luke fuhr ruckartig an und bretterte über das Kopfsteinpflaster.

»Wenn du nicht auch noch willst, dass ich dir das Auto vollkotze, solltest du langsamer fahren. Mir ist speiübel wegen eurer dämlichen Idee, mich als Spionin loszuschicken.«

»Das war Saskias Einfall, schon vergessen?«

»Was mir komplett am Arsch vorbeigeht! Ich will jetzt mein Geld haben und euch nie wiedersehen. Und die Geschichte mit den Fabeltieren glaubt mir eh kein Schwein. Also keine Sorge deswegen.«

»Hast vermutlich recht«, war alles, was Luke noch sagte, bevor er herzhaft gähnte und weiterhin viel zu rabiat zur Garage zurückfuhr.

Das Grummeln in meinem Magen wurde mehr. Glücklicherweise war meine letzte Mahlzeit schon eine Weile her, sodass sie beschloss, zu bleiben, wo sie war.

Als wir die Detektei erreicht hatten, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett 23:24 Uhr an. Ich war mir nicht sicher, ob das spät war. Nach all dem, was passiert war, hätte ich eher vermutet, dass der nächste Tag bereits begonnen hatte.

Noch immer schlotterten mir die Knie und jetzt, da es sich weiter abgekühlt hatte, fror ich in meinen schweißnassen Klamotten wie ein Schneiderlein. Im Inneren der Garage konnte ich ein bläuliches Licht erkennen. Momo hockte wieder mal vor seinem PC. Irgendwann kriegt er noch eckige Augen. Als er uns hereinkommen sah, schob er den Laptop zur Seite und eilte uns entgegen.

»Verflucht, was ist denn passiert? Wir konnten dich nicht erreichen, Lex. Luke ist ewig herumgefahren, um dich zu finden. Was konntest du sehen? Wir haben die Polizei dorthin geschickt! Hast du dir Gesichter gemerkt? Ich habe dir einen Tee gekocht. Haben sie gesagt, wo sie als Nächstes zuschlagen wollen? Setz dich erst mal. Weißt du, wo ihre Anführer sind? Willst du noch ein paar Kekse? Bist du verletzt? Wo sind deine Perücke und die Jacke?«

Momo konnte reden, ohne Luft zu holen. Dabei wurde seine Stimme von Frage zu Frage schriller. Selbst das Zuhören machte einen fix und fertig.

»Darf ich erst mal ankommen? Ich bin um mein Leben gerannt. Ich –« Meine Beine versagten ihren Dienst. Lukes starken Arme konnten mich gerade noch abfangen. Gemeinsam mit Mohammad hievte er mich auf das kleine Ledersofa im Eingangsbereich der Detektei.

Ehe ich bis drei zählen konnte, breitete sich eine hellblaue Pummeleinhorn-Kuscheldecke über mich aus und ich hatte eine Teetasse mit Wrestling-Motiven drauf in der Hand. Zwei besorgte Augenpaare starrten mich an, als ich mit zitternden Händen einen Schluck Pfefferminztee zu mir nahm. Auch der Rest meines Körpers glich dem eines Epileptikers.

»Schhhh, ganz ruhig, Lex. Du bist jetzt in Sicherheit.« Momo streichelte fürsorglich meinen Oberarm und auch Lukas rieb sich nervös das Kinn, als er mich in meinem Elend betrachtete.

»Geht schon, danke.« Tatsächlich schaffte ich es, jetzt, wo ich Zeit dafür hatte, mich mit ein paar Atemübungen herunterzufahren. Fräulein Strupp hatte uns das beigebracht, für den Fall, dass das Lampenfieber zu stark wurde. Zum zweiten Mal an diesem vermaledeiten Abend konnte ich meiner ehemaligen Schauspiellehrerin danken.

»Scheiße, man. Luke, wir hätten das nicht tun dürfen.« Momo griff sich an den Hals und wuschelte sich anschließend durch seine dunklen Locken. »Wir haben das komplett falsch eingeschätzt. Um ehrlich zu sein, hatte ich sogar damit gerechnet, dass der anonyme Hinweis eine Finte war. Alexis hätte nach ein paar Minuten lachend Bescheid geben sollen, dass sie nichts gefunden hat, und damit wäre die Geschichte gegessen gewesen. Mist.«

»Das war mitnichten eine Falschmeldung, das kann ich euch versichern«, sprach ich und trank einen weiteren Schluck Tee.

Nachdem ich die beiden überzeugen konnte, dass ich wieder unter den Lebenden weilte, begannen wir, über meine Erlebnisse, ähm, Ergebnisse zu sprechen. Ich hoffte, dass ich dabei kein Detail ausließ. Momo tippte alles auf seinem Notebook mit, so schnell, dass es klang, wie ein Hagelschauer.

»Und der Kerl mit dem Tattoo stand einfach da und hat dich nur angestarrt?«, hakte Luke nach, nachdem ich ihm von meinem Erlebnis mit dem definitiv ominösesten Typen dieser Veranstaltung erzählt hatte.

»Er starrte mir in die Augen und als der Mann mit den Hunden kam, wirkte er kurz verwirrt und flüchtete so schnell, dass ich nicht sehen konnte, in welche Richtung. Na ja und dann kam aber schon der Kerl mit dem Pferdeschwanz um die Ecke.« Ein Detail ließ ich bei meiner Erzählung bewusst aus:

Dieses unerklärliche Gefühl, welches sich wie ein Schauer in mir ausbreitete, sobald der Tattoomann in der Nähe war. Ich konnte es selbst nicht einordnen und wollte zunächst abwarten, was die Ermittlungen ergaben. Außerdem (und das war wohl der eigentliche Grund für mein Schweigen) wollte ich diesen esoterischen Unsinn nicht vor fremden Leuten erzählen. Auch, wenn diese sich mit Fabeltieren befassten. Vielleicht war es einfach nur die Angst, die mir einen Streich gespielt hatte. Aber apropos Ermittlungen:

»Ihr habt die Polizei benachrichtigt?«, fragte ich, nachdem ich den Pfefferminztee ausgetrunken hatte.

»Wir haben nichts davon gesagt, dass wir eine verdeckte Ermittlerin dorthin geschickt haben«, begann Momo, mich aufzuklären. »Aber da sich die Hinweise nach deinem Kontaktverlust offensichtlich bestätigt hatten, war die Chance groß, dass die Polizei die Gauner auf frischer Tat ertappen konnten. Hoffe ich zumindest. Hier in der Provinz ist die Polizei nicht immer so schnell vor Ort, wie man das gerne hätte.« Momo machte eine Pause und guckte mich schuldbewusst an. »Lex, ähm. Die Sache ist die«, begann er zu drucksen.

»Was?« Ich ahnte, dass ich nicht, wie geplant, nach dem heutigen Abend raus aus der Nummer sein würde.

»Wir haben ja selbst nicht damit gerechnet. Aber du bist jetzt die Kronzeugin in dem Fall. Für Rückfragen musst du definitiv weiterhin zur Verfügung stehen. Ruf uns um jeden Preis an, wenn dir noch mehr einfällt.« Momo warf seinem großen blonden Kollegen einen unsicheren Blick zu. Dieser kaute auf seiner Unterlippe herum und nickt schließlich.

»Mo hat recht«, sagte er mit angezogenen Schultern. »Wir wissen noch nicht, was die Polizei heute Nacht alles erreichen wird, aber wenn der Boss am Dienstag wiederkommt, wird er mit Wilhelm über die Sache sprechen und der will nichts aus zweiter Hand erfahren. Also wäre es flockig, wenn du –«

»Wenn ich am Dienstag dabei bin und eurem Boss und diesem Wilhelm alles selbst noch einmal erzähle«, unterbrach ich Luke. Was sonst versuchte er, mir zu sagen, wenn nicht, dass ich doch nicht so einfach aus der Nummer rauskommen würde, wie gehofft?

»Machst du das? Ne, weißt du. Das mit der Bezahlung, also deiner Abfindung, das ist auch nicht so leicht, wie Saskia sich das vorstellt. Ohne Marlowe können wir das nicht machen«, erklärte mir Momo mit aufgerissenen Augen.

»Ganz ehrlich? So was in der Art habe ich mir schon gedacht«, gab ich zu und hatte prompt das nächste Date mit den Schnüfflern vom Dienst:

Am kommenden Dienstag.

Gegen 16 Uhr.

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