Similis simili gaudet / Part 1

»NÄCHSTER HALT: EICHENSTEDT: Ausstieg in Fahrtrichtung links.« Der eichenstedter Bahnhof weckte Erinnerungen. Vor ungefähr zwanzig Wochen befand ich mich auch einmal an diesem Ort. Im Schlepptau einer Trickbetrügerin. Unser Kurzbesuch im nahe gelegenen Hotel Sonnenschein endete in einem SEK-Einsatz. Was für eine wilde Zeit.

Die Regionalbahn fuhr in Eichenstedt ein. Nicht mehr lange und ich würde wieder an dem Ort sein, an dem eines meiner aufregendsten Abenteuer stattfand. Vermutlich eher das aufregendste Abenteuer meines Lebens. Die vergangenen vier Wochen in Hamburg zählten definitiv nicht dazu. Der Bürojob in der Kanzlei meiner Mutter war genau das, was ich erwartet hatte. Posteingänge abstempeln, eintragen, abheften. Postausgänge versandfertig machen und eintragen. Einnahmen und Ausgaben verwalten und eintragen. Telefonate führen und eintragen. Klienten trösten oder deren schlechte Laune ertragen, in jedem Fall aber ihre Anwesenheit protokollieren. Selbst der Blick aus meinem Bürofenster konnte mich nicht erhellen. Meine Mutter hatte eine Etage in der Hamburger Innenstadt gemietet. Inmitten weiterer Sandsteinfassaden. Tagein, tagaus nur diese beigefarbenen Häuser, dazu das trübe Hamburger Wetter.

Auch das Verhältnis zu meiner Mutter war angespannt. Wir standen uns nie sehr nah, kamen bis zu meinem Auszug vor etwa fünf Jahren aber zumindest gut miteinander aus. Das schien sich nun geändert zu haben. Vielleicht hatte auch ich mich geändert. Zu sehr. Mehr als ich mir selbst eingestand. Die Zeit in Eichenstedt hatte mich mehr geprägt als die drei Jahre zuvor in Berlin. Ich war nicht mehr dieselbe. Ben und die anderen hatten recht. Du kannst mit dem, was ich jetzt wusste, nicht einfach so normal weiterleben, wie zuvor.

Ich hatte bislang jedoch noch keine Gelegenheit gefunden, an einem Theater vorzusprechen oder an einem Casting teilzunehmen. Welche Alternative hatte ich also? Und ich hatte immerhin wieder Kontakt zu meiner Familie und einigen meiner alten Schulfreunde. Alles andere würde sich schon irgendwann einspielen.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr warf ich einen Blick zur gegenüberliegenden Kaufmannstraße und dem Hotel Sonnenschein. Ob es seit meinem Umzug Anfang Januar weitere Betrugsfälle gegeben hatte? Wie viele Fabelwesen hatten Luke und die anderen wohl in dieser Zeit gerettet? Hatte die Creatura Fabularis das Vampir-Problem wirklich unter Kontrolle?

Als ich ausstieg und den ersten Schritt auf Eichenstedter Boden machte, hatte ich ein seltsames Gefühl. Irgendeine Schwere hing in der Luft. Vielleicht lag es auch nur am Wetter. Heftige Stürme wüteten übers Land. Momo hatte mir am 18. Januar eine E-Mail geschrieben, dass in Eichenstedt mehre Bäume entwurzelt wurden. Ein Radfahrer hatte demnach Glück im Unglück, als er an jenem Donnerstagmorgen im Alleenring unter dem Astwerk eines Baumes begraben wurde. Sturmtief Friederike hatte ganze Arbeit geleistet.

Am heutigen Sonnabend wollte ich endlich Tuyet und Liem wieder besuchen und Anfang der Woche einige Behördengänge tätigen. Ende des Monats lief mein Mietvertrag aus und ein bisschen Krempel hatte ich immer noch hier in Eichenstedt. Vorher stand aber selbstverständlich ein Besuch bei meinem ehemaligen Arbeitsplatz auf der Agenda.

Als ich mich zu dem kleinen Parkplatz neben dem Bahnhof begab, sah ich einen schwarzen Ford Mondeo aus einer Parklücke fahren. Ich hatte Luke erwartet, der mich abholt. Aber es war mein ehemaliger Boss, der sich die Mühe machte.

Ich hatte Ben seit unserem Einsatz in der „Villa am Osthang" nicht mehr gesehen. Er war bereits am darauffolgenden Tag zu seiner Familie nach England geflogen. Ich verließ Eichenstedt nur einen Tag später.

»Welcome back, Ms Emmerich«, begrüße er mich in feinstem Britisch. Das hatte ich vermisst.

»I am very pleased to see you, Mr Marlowe.« Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und hörte hinter mir das vertraute Winseln von Charles Philip Arthur George, Bens royalem Corgi, der tatsächlich mit den Hunden der Queen verwandt war, wie mir Momo einmal erzählte.

»Wie stehen die Dinge im Harz?«, fragte ich Ben, während ich Karlchen hinterm Ohr kraulte.

»Soweit alles ruhig. Vom Wetter mal abgesehen«, antwortete er und lugte durch die Frontscheibe zum Himmel rauf.

»Wie geht es den anderen?«, fragte ich ihn nach Mohammad, Lukas und Saskia.

»Momo fliegt am Montag nach Japan«, verkündete Ben mit einem flüchtigen Grinsen.

»Hat sich seine Sakura Takahashi wirklich bei ihm gemeldet?« Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich beinahe vor Freude vom Sitz aufgesprungen. Momo war seinem großen Traum nun endlich so nah wie nie zuvor.

»Ich hoffe allerdings für ihn, dass er sich beim Thema Urheberrechte nicht übers Ohr hauen lässt. Sonst steckt sich Sakura den ganzen Ruhm in die eigene Tasche.« Da sprach Ben etwas an, womit ich die vergangenen Wochen des Öfteren zu tun hatte. Da die Geschäftspartnerin meiner Mutter auf Wirtschaftsrecht spezialisiert war, musste ich einige solche Fälle abheften.

»Und was macht Wilhelm?« Ich wusste, dass es unhöflich war, dennoch umschiffte ich die Frage danach, wie es Ben selbst ging, großräumig.

»Er ist laut, fröhlich und mopsfidel«, beschrieb Ben den ehemaligen Polizisten genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

In der Neujahrsnacht hatten mein Ex-Boss und ich das Schlosshotel gegen 3 Uhr verlassen, nachdem die allermeisten Gäste bereits gegangen waren. Wir sprachen nicht mehr viel miteinander. Erst recht nicht über seine Panikattacke. Ich wusste bis heute nicht, was diese ausgelöst hatte und ob das alles mit diesem Vorfall in London zusammenhing und für sein distanziertes Verhalten anderen Menschen gegenüber verantwortlich war.

Ich wollte ihn zu nichts drängen, ihm aber das Gefühl geben, dass er, wenn er dies möchte, immer ein offenes Ohr bei mir finden konnte. Nachdem er mich damals zu Hause abgesetzt hatte, umarmte ich ihn zum Abschied ganz fest. Fest und lange. Ich hoffte für ihn, dass er eines Tages die Kraft fand, sich jemanden öffnen zu können.

Wir mussten an einer roten Ampel halten. Eine gute Gelegenheit, mal wieder die Pokémon Go-App zu öffnen und eines meiner Pokémon in eine eichenstedter Arena zu platzieren.

»Du spielst das noch?«, fragte mich Ben erstaunt und linste interessiert auf mein Handy.

»Natürlich!«, erwiderte ich fröhlich. »Da kommen die Urinstinkte als Jäger und Sammler so richtig auf ihre Kosten. Aber eigentlich mag ich besonders, dass man dadurch so viele neue Orte entdecken kann, wenn man alle Arenen und PokéStops finden will. Na ja, immerhin habe ich auf diese Weise auch Momo, Luke und den Rasselbock getroffen.« Als ich das erzählte, spürte ich einen kleinen Stich im Herzen. Diese schicksalhafte Nacht fühlte sich mittlerweile an, wie ein längst vergangener Traum.

»Vielleicht sollte ich das auch mal wieder spielen«, murmelte Ben und fischte sein Smartphone aus der Manteltasche.

»Sag nicht, du hast das auch?!« Überrascht beobachtete ich, wie Ben seine Apps durchforstete und schließlich auf das Icon mit dem rot-weißen Pokéball drückte. »Dann kannst du mir ja immer mal ein Geschenk aus Eichenstedt schicken!«, schlug ich aufgeregt vor.

Die Ampel sprang auf Grün. Ben reichte mir sein Handy, damit ich meinen Trainercode in sein Spiel eintippen konnte. Ich bestätigte seine Freundschaftsanfrage auf meinem Gerät und schickte ihm gleich mal ein Paket samt Postkarte von der Haltestelle Hamburg-Altona.

»Das hätte ich dir gar nicht zugetraut«, sprach ich ihn weiter auf das Spiel an.

»Was? Pokémon? Das war ein großes Thema in meiner Jugend. So ganz kommt man davon nicht mehr los, schätze ich.« Es war schön, dass ich ihn heute wieder lächeln sah. Die Bilder vom Jahreswechsel saßen mir dennoch in den Knochen.

»Ich habe zu Hause auch noch eine Menge alter Gameboy-Spiele und eine Nintendo 64«, schob er wie selbstverständlich nach.

»Nicht dein Ernst! Mensch, Ben, da kommen ja auf einmal Seiten von dir zum Vorschein«, jubilierte ich, während Charles munter bellte.

»Na, hör mal. Auch wenn du mich für ein Fabelwesen in disguise hältst, bin ich auch nur ein normaler Kerl.« Ben zuckte kurz mit der Augenbraue und warf mir aus dem Augenwinkel einen neckischen Blick zu.

»Davon zeigst du der Öffentlichkeit aber recht wenig«, stichelte ich zurück.

Er schwieg einen Augenblick, rückte dann aber mit weiteren Enthüllungen raus.

»Ich spiele oft. Besonders nach einem Fall. Playstation, zum Beispiel. Ne alte SEGA habe ich auch noch irgendwo. Kennst du Sonic?«

»Ben der Gamer! Bin ich wirklich im richtigen Eichenstedt ausgestiegen?« Bei der Buchung der Zugreise musste ich bereits aufpassen, nicht aus Versehen in Eichstedt in der Altmark oder sogar in Eichstätt in Bayern zu landen.

»You don't believe me?«, fragte er mich herausfordernd.

»Not a single word! Du spielst nur Schach und führst ansonsten ein trostloses Leben. Das ist der Mr Marlowe, den ich kenne«, nahm ich die Herausforderung an und stichelte noch ein bisschen weiter.

»So siehst du mich also?«

»So lässt du mich dich sehen, ja.«

Ben nickte und schien wieder in seiner Lethargie zu versinken. Dann jedoch passierte etwas Unerwartetes. Mitten im Stadtverkehr wendete er sein Auto in einem riskanten Manöver. Einige Autos hupten. Ich klammerte mich vor Schreck am Haltegriff über der Beifahrertür fest und schloss für ein paar Sekunden die Augen.

»Was wird denn das, wenn's fertig ist?«, rief ich erschrocken aus.

»Wir fahren zuerst zu mir. Dann wirst du schon sehen.«

»Das klingt ja wie eine Drohung. Muss ich mir Sorgen machen?«

»Maybe.«

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