Nessiteras rhombopteryx / Part 2

»IT ETAMA OT NA SOUWE enei Piddi. Rin lapsche et rina teibig gamaduka.« Elmar Clausen packte sich unter einen alten Baum und fing an, in seinem Rucksack herumzukramen.

»Verzeihen Sie, was sagten Sie?« Momo rückte seine Brille gerade und beäugte den Kryptozoologen, als wäre dieser selbst ein Fabeltier.

»Das, meine jungen Freunde, ist Yeti-Sprache«, verkündete Elmar stolz. »Mein Ururgroßvater, Egbert Clausen, hat die letzten Exemplare dieser Spezies tief im Himalaja-Gebirge getroffen, bevor sie die Erde für immer verlassen haben und eine neue Heimat auf dem Planeten Aksala gefunden haben. Ihre Sprache hat sich in unserer Familie bis heute erhalten.«

Elmar biss in seine Bemme, löffelte in seinem Pudding herum, strich sich ein paarmal über seinen graumelierten Zehntagebart und schien sich keine weiteren Gedanken mehr zu seiner getätigten Aussage und was wir darüber dachten, zu machen.

»Luke, bist du sicher, dass dieser Mann bei Verstand ist?«, wandten Momo und ich uns an Lukas, der sich verlegen am Hinterkopf kratzte.

»Das müsst ihr so hinnehmen. Ich kenne ihn nicht anders und bin daran bereits gewöhnt. Er ist, ja, speziell. Aber eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kryptozoologie. Die CF hat ihn nicht umsonst mit ins Boot geholt.«

Nach der langen Fahrt und dem noch längeren Fußmarsch taten wir es dem Professor gleich und aßen ebenfalls einen Bissen. Es war bereits Abend geworden. Die letzten Touristen machten sich auf den Heimweg und unsere Suche nach dem angeblichen Wasserdrachen konnte losgehen.

»Wo und wie fangen wir an, zu suchen?«, fragte ich Elmar Clausen, der wieder vor sich hin nuschelte.

»Hmm, hnnmennnmemne.«

»Er sagt, wir sollten vor allem das Zentrum des Staubeckens im Auge behalten«, übersetzte Luke seinen Meister. »Momo, schlagen deine Instrumente irgendwie aus?«

Momo verzog den Mund und spielte an seiner Brille herum. »Ich bin nicht sicher. Bislang hat es nie richtig funktioniert, aber wenn ich mich nicht irre, wird mir mitten im See ein roter Punkt angezeigt, der sich rasch bewegt.«

»Apprie!«, quiekte Elmar und rieb sich die Hände. »Kann eure Lexi sich ans Ufer stellen und das Tierchen anlocken?«

»Das hat zumindest beim Rasselbock funktioniert«, grübelte Luke und sah mich fragend an. »Würdest du wieder einen auf unbeteiligt machen?«

»Natürlich, aber versprechen kann ich nichts.« Bis auf den Rasselbock war uns bislang kein weiteres Fabeltier begegnet, bei dem ich diesen Trick hätte erproben können. Den Poltergeist zählte ich nicht dazu.

Nichtsdestotrotz stiefelte ich an den Rand des Stausees der Rappbodetalsperre und zückte mein Handy. He he, ich hatte Empfang. Eine gute Gelegenheit für ein bisschen Pokémon Go. Diese virtuellen Fabeltierchen hatte ich viel zu lange nicht mehr beachtet. Prompt tauchte ein wildes Aquana auf. Ich konnte mich nicht davon abhalten, darüber nachzudenken, ob es Pokémon eventuell auch in Wirklichkeit gab und Nintendo Kontakte zur japanischen Version der Creatura Fabularis haben mochte.

Ich schlich eine ganze Weile am Ufer entlang. Nichts tat sich. Alles war still. Die Dunkelheit hatte sich über die Talsperre gelegt und auch der letzte Vogel hatte seinen Gesang eingestellt. Es wurde immer kälter. Ich stellte fest, dass ich meine Freunde und diesen Elmar nicht mehr sehen konnte. Hoffentlich hatten sie mich nicht aus den Augen verloren.

Nachdem ich auch nach sieben gefangenen Pokémon noch kein lebendiges Fabeltier angelockt hatte, dachte ich an das, was Marlowe zu mir sagte, als wir im Schloss Henriette waren. Ich versuchte also, dem gerecht zu werden, steckte mein Handy weg, schloss die Augen und erinnerte mich an das Gefühl, welches der Rasselbock in mir ausgelöst hatte. Ich atmete tief ein und aus und stellte mir Nessie vor. Beziehungsweise einen Plesiosaurier, eine ausgestorbene Reptilienart mir einem langen Hals und vier Flossenfüßen. Die meisten Nessie-Beschreibungen entsprachen diesen Tieren.

Nachdem weiterhin nichts passiert war, versuchte ich es mit der zweiten Körperform, die dem Ungeheuer vom Loch Ness zugeschrieben wurde. Eine Seeschlange. In meinem Kopf sah diese Kreatur ziemlich beängstigend aus und ich musste nun eher an das üble Gefühl denken, welches der Tattoomann in mir ausgelöste.

»Leute, das bringt nichts!«, rief ich landeinwärts, wo ich meine Freunde vermutete. »Ich bin kein Pendel und kein Magnet. Wir müssen uns was anderes – hey!«

Ein lautes Plätschern und Tausende Wassertropfen unterbrachen mich unsanft.

»Ni-nicht bewegen!«, konnte ich Luke im selben Augenblick schreien hören.

Ich traute mich auch gar nicht, einen Blick über meine Schulter zu werfen, dennoch spürte ich, dass etwas Großes hinter mir stand. Ich konnte eine Art Schnauben hören, ähnlich wie bei einem Pferd. Gleichzeitig schien die Wasseroberfläche in ständiger Bewegung zu sein.

Luke dicht auf den Fersen waren Momo und Elmar Clausen. Der zauselige Professor war der einzige von ihnen, der ein freudenstrahlendes Gesicht machte.

»Halldä Gusche!«, verfiel er kurz ins Sächsische zurück. »Nicht bewegen, das muss ich genießen.«

»Elmar, hören Sie. Wir sind nicht in einem Zoo und wollen seltene Tiere begaffen. Wir müssen es betäuben und die CF benachrichtigen. Son Viech kriegen wir nicht ins Auto.« Luke zog diesen pistolenartigen Gegenstand, den auch Marlowe hatte, aus seinem Rucksack.

Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwie wünschte ich mir für einen Moment, dass der Boss hier wäre. Ich hatte aber mal wieder keine Zeit, mich in Gedanken zu verlieren, denn die Ereignisse überschlugen sich schneller, als ich bis drei zählen konnte.

»Lex, runter!«, rief Lukas mir zu und nahm die Haltung eines SEK-Beamten im Einsatz ein. Er richtete die Pistole auf das, was auch immer hinter mir war und kam behutsam näher.

Momo jubelte über die Funktionstüchtigkeit seiner Fabeltier-Aufspür-Software und Elmar begann nervös an seinen Fingernägeln zu knabbern.

Ich war nach wie vor völlig ahnungslos, was da überhaupt aus dem Wasser emporgestiegen war. Ich spürte jetzt einen warmen Atem an meinem Nacken. Es roch seltsam. Nach Fisch, nach Algen, nach Schlamm und ein wenig würzig. Ja, eventuell sogar ein bisschen nach Pferd.

Luke war bereits ganz nah und hielt die Pistole höher. Was auch immer hinter mir war, schien von enormer Größe zu sein.

»Was ist das?«, flüsterte ich, ohne mich zu regen.

»Pssst«, war alles, was ich noch hören konnte, bevor mich ein dumpfer und kräftiger Schlag gegen die rechte Körperseite traf, woraufhin ich das Übergewicht verlor und ins Wasser fiel.

Ich konnte mich nicht orientieren. Um mich herum sah ich Wasserwirbel, blubbernde Blasen und unzählige Wasserpflanzen wild tanzen. Ich hielt die Luft an. Strampelte mit Armen und Beinen und kam dennoch nicht von der Stelle. Irgendetwas zog mich immer wieder nach unten. Schließlich ging mir die Luft aus und reflexartig zog ich Wasser ein, welches furchtbar in den Lungen brannte. Ein Hustenreflex setzte ein, gefolgt von einer massiven Panikattacke. Um mich herum herrschte weiterhin feuchtfröhliches Chaos. Mir begann, schwarz vor den Augen zu werden, während immer mehr Wasser in meine Atemwege gelangte. Den sicheren Tod bereits vor Augen spürte ich einen weiteren heftigen Stoß. Diesmal kam dieser von unter mir und riss mich mit sich hoch an die Wasseroberfläche.

Auf dieser angekommen, hustete ich, heulte ich, zitterte ich. Ich konnte eine ganze Weile lang weder atmen, noch etwas sehen oder hören. Ich spürte jedoch, dass ich mich bewegte. Nicht aktiv, sondern auf dem Ding, das mich an die Luft zurückgebracht hatte. Ihr fühlte eine glatte, beinahe glitschige Oberfläche unter mir. Diese war aber nicht eben, sondern wies eine Struktur auf, die sich wie eine Schuppenschicht anfühlte.

Bevor ich wieder etwas sehen konnte, hörte ich aus der Ferne Momo und Elmar Clausen schreien. Zu meiner Verwunderung und Schrecken zugleich, riefen sie allerdings nicht meinen Namen, sondern nach Lukas.

Ich hustete ein weiteres Mal und atmete mehrmals schmerzhaft ein und aus. Das brannte wie die Hölle. Allmählich kehrte meine Sicht zurück. Doch alles, was ich erkennen konnte, war Wasser. Um mich herum wogen sich sanfte Wellen. Genau vor mir schwamm ein rotbraunes Pferd.

Warte, was!?

Wie zum Geier kam ein Pferd in die Rappbodetalsperre? Mein Herz hatte kaum Gelegenheit, sich ein wenig zu beruhigen, da raste es bereits wieder in meiner Brust, dass ich dachte, es fiele jeden Augenblick heraus.

Ich saß auf einem riesigen Fisch, wie die Prinzessin aus Das singende, klingende Bäumchen. Nur, dass mein Fischchen anstelle eines Fischmauls einen Pferdekopf besaß. Mein eigener Kopf war noch viel zu aufgewühlt, als dass ich diese Informationen vernünftig hätte verarbeiten können. Darüber hinaus drangen vom Ufer her weiterhin angsterfüllte Schreie und hektisches Platschen zu mir.

Es dauerte einen Moment, bis ich mich komplett orientiert hatte. Offenbar befand ich mich inmitten des Stausees der Talsperre. Zu meiner linken konnte ich am fernen Ufer Mohammad und den Professor ausmachen. Aber wo war Luke? Was war geschehen, während ich unter Wasser gewesen bin?

»Bring mich an Land«, sagte ich verhalten zu meinem außergewöhnlichen Reittier. Es reagierte nicht. »Bitte, wir wollen dir helfen. Niemand wird dir etwas antun. Wir bringen dich zurück nach Hause. Aber dazu musst du mich an Land tragen. Bitte, mein lieber ... Hippokamp!« Aus den hintersten Ecken meines verwirrten Hirns kam der Name dieses Fabelwesens emporgesprungen. Ein Hippokamp, das Reit- und Zugtier zahlreicher Meeresgottheiten der griechischen Mythologie.

Tatsächlich konnte ich wieder eine Präsenz spüren, je länger ich mich auf das Wesen einließ. Diese war ähnlich der des Rasselbocks. Gütig, aber dennoch wild und temperamentvoll. Wie ein Pferd eben.

Ich beugte mich zu seinem Kopf vor und streichelte die Mähne, welche die Farbe einer hellen Kastanie hatte. »Sei so lieb, mein guter Hippokamp. Bring mich zu meinen Freunden. Sie brauchen Hilfe und dann werden sie auch dir helfen. Versteh mich doch.«

Ich war verzweifelt. Zum einen wusste ich nicht, wie ich heil zurück ans Ufer kommen sollte, zum anderen wollte ich endlich wissen, was mit Luke passiert war.

Der Hippokamp schnaubte wieder und drehte seinen Kopf schließlich zu mir um. Ich tätschelte weiter seinen Hals und lächelte ihn an. Dann blieb er stehen. Ich hustete erneut. Das Brennen in meinen Bronchien und Lungen hatte noch immer nicht nachgelassen.

Das Fabeltier richtete seinen Blick jetzt zum Ufer und dann sah es mich erneut an.

»Bitte, bring mich zu ihnen. Sie sind gute Menschen«, schluchzte ich mit schwacher, kratziger Stimme. Dann schloss ich die Augen und dachte an meine Freunde. An die vielen schönen und lustigen Momente, die wir in den letzten Wochen miteinander geteilt hatten. Dabei streichelte ich den Hippokamp weiter.

Schließlich setzte sich das mythische Wesen wieder in Bewegung und schwamm Richtung Ufer. Dort angekommen, erwartete mich ein fürchterlicher Anblick. Luke lag regungslos in stabiler Seitenlage am Boden. Momo saß mit dicken Tränen in den Augen über ihn gebeugt und hielt seine Hand.

»Er wollte dich retten, als du ins Wasser gestürzt bist«, klärte Elmar Clausen mich auf. Obwohl er diesmal deutlich sprach, hatte ich das Gefühl, kein Wort von dem, was er sagte, verstehen zu können, verstehen zu wollen.

»Er kann nicht schwimmen«, ergänzte Momo schluchzend. »Die CF ist unterwegs. Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber er wacht nicht auf.«

Das durfte und konnte doch nicht wahr sein! Luke, unser großer, kräftiger Luke. Es war so surreal, ihn derart hilflos daliegen zu sehen. Ich betete und hoffte, dass die Leute von der CF schnell hier sein würden und ihm helfen konnten.

»Nu, Nessie ist das nicht«, sprach Elmar Clausen meinen Hippokamp an, während ich von dessen Rücken sprang und zu Lukas eilte. »Aber ein Fabeltier, immerhin. Und so ein Scheenes.«

Der Hippokamp schrak ein wenig vor Elmar zurück, blieb aber bei uns am Ufer.

»Ich habe ihm versprochen, dass wir ihn nach Hause bringen werden«, sagte ich.

»Das werdn wir, mein gutes Dierschn. Am besten gleich hier.« Elmar eilte zu Lukes großen Rucksack, den dieser weiter oben zurückgelassen hatte. Er holte die beiden kleinen Maschinen daraus hervor, die das Tor zur Parallelwelt öffnen konnten. »Es ist niemand sonst hier. Und das können wir auch ohne die CF

»Atmet er?«, fragte ich Momo, während Elmar das Hexengebräu einfüllte und die Maschinen dicht am Ufer platzierte.

»Ich glaube ja«, wimmerte er und schmiss seine Brille auf den Boden, durch die er vor lauter Tränen nichts mehr sehen konnte.

»Lex, das Tor ist gleich offen. Wärsdn so lieb, dn Hippokamp nach driebn zu bringen?« Elmar nickte mir aufmunternd zu.

Erneut sprach ich das Fabeltier mit ruhiger Stimme an. Es scheute, als sich immer mehr Blitze zwischen den Maschinen bildeten, und schwamm ein Stück zurück auf den See.

»Komm her, mein Hübscher. Gleich geht es nach Hause. Guck, da ist dein Heimatsee«, zeigte ich auf die Welt hinter dem Tor.

Interessanterweise konnte ich dort diesmal einen wunderschönen tiefblauen See erkennen und nicht die Wiese, auf die der Rasselbock gehüpft war. Jedem Tierchen sein Revierchen.

Der Hippokamp gab einen wiehernden Laut von sich und stieg einige Male aus dem Wasser. Dann jedoch schien er sein Zuhause zu erkennen und schwamm zögerlich auf das Portal zu.

»Schau mal! Da sind deine Freunde«, sprach ich ihm weiter Mut zu, nachdem ich auf der anderen Seite mehrere Hippokampen entdeckt hatte.

Auch unser neuer Freund sah diese und überwand endlich die letzte Schwelle zur Parallelwelt. Wir hörten es noch platschen, dann schlossen wir das Tor.

Im selben Augenblick traf uns das Licht eines Scheinwerfers. Ein Helikopter kreiste über der Talsperre.

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